Читать книгу Die Klippen von Bridwell - Anke Bütow - Страница 16

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Kate wachte früh auf, als die Helligkeit erst begann sich ins Zimmer zu tasten. Sie hatte gut geschlafen und fühlte sich wohl. Gestern Abend – ja, das Essen mit Edward – es war so unbeschwert …

Sie sah auf den Wecker: noch viel Zeit bis zum Frühstück mit Harry. Sie öffnete das Fenster weit und genoss die kühle Morgenluft. Sie sog die Luft tief und bewusst ein. Das Licht war fahlblau, der See lag noch unsichtbar im Nebel.

Kate zog sich Jeans und einen Pullover an und ging leise die Treppe hinunter und öffnete die schwere Haustür. Ein paar Vögel gaben Laut, sonst war es still. Sie ging um das dunkle Haus herum auf den Rasen.

Es zog sie über das nasse Gras zu den Schafen hinunter. Sie hörte bald ihr vielfaches dunkles „Mäh“ und die zarteren Stimmen der Lämmchen dazwischen. Als sie näher kam, war da eine Stimme, die ihr abzuweichen schien. Sie setzte sich auf die noch feuchte Stützmauer und ließ sich nach unten fallen. Die meisten Schafe fraßen ruhig vor sich hin, einige lagen noch so da, einige kleine und größere Lämmer waren dicht an ihre Mütter gekuschelt.

Ein Schaf lag abseits, von ihr abgewandt. Kate sah genauer hin. Es lag vorne auf den Knien und stemmte sich mit ausgestreckten Hinterbeinen gegen den Boden – das war ungewöhnlich. Sie ging hin. Dann sah sie ein winziges Lamm am Boden liegen. Es musste gerade geboren worden sein. Eigentlich sollte es sich sofort bewegen und aufstehen, aber es lag nur da. Es bewegte den Kopf hin und her, und das Schwänzchen zitterte. Ein paarmal versuchte es aufzustehen, aber es gelang ihm nicht. Warum kümmerte sich die Aue nicht um ihr Lämmchen?

Kate riss ein Büschel nasses Gras aus und fing an, das Lämmchen abzureiben. Kate dachte nicht nach. Sie handelte schnell, weil das Lämmchen aufstehen musste, um zu überleben. Die Aue blieb abgewandt liegen. Nein, jetzt stand sie auf, versuchte es. Konvulsivische Bewegungen gingen durch ihren Bauch. Das konnte Kate durch das dicke Vlies hindurch wahrnehmen. Das Tier legte sich wieder hin und streckte den Kopf senkrecht nach oben und stieß ein Blöken aus, wie Kate es noch nie gehört hatte.

Wie ein Blitz durchschoss Kate die Erinnerung an Harrys Geburt. Sie war allein gewesen, als die Wehen anfingen. Sie hatten sogar am vorausgesagten Tag gegen Morgen angefangen.

Aber sie war allein, und sie hatte eine unsagbare Angst um ihr Baby. Ron hatte noch wichtige Termine in London und konnte nicht bei ihr sein. Er hatte auch gemeint, dass das erste Kind immer ein paar Tage später kommen würde. Das war ja auch vernünftig. Trotzdem hatte Kate einfach Angst. Aber Emma war erreichbar und hatte sich um sie gekümmert und sie in die Klinik gefahren. Aber jetzt war sie hier. Sie rieb das Lämmchen weiter ab, bis es auf gestelzten Beinchen stehen blieb.

Kate spürte am schreienden Blöken der Aue, dass etwas nicht in Ordnung war. Das Lämmchen konnte Kate jetzt loslassen. Sie achtete genau auf den Bauch des Muttertiers. Jetzt stand die Aue wieder auf, wandte sich von Kate weg, und sie sah, dass ein zweites Lämmchen geboren werden wollte.

Ein winziger Huf war am Licht. Kate wusste aus Erfahrung, dass jetzt gehandelt werden musste, denn eigentlich sollen beide Vorderfüße gleichzeitig kommen und dann gleich das Köpfchen hinterher, aber das geschah nicht. Sollte sie Edward rufen oder im Haus nach einem Tierarzt telefonieren? Die Aue bäumte sich auf. Hilfe zu holen würde zu lange dauern. Kate zog ihren Pullover aus und warf ihn von sich ins Gras. So konnte sie besser zupacken. Sie fasste den kleinen Huf mit einer Hand an und führte ihre andere Hand am ungeborenen Bein entlang in den Bauch des Schafes. Sollte sie am herausstehenden Huf ziehen? Sie suchte mit den Fingerspitzen nach dem anderen Huf, konnte ihn nicht fühlen, alles war nass und schleimig. Sie zog ihre Hand zurück und überlegte, was der Grund für das Hemmnis sein konnte. Das Mutterschaf bewegte sich unruhig, und Kate versuchte, besänftigend mit ihm zu sprechen. Noch einmal hineingreifen und tasten, dachte sie. Es hilft nichts, es musste sein. Sie griff noch einmal behutsam mit ihrer blutigen Hand in den Bauch, und ihre Fingerspitzen tasteten sich fest am Beinchen entlang. Wo war der Kopf? Ihre Finger konnten ihn nicht finden. Er konnte nur hochgedehnt sein.

Aber was tut man jetzt? Sie versuchte jetzt, das Lämmchen vorsichtig und ganz langsam in den Bauch zurückzudrücken, bis sie das Köpfchen spüren würde. Sie stand breitbeinig hinter dem Schaf und war darauf gefasst, von dem Muttertier getreten zu werden. Sie wollte so sicher stehen, dass sie von den Tritten nicht umfallen würde. Plötzlich hörte sie ein Hecheln hinter sich. Fellow war da. Um Gottes willen, jetzt bloß kein Hund, er würde das Schaf völlig aus der Fassung bringen. Warum hatte Fellow nicht gebellt?

Jetzt spürte sie das nach oben gestreckte Köpfchen im Innern und drückte den kleinen Körper sanft zurück in den Bauch des Schafs, bis sie das Köpfchen nach unten bewegen konnte. Dann fühlte sie beide Hufe. Die Aue legte sich hin, und Kate musste dieser Bewegung folgen und kniete sich ins Gras. Mit der nächsten Konvulsion waren beide Hufe zu sehen, dann das Köpfchen, das sich heftig hin und her bewegte. Kate wischte eine Hand im nassen Gras sauber, öffnete das kleine Schnäuzchen und versuchte, den Atemweg mit zwei gebogenen Fingern freizustreichen. Jetzt stand die Aue unruhig wieder auf. Kate wollte sanft an den Hufen ziehen, aber da rutschte das Lämmchen schon mit einem Schwall warmen Fruchtwassers aufs Gras.

Es bewegte sich. Gott sei Dank! Kate nahm das Lämmchen und legte es vor die Aue, die sofort anfing, es abzulecken. Kate richtete sich auf und holte tief Luft. Das war geschafft!

Und wieder dachte sie an Harry, wie überglücklich sie war, als sie ihn endlich gesund im Arm gehalten hatte. Wie hatte sie in diesem Augenblick Ron dazugewünscht! – Und als ihr neugeborenes Söhnchen seine Augen aufgemacht hatte und sie mit einem unbeschreiblich tiefen Ernst ansah – das war ein heiliger Augenblick, den sie nie vergessen würde.

Kate sah, dass Fellow dabei war, das erstgeborene Lämmchen abzulecken. Das machte er kraftvoll und wirksam. Nach wenigen Augenblicken versuchte es sich zu erheben. Schließlich gelang es ihm, es stakste noch auf breitgestellten zarten Beinchen, knickte ein paarmal ein, dann ging es ein paar Schritte. Das Schwänzchen zitterte unentwegt.

Kate zögerte. Sollte sie mit ihrem Pullover das zweite Lämmchen massieren? Aber sie fürchtete, das Muttertier würde durch den fremden Geruch das Lämmchen vielleicht nicht mehr annehmen, und half nur mit Gras ein wenig nach. Sie wartete, bis das zarte zweite Lämmchen auf seinen wackeligen Beinchen stand, und als dann beide das Muttertier stupsten und trinken wollten, lachte Kate. Sie war vollkommen glücklich.

„Komm, Fellow, wir sind fertig.“ Die Sonne war aufgegangen und beleuchtete mit ihren flachen Strahlen jeden einzelnen tropfenbehangenen Grashalm. Sie klopfte Fellow liebevoll auf den Kopf: „Das haben wir beide gut gemacht.“

Als sie mit Fellow die Stufen zur großen Haustür hinaufging, kam ihr Edward entgegen. Sie lächelte ihn an, aber er starrte auf sie mit entsetztem Gesicht. Da wurde ihr bewusst, dass sie über der Jeans nur ein Hemd anhatte und dass ihre Hände und Arme blutverschmiert waren.

„Ich habe Fellow gesucht“, sagte Edward tonlos.

„Ja, tut mir leid, er war bei mir“, sagte Kate, „wir hatten zu tun.“

Auf der Treppe drehte sie sich noch einmal um: „Fellow, sag deinem Herrchen, dass ich in zehn Minuten eine gute Tasse Tee brauchen könnte. Oder auch zwei.“

„Wird gemacht – das allerbeste Frühstück!“, rief Edward nach oben.

Die Klippen von Bridwell

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