Читать книгу Die Klippen von Bridwell - Anke Bütow - Страница 5
ОглавлениеProlog
An sommerlichen Tagen kann das Meer blau und heiter sein. Die Sonnenstrahlen glänzen und glitzern über das Wasser hin und locken. Segel tanzen leicht und schwerelos. Delfine spielen an manchen Tagen umeinander, lachen Menschen an, keckern und sind wieder tief in den Fluten. Ist es warm, beglückt das Meer unendlich viele kleine Kinder, die Muscheln finden, den Sand beschaufeln, vor den schaumigen Zungen der Strandwellen weglaufen und den Wettlauf kreischend immer wieder gewinnen.
Laut sind die Nächte. Wenn man auf den Klippen lebt, kommt das Meer mit seinem Rauschen, seinem Sprühen und seiner salzigen Luft und dem Kreischen der Möwen ins Haus und mit dem Meer der Wind und der Sturm. Der Wind hat von Frankreich her freie Bahn, seine Kräfte zu vervielfachen und sie an den Fensterläden des grausteinernen Cottage zuerst auszutoben, dann an den klein gebliebenen krummen Bäumen und dann an den Scheiben des Gewächshauses, die er klirren lässt, einige aussucht und zerbricht. Und in der Nacht holt sich das Meer ein Stück Land, manchmal weniger, manchmal mehr, aber es holt sich das Land. Ob darauf ein Haus steht oder nicht. Was sind Jahrhunderte? Sie zählen nicht. Es holt sich auch Menschen. Das Meer ist kalt, dunkel und gleichgültig und schön.
Wenn die Sonne schien, saßen die Liebenden Kate und Ron vor dem Cottage und genossen die Idylle, die Ron freilich nur an Wochenenden ertrug und beileibe nicht an jedem. Kate hatte nur dieses eine Zuhause, und deshalb waren die Wochenenden für sie etwas weniger idyllisch als für Ron, aber trotzdem das Schönste in ihrem Leben. Ihm zu sagen, er möchte doch immer mit ihr leben, hieße, die Worte dem Wind zu schenken – das wusste sie. Und ihn liebte sie, ihren Jugendfreund und einzigen Mann, den es in ihrem Leben je gab. Wochenlang blieb er von London verschluckt, und dann war er wieder da, jedes Mal in den ersten Stunden ein wenig fremd. Harry war auch ihr Einziger, ihr Sohn, und sie musste es nach dem Wochenende übers Herz bringen, ihn selbst zu seiner Schule zurückzufahren, und dann war sie wieder lange allein am Meer. Und die vielen Nächte hindurch hörte sie auf den Wind und den Sturm.
In diesen Nächten wächst in ihr die Kraft, die Dunkelheit zu lesen, die Stille zu vernehmen, Zukünftiges zu sehen, Vergangenes als bedeutungsvoll zu erkennen. Und immer wieder ist der Wunsch mächtig, den Wind in ihrem Haar zu spüren. Wird sie die Kraft haben, ihren Sohn über dem dunklen Wasser zu halten und nicht untergehen zu lassen?
Und ihr Mann, den sie liebt, seit sie ein Mädchen war … ? Beschützt er ihr Leben – hier im Haus auf den Klippen, dem das Meer nach jedem Sturm ein wenig näher kommt? Oder muss sie weg vom Meer, muss sie es schaffen, sich auch vor ihrem Mann zu retten? Sie weiß es nicht. Aber es gibt Spuren, die sie in die Vergangenheit führen und deren Sinn sie noch nicht kennt …