Читать книгу Die Klippen von Bridwell - Anke Bütow - Страница 13
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Am Vormittag war das Licht nach dem Regen der Nacht klar und leuchtend, und Kate wünschte sich nichts mehr, als draußen zu sein. Auf der gegenüberliegenden Seite des Sees hingen die Wolken noch tief und gaben den Hängen eine flächige, diffuse Silhouette.
Das Gras unter ihren Füßen war frisch und grün. Kate zog ihre Schuhe aus und genoss die nasse Kühle unter ihren Füßen. Weich war der Rasen und gab nach. Sie sah hinter sich. Wie lange würden sich ihre Spuren halten? Wann würde sich das Gras wieder aufrichten? Jeden Schritt genoss sie, und ihre Füße wurden warm. Sie fing an zu laufen. Am liebsten würde sie bis an den See hinunterspringen. Und singen!
Kate sah sich um. Das sonnenbeschienene Haus machte von hier aus einen fast heiteren Eindruck. Es ist so schön, dachte sie. Wo sind die vielen Kinder, die in ein solches Haus gehören? Auf diesem Rasen muss Croquet gespielt werden, an Sommerabenden sollte man hier picknicken. Welche Geschichte hat dieses Haus? Wer hat es sich einmal gebaut? Welche Kinder wurden hier geboren? Welche Zukunft hat es?
Sie musste an Cliff Cottage denken, an ihr Zuhause. Sie wohnte dort von Anfang an mit Ron, und es war wunderbar. Die Türen waren zwar niedrig – wie oft hatte sich Ron schon den Kopf gestoßen, vor allem, wenn er längere Zeit nicht zu Hause gewesen war!
War es ihr Zuhause? Es gehörte Rons Eltern. Irgendwann würden sie es Ron schon überschreiben. Aber das war nicht so wichtig. Sie lächelte, als sie sich das Anschlagen der Wellen vorstellte. Es gehörte fast zum Einschlafen dazu. Aber bei ruhiger See war im Cottage nichts zu hören. Wenn es gestürmt hatte, lief Kate jedes Mal auf die Klippen, um sich zu vergewissern, dass kein Stück abgebrochen war. Das war leicht zu erkennen, denn es gab das Geländer aus Ästen, die so krumm waren, wie sie eben gewachsen waren. Und in Meeresnähe sah man Bäumen immer an, dass sie heftigen Winden ausgesetzt waren, sie wuchsen nie so hoch wie im Landesinneren. John hatte das Geländer angebracht, als Harry anfing zu laufen.
Und er hatte es so gebaut, dass Harry nicht zwischen die Streben passte und hinunterfallen konnte. Wie schön war es damals, als Harry immer bei ihr war!
John hatte das Geländer schon zweimal zurückversetzen müssen, weil Gesteinsbrocken vom Klippenrand auf den schmalen Strand gefallen waren – aber das war eben die Natur, die gab und nahm. Am Klippenrand überwog das Nehmen. Es konnte aber noch hundert Jahre dauern, bis das Cottage wirklich in Gefahr war. Sie hatte jedenfalls keine Angst.
Das Blöken der Schafe wurde lauter; unterhalb der hohen Stützmauer fing ihr grünes Gehege an. Hier wurde nicht gemäht, und das Gelände war holperig und an einigen Stellen steinig. So muss der Rasen früher auch gewesen sein, bevor er gepflegt angelegt wurde. So viel Arbeit! Sie setzte sich auf die Stützmauer, ließ ihre Füße wippend im wärmenden Sonnenlicht trocknen, pflückte das nasse Gras von ihren Zehen und zog ihre Schuhe wieder an. Ein kleiner Käfer lief auf ihrem Handrücken, und sie streifte ihn sanft an einem Grashalm ab und sah zu, wie er weiterlief. Die weißen Schafe mit ihren schwarzen Gesichtern fraßen, käuten wieder, die Lämmer stupsten ihre Mütter, die aber gleichgültig weiterfraßen. Bei einigen waren die Schwänze schon abgebunden worden – es musste wohl sein. Das Vlies war dick und filzig. Was wohl mit der Wolle geschah?
Kate erhob sich. Die Wolken am gegenüberliegenden Seeufer hatten sich verzogen, und die Umrisse der Hänge waren jetzt klar. Ihr Grün war gesprenkelt mit den größeren und kleineren weißen und einigen schwarzen Schafen. Sie genoss es, einfach so zu gehen, ohne Zeitdruck und ohne zu wissen, wohin der Weg durch den Wald sie führen würde.
Sie dachte an ein Gedicht, das Harry vor einigen Jahren für sie abgeschrieben hatte. Der Zettel war schon ein wenig ramponiert, aber sie würde ihn nicht wegwerfen, nein, sie würde ihn einrahmen. Er hatte Blümchen darauf gezeichnet.
Ihr fielen einzelne Zeilen ein, aber nicht das ganze Gedicht. Sie wusste, es war von Robert Browning, vielleicht würde sie oben in ihrem Zimmer einen Gedichtband finden. Sie erinnerte sich daran, dass von Tautropfen die Rede war, und jetzt sah sie sie. Die vereinzelten jungen Buchen mit den sich gerade erst entfaltenden Blättern waren nass und tropften, obwohl die Sonne jetzt schien. Sie zog einen Zweig zu sich herunter und ließ kleine Wasserkugeln von einem Blatt auf ihre Hand rollen. An den Spitzen der zartgrünen Blätter hingen Tausende glitzernder Tropfen. Sie brachte den Zweig wieder sachte in seine vorige Anordnung, bis er wieder im Gleichgewicht war. Die schönen Tropfen sollten nicht herunterfallen.
Kate hob den Kopf, und was sie sah, war ein … ein Blau, wie es schöner nie sein konnte. Der Waldboden breitete einen leuchtend blauen Teppich aus, und sie lächelte vor Freude. Auch der Weg war reich bedeckt mit den dicht wachsenden Glockenblumen. Wieder zog sie ihre Schuhe aus, um nur keine Blüte dieser Zauberwelt niederzutreten. Jede einzelne Blüte war eine Schönheit: die vollendete Glockenform, die zarte und doch in der Fülle kräftige Farbe.
Die kleinen Stiele waren rund nach unten gebogen, weil die Wassertropfen in den zarten Glöckchen sie schwer machten.
Dann sah sie den Stein. Er war aus grauem Granit, aufrecht, so groß wie sie selbst und zu symmetrisch geformt, als dass er nur von der Natur geschaffen sein konnte. Kate sah ihn sich an. Ein Buchstabe, J, war eingemeißelt und darunter eine Zahl: 116. Sie spürte den Einkerbungen mit den Fingerkuppen nach. Welche Bedeutung hatte diese Zahl – und der Stein? Wen konnte sie fragen? Vielleicht war es auch besser, nicht daran zu rühren, vielleicht war die Botschaft des Steins nicht für jeden.