Читать книгу Die Klippen von Bridwell - Anke Bütow - Страница 6

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Mit der Hand, in der er seinen Gin Tonic hielt, strich er Kate übers Haar. „Eines musst du mir versprechen, Darling.“

„Was soll ich dir denn versprechen?“

„Sieh mich nicht so erschrocken an! – Du sollst mir versprechen, dass du deine Bienenkorbfrisur nie änderst!“

„Und welche Strafe bekomme ich, wenn ich’s tu?“

„Siehst du, so paradox ist das Leben: Wenn du das tust, bin leider ich der Bestrafte.

Unschuldig Bestrafte verlieren ihren Charme. Und das wäre dann deine Strafe. Willst du das?“

„So ist das also bei dir? Ich kann deinen Charme steuern durch meine Haarlänge? Auch deinen Charme, den du in London versprühst? Das gefällt mir. Dann schneide ich doch ein wenig ab, jedenfalls den Teil für London.“

Ron umarmte Kate, und er stellte sein Glas ab und durchkämmte ihr krauses rötliches Haar so mit beiden Händen, dass es fast ein wenig wehtat. Aber sie lachte ihn trotzdem an.

Harry hielt eine Europakarte ausgebreitet auf dem Tisch, faltete sie sorgfältig zusammen und breitete eine größere, eine Weltkarte aus. Er strich sie glatt.

„Daddy, jetzt bist du schon eine halbe Stunde zu Hause und hast noch nichts verraten. Zeig es uns doch endlich! Ich meine, wohin wir fahren. Ich möchte so gern surfen!“

Ron trank sein Glas ziemlich schnell aus und sagte dann: „Ach, es ist schön, wieder hier zu sein. – Also, hört mal zu, ihr beiden. Es ist mir leider …“

„Daddy, sag jetzt nicht, dass wir nicht fahren. Das kannst du nicht bringen. Echt nicht!“

„Harry, hör erst mal zu. Du kannst mir glauben, dass mir das jetzt auch nicht leichtfällt.“ Er legte seine Hand auf Harrys Schulter, der sich aber herauswand.

„Ich verspreche euch: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Ich muss wegen eines Notfalls leider die nächste Woche in London bleiben. Aber dafür fahren wir in deinen nächsten Ferien ganz bestimmt. Und zwar in das beste Surfgebiet. Versprochen!“

Harry riss mit einer Handbewegung die Karten mit sich und lief ins Haus, die Treppe hinauf in sein Zimmer, und sofort war ohrenbetäubende Technomusik aus dem offenen Fenster zu hören.

Kate wollte ihm hinterherlaufen, aber Ron hielt sie zurück. „Er muss lernen, mit Frustrationen fertigzuwerden“, sagte er und mixte sich noch einen Gin Tonic.

„Er hatte sich doch so gefreut! – Und ich auch, Ron“, sagte Kate.

„Auch für mich ist es eine Enttäuschung, aber manchmal gehen Patienten eben vor. Du weißt, meine Schweigepflicht … Aber so viel darf ich sagen, dass es um eine Suizidgefährdung in einer Ehesache geht. Und da kann ich die junge Frau nicht alleinlassen.“

„Ja – bei mir ist das einfacher“, sagte sie und sah ihn an, „du sagst mir einfach, dass du wieder keine Zeit für uns hast und dass deine Patientin Vorrang hat. Denkst du als Psychotherapeut eigentlich auch einmal an dich oder daran, dass deine Frau vielleicht auch eine Seele hat?“

„Darling, du bist schließlich nicht suizidgefährdet“, lachte er und küsste sie auf die Stirn.

Sie wandte sich ab, damit er nicht sehen konnte, dass sein Lachen nicht ansteckend war. Wie ist das bei Therapeuten eigentlich?, dachte sie. Merken sie Verletzungen ihrer Mitmenschen nur bei ihren Patienten und nicht bei ihrer Familie? Nur wenn sie dafür bezahlt werden?

Eigentlich wäre sie jetzt gern aus ihrem Garten heraus und hinunter zu den Wellen gegangen.

Das Meer zu sehen und den Wellen mit den Augen zu folgen, wie sie kraftvoll auf den Sand zurollten und sich dann wieder ins Meer zurückzogen – das hätte sie beruhigt, wie immer.

Warum konnte sie mit allen Menschen, die zu ihr gehörten, offen sprechen, nur nicht mit ihrem Mann? Und sie liebte ihn doch!

Aber sie ging wenigstens an den Rand der Klippen, um den Tag noch einmal an sich vorüberziehen zu lassen und sich vielleicht ein wenig zu beruhigen.

An diesem Morgen hatte nämlich noch kein schwerer Orkan gewütet. Nur ein kleiner Sturm hatte sich irgendwie angekündigt, von dem Kate nicht wusste, ob er stärker werden oder abziehen würde.

Sie dachte an ihre erste Zeit mit Ron. Immer hatte er die Fensterläden des alten Cottage auf den Klippen geschlossen, sobald vor den Nachrichten eine Warnung durchgegeben wurde.

Wenn der Wind dann zu hören war, hatte er die Läden noch einmal überprüft. Dann hatte sie mit Ron in der Küche gesessen, gemütlich gegessen, und von Zeit zu Zeit hatte Ron nachgesehen, ob das Telefon in Ordnung war. Immer hatte er für eine alte Petroleumlampe auf dem Tisch gesorgt, falls das Licht ausgehen würde.

Und dann hatten sie zusammen auf ihrem geerbten Sofa gesessen, er hatte seinen Arm um sie gelegt und gesagt: „Mach dir keine Sorgen, das wird schon nicht so schlimm werden, das Haus ist aus Stein, und ich bin bei dir.“ Und sie hatten sich gegen den Sturm geliebt. „Der soll uns kennenlernen!“, hatte Ron gesagt. Aber das lag schon lange zurück.

Heute Morgen, als der Sturm sich in ihrem Innern angekündigt hatte, war der Himmel blau, die See ruhig, und sie war mit dem Gedanken an eine Woche Ferien mit Ron und Harry aufgewacht. Eine Woche mit den beiden Menschen, die ihr die liebsten waren. Endlich! Aber da war diese unerklärliche Spannung, deren Grund sie jetzt kannte.

Sie dachte zurück: Sie war pünktlich und heiter bei Harry gewesen. Das erschien ihr jetzt eine Ewigkeit her. – Die Jungen waren in ihrer Schuluniform aus dem offenen Portal von St. George gestürmt, hatten ihr weißes Hemd aus dem Bund gerissen, ihre Krawatten schräg herunterbaumeln lassen, ihre Manschettenknöpfe in die Hosentaschen gesteckt und waren mit den lang herunterhängenden Schuhbändern ihrer schwarzen Schuhe die Freitreppe hinuntergesprungen. Alle wollen sie Individualisten sein, hatte Kate gedacht, und sie hatte die Jungen gut verstanden.

Trotzdem hatte sie sich wieder zwingen müssen, ihre Angst zu ignorieren, ihre Angst, dass er vornüberfallen könnte, dass er sich den Kopf aufschlug, dass er andere Schüler mit ebenso hängenden Schuhbändern mitreißen könnte und alle ein Schädeltrauma erleiden würden und dass die Vision vom erfolgreichen Fortgang der Familie bei vielen wartenden Eltern dahin wäre.

Natürlich hätte sie gern am Fuß der Treppe gestanden und ihren vierzehnjährigen einzigen Sohn mit offenen Armen empfangen. Aber das ging natürlich nicht.

Dann hatte sie ihn endlich gesehen. Kate kannte die Spielregeln: keine Umarmung und keine Begrüßung. Sie hatte scheinbar beiläufig dagestanden und darauf gewartet, dass er ihren Blick unauffällig auffing und dass sie dann beide, sich langsam annähernd, zum Parkplatz gingen. Im Auto, Kates altem Landrover, durften dann die ersten sparsamen Worte gesprochen werden. Aber Harry stellte ohnehin immer das Autoradio von Klassik auf lauten Pop mit dröhnendem Beat um, und so konnte sich nie ein Gespräch entwickeln. Sie musste warten, bis er zu Hause seine Schuluniform – den schwarzen Anzug, das weiße Hemd und seine emblemverzierte Schulkrawatte – gegen Jeans und Sweatshirt getauscht und nach einem Gang zum Kühlschrank eine Stunde laut Musik gehört hatte – dann erst würde er immer in die Küche herunterkommen und für das ansprechbar sein, was sie ihm sagen wollte. Sie konnte wie immer zwischen einem akustischen Opfer und einer erzieherischen Niederlage frei wählen.

Aber Harry hatte die Musik doch für einen Moment leiser gestellt. Er fragte: „Ist Daddy schon da? Hat er schon gesagt, wohin wir fahren?“

„Nein, aber er kommt ja nachher. Dann sagt er es uns.“

Kate war ja selbst sehr gespannt gewesen. Ron kam ja nur an einigen Wochenenden; wenn er viel zu tun hatte, nur einmal im Monat, leider. Sie hatte sich so sehr auf ihn gefreut, auf sein Gesicht, und sie hatte sich vorgestellt, wie gespannt er auf ihre Freude wäre, wenn er heute das Urlaubsziel verriete.

Dann hatte sie mit Harry auf dem Bahnhof gewartet, und sie hatten überhaupt nicht daran gezweifelt, dass sie gleich erfahren würden, wohin sie zusammen fliegen. Sie hatte Ron die Überraschung gegönnt. Er plante sie ja gerade im Geheimen, um auch seine eigene Freude zu erhöhen!

Aber irgendwo war in Kate diese Ahnung gewesen. Jetzt musste sie den Sturm allein aushalten. Was sie so sehr wünschte, war, dass sich Ron wie früher mit ihr gegen Bedrohungen verbündete. Immer war Ron ihr stärker erschienen als ein Orkan, überlegener, denn er dachte nach, während ein Sturm draufloswütet.

Das war jetzt alles vorbei, und Kate ging in die Küche, um das Abendessen vorzubereiten. Sie deckte den Tisch für drei, es sollte trotz der Enttäuschung ein angenehmes Essen werden: Ploughman’s Salad mit erfrischenden Apfelscheiben – die sie nicht schälte, weil so das Rot der Äpfel sich so schön vom Grün des Salats abhob –, dann Steak and Kidney Pie ohne Kidneys (mag Harry nicht) und Bread and Butter Pudding, der immer nach zu Hause schmeckte: warm, sahnig, süß, weich und knusprig zugleich. Ron sollte wissen, dass er auf dem Lande ist und nicht in London. Und das waren die Gerichte, die er gern mochte und die ihn an seine Kindheit hier nahe bei Bridwell erinnerten.

Sie zögerte, als sie die silbernen Kerzenhalter vom Sideboard nahm und wie automatisch auf den Tisch stellen wollte. Sie hob sie zurück.

Als das Essen bereitstand, klopfte sie an Harrys Tür. Er konnte sie nicht hören, die Musik war noch immer viel zu laut. Kate wollte die Tür öffnen, aber sie war abgeschlossen. Sie rief – keine Reaktion.

Dann sagte sie Ron Bescheid, der auf der Terrasse rauchte. Bevor er sich an den Tisch setzte, versuchte auch er, Harry zu holen. Er rüttelte an der Tür und rief ihn laut im Befehlston. „Dann eben nicht“, sagte er und setzte sich zu Tisch. Er reichte erst Kate mit freundlicher Geste den Salat, dann die Schüssel mit Kartoffeln und Gemüse. Dann schnitt er stehend die Pastete und reichte sie seiner Frau.

Er sah sich um und stellte die silbernen Kerzenhalter auf den Tisch und entzündete die Kerzen.

„Harry kommt immer noch nicht? – Das machen wir ganz anders!“, sagte er und wählte eine Nummer auf seinem Handy. „Ich rufe ihn an.“ Aber es gab keine Antwort.

Sie aßen schweigend.

„Es schmeckt großartig – wie immer“, sagte er charmant, stand auf und küsste sie.

Sie konnte nicht reagieren.

Die Musik stoppte plötzlich, Harry kam herunter. Er ging nicht zum Esstisch, sondern an den Kühlschrank, und sie sah, dass er Kopfhörerstöpsel in den Ohren hatte. Trotzdem war die Musik, die er hörte, so laut, dass der Beat bis zu seinen Eltern dröhnte. Er nahm sich etwas aus dem Kühlschrank und verschwand wieder in seinem Zimmer, wo die Musik wieder sehr laut wurde.

Kate fühlte sich elend.

„Wenn er taub werden will – bitte“, sagte Ron.

Kate dachte, es musste Harry wie Verrat vorkommen, dass seine Mutter hier mit seinem Vater, der ihn gerade so enttäuscht hatte, bei Kerzenschein am Tisch saß und genüsslich aß. Sie legte ihr Besteck zur Seite.

Nach dem Essen zündete Ron sich eine Zigarette an und las die „Times“.

„Ron“, sagte sie, „du leitest in London doch Management-Trainingsprogramme zur Raucherentwöhnung. Ich dachte, du hättest es auch aufgegeben.“

„Liebe Kate, der Erfolg dieser Kurse bemisst sich doch nicht an dem, was ich selbst tue! Das ist irrelevant und privat. Der Erfolg des Trainings bemisst sich – das ist klar definiert – lediglich an dem Prozentsatz von Klienten, die nach meinem Kurs mit dem Rauchen aufhören wollen und können und das mindestens ein Jahr durchhalten. Und da habe ich gute Zahlen vorzuweisen. – Aber zu deiner Beruhigung: Ich rauche wirklich nicht viel, nur ab und zu. Mach dir keine Sorgen.“

Kate konnte Harry nicht mehr Gute Nacht sagen, seine Tür blieb verschlossen.

Als sie zu Bett gingen, war Ron sehr liebevoll, und sie klammerte sich wie eine Ertrinkende an ihn.

Am nächsten Morgen war Harry schon früh mit dem Fahrrad weggefahren. Kate wünschte sich, mit Ron den Klippenweg entlangzugehen oder bei Ebbe unten direkt am Wasser. Dort würde sie am besten mit ihm reden können. Sie nahm sich immer vor, einmal ohne Zeitdruck mit ihm über ihrer beider Lebenssituation zu reden, und nie ergab es sich. Sie wollte den Alltag mit ihm teilen, eine andere Vertrautheit aufbauen, die nicht nur auf wenigen Wochenenden basierte. Aber dann sagte sie sich, dass er ja ähnliche Partnerschaftskonflikte den ganzen Tag in London behandelte und sogar dafür bezahlt wurde. Da wollte er sicher zu Hause damit verschont werden. Auch jetzt blieb wieder keine Zeit, um einmal wirklich mit ihm zu reden und ihm ihre Gedanken zu sagen, und sie fuhr mit Ron schon mittags zum Bahnhof nach Axminster.

„Sprich mit Harry“, sagte er auf dem Bahnsteig. „Bleib mit ihm im Gespräch, das ist immer das Wichtigste. Er bekommt seine Reise, es geht eben nur jetzt nicht. Übrigens hat er mir noch nicht das letzte Zeugnis gezeigt. Er soll es mir in die Praxis faxen. – Lass es dir gut gehen, Darling. Bei dir auf dem Land ist es doch immer am schönsten. London ist hektisch und laut. Aber da ist nun mal meine Arbeit. In zwei Wochen komme ich wieder, denke ich. Macht euch beiden zu Hause eine schöne Zeit.“ Er küsste sie flüchtig zum Abschied.

Als der ankommende Zug schon von Weitem zu sehen war, zwang sich Kate, mutig zu sein: „Ron, Darling, sollten wir nicht vielleicht doch zu dir nach London ziehen, damit wir nicht immer getrennt sind?“

„Denkst du darüber wirklich ernsthaft nach? Lass uns darüber reden, wenn ich wiederkomme. Es wäre schon schön, aber du stellst dir das zu leicht vor. Ich glaube auch, London ist auf die Dauer kein Pflaster für dich. Wie es jetzt ist, geht es doch sehr gut. Aber besuch mich doch mal wieder in London – wirklich, komm doch einfach mal wieder –, und wir gehen zusammen aus! – Pass auf dich auf, Darling!“

„Ja, ich versuche zu kommen. Aber wenn ich schon am Anfang weiß, dass du nur zwei Tage – wenn ich Glück habe – Zeit für mich hast ... Und Harry braucht sein Wochenende zu Hause. Aber ich versuche es einzurichten. Dein Zug kommt!“

Die Klippen von Bridwell

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