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Achtes Kapitel

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Die Schlagzeilen auf der Titelseite der Lokalzeitung verkünden es: »Eine Schlammlawine droht die Region um den Ruapehu unter sich zu begraben.« Beim Frühstück liest Frances den Artikel. Es ist zwar noch kühl, aber die Morgensonne wärmt vom Westen her die Cafezeile, die das Ufer säumt. Während sie an einem der Tische im Freien sitzt, nippt sie an ihrem schaumigen Cappuccino, knabbert an einem Toast mit Früchten, als müsste sie sich für die neuesten Ereignisse in der Debatte um den Berg wappnen.

Anhand von Zitaten aus Theos neuestem Bericht beschreibt die Zeitung die Gefahr, schildert die Instabilität des Tephradamms und die hohe Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem gigantischen Lahar kommt, sollte er einstürzen. Theo wirbt für das neue Frühwarnsystem und andere Erfassungs- und Messmethoden.

Als Frances ihren eigenen Namen auf der Seite entdeckt, verschluckt sie sich beinahe: »Eine der weltweit bedeutendsten Koryphäen auf diesem Gebiet, Frances Nelson aus Seattle, wird in Kürze zum Team in Taupo stoßen. Ms Nelson hat reichlich Erfahrung mit der Technologie des Frühwarnsystems am Mount St. Helens im Staat Washington und am Pinatubo auf den Philippinen gesammelt.«

Als sie weiterliest, wird ihr klar, dass Theo mit seinen Empfehlungen seitens der Regierung und der nationalen Parkbehörden Rückendeckung genießt – aber von sonst niemandem. Ein prominenter Oppositionspolitiker, Ian Carmody, beschuldigt die Regierung, sich in »politischer Korrektheit« zu ergehen und sich den Interessen der Maoris zu beugen, statt die Verantwortung für die Bewohner des Landes zu übernehmen. »Der Mount Ruapehu ist für sie von spiritueller Bedeutung, das respektiere ich, aber die Sicherheit der Bevölkerung und der Häuser der Menschen sind vorrangig, und deshalb ist es so wichtig, dass wir uns über die gegnerischen Stimmen hinwegsetzen und mit den Erdarbeiten am Kratersee beginnen.«

Ein Sprecher der örtlichen Maori, Tori Maddison, wendet sich gegen jegliche Vorschläge hinsichtlich irgendwelcher Bauarbeiten am Kratersee. »Der Berg ist für uns ebenso heilig wie für euch eine Kathedrale. Wir werden uns gegen jeden wehren, der unseren Glauben verletzen will.«

Die Bürgermeisterin eines Ortes meint, sie und der Gemeinderat würden versuchen, die Regierung dazu zu bewegen, dass sie endlich erlaubt, den Krater zu sprengen oder zu untertunneln. »Unserer Überzeugung nach ist die Sicherheit unserer Wähler wichtiger, als auf kulturelle Befindlichkeiten Rücksicht zu nehmen. Wir sind zuversichtlich, die Zweifler auf unsere Seite ziehen zu können.«

Als Frances die Tür zum Büro öffnet, spürt sie sofort, dass Theo aufgebracht ist. Die Zeitung ist über seinen Schreibtisch gebreitet, und er unterhält sich erregt am Telefon. Seine Augenbrauen sind zusammengezogen. Während er sich bemüht, seine Stimme im Zaum zu halten, bedeutet er ihr hereinzukommen, und weist auf einen leeren Schreibtisch.

Sam Hawks sitzt bereits an seinem Platz, einen Fuß lässig auf die Kante gestützt. Als sie auf ihn zugeht, nickt er ihr kurz zu.

»Ich bin von der hiesigen Zeitung auf den neuesten Stand gebracht worden. Scheint, als stünden wir im Zentrum des öffentlichen Interesses?«, sagt sie.

Sam macht eine Handbewegung. »Aber daran sind Sie bestimmt gewöhnt. Sie haben es ja schon in die Zeitung geschafft. Sieht so aus, als würden Sie großen Eindruck machen.«

Frances spürt, wie sie rot wird. »Oh, aber ich habe nichts dazu beigetragen. Im Gegenteil, ich finde es eher peinlich.«

Sie ist froh, dass sie von Theo unterbrochen wird, der zielstrebig mit einer großen Schachtel zu ihr kommt.

»Die Wölfe heulen! Und Sie sind schon mitten im Gefecht. Hoffentlich werden Sie es nicht bereuen, hergekommen zu sein. Hier ist Ihre Ausrüstung. Darunter ist auch ein Handy. Ohne diese Dinger kommen wir nicht mehr aus. Aber wir sind freilich angehalten, Privatgespräche auf ein Minimum zu reduzieren«, sagt er und lächelt ihr zu. »Sam wird mit Ihnen die Daten durchgehen, die wir gestern gesammelt haben, und das Dossier, in dem die Handlungsoptionen in Bezug auf den Krater erläutert werden. Ich muss einen weiteren Bericht für die Regierung vorbereiten, der mich ein, zwei Tage kosten wird, außerdem kann ich mich vor Anrufen von Journalisten nicht mehr retten. Wenn das keine Panikstimmung ist! Lassen Sie uns später am Tag nochmals miteinander reden.«

»Gut, dann gehe ich mit Ihnen das Material durch«, sagt Sam.

Plötzlich hebt Theo nochmals den Kopf von seinem Schreibtisch. »Ach, Frances, die Lokalzeitung will ein Interview mit Ihnen machen. Okay?«

Frances bemerkt einen Anflug von Feindseligkeit in Sams Augen. »Sicher, Theo«, sagt sie gleichmütig, »aber vertrösten Sie sie noch ein wenig. Ich bin noch nicht ganz so weit.«

»Sie werden berühmt sein, ehe Sie es sich versehen«, sagt Sam mit spöttischem Ton.

»Lassen wir das doch, Sam. Sie sehen schließlich, dass ich nichts dafür kann. Beginnen wir also mit dem Briefing?«, sagt sie leichthin.

Für den Rest des Tages weist Sam sie in die Ergebnisse der Messungen und Proben ein, die sie entnommen haben, und macht sie mit dem Computersystem vertraut, das die Signale vom Berg empfängt.

Trotz seiner Sticheleien weiß Frances, dass Sam sein Revier bestens kennt.

»Der Wasserstand im Krater schwankt schon das ganze Jahr über, und wir haben versucht herauszufinden, ob irgendwo Wasser entweicht. Im Moment steht es besonders hoch, und deshalb machen wir uns Sorgen, ob sich nicht wieder ein großer Lahar anbahnt, wie damals 1953. Haben Sie von Tangiwai gehört?«

Die Frage ist früher gekommen, als Frances befürchtet hat, und sie spürt, wie es ihr einen Stich versetzt. »Ja, ich habe von dem Zugunglück gehört.« Sie ist froh, dass Sam offensichtlich das Beben in ihrer Stimme entgangen ist.

»Das Unglück mag sich zwar vor langer Zeit ereignet haben«, fährt er fort, »aber in den Köpfen der Menschen ist es noch immer gegenwärtig. Ich bin überzeugt, wenn wir nicht rechtzeitig etwas unternehmen, wird der Damm brechen und wir werden es mit einem weitaus mächtigeren Lahar als dem von Tangiwai zu tun bekommen. Vielleicht einem doppelt so großen. Sie sollten sich am besten darauf konzentrieren.« Er reicht ihr ein umfangreiches Dossier. »Wenn Sie das gelesen haben, sind Sie auf dem Laufenden über das, was wir hier im letzten Jahr getan haben.«

Frances blättert kurz durch den Bericht, dann lehnt sie sich zurück, um ihn detailliert zu lesen. Zunächst werden die Schwankungen beschrieben, die innerhalb des Kratersees gemessen wurden, dann die Risiken, die sie nach sich ziehen, und mögliche Lösungen. Ganz am Ende ist von dem Vorschlag die Rede, das Militär zu Hilfe zu rufen, das dreißig hochpräzise, lasergesteuerte Bomben abwerfen soll, um den Tephradamm zu sprengen. Einem anderen Vorschlag entsprechend sollen Planierraupen einen riesigen Graben in den Damm reißen. Weitere Optionen wären, das Wasser abzupumpen, abzuschöpfen oder mittels einer Schleuse abzulassen oder ein Zementwehr vor dem Damm zu errichten, wie an einem ähnlich aktiven Krater in Ostjava geschehen.

Jeder ist zu Wort gekommen. Frances lächelt, als sie die Ansichten der Bezirksräte, Bürgermeister und einiger örtlicher Liftbetreiber liest, die für ein Höchstmaß an Interventionen sind, um »die Gefahr eines Lahars ein für alle Mal auszuschließen«. Wenn es so einfach wäre, denkt sie.

Sie blättert weiter bis zu dem Abschnitt, der den Standpunkt der Maori darlegt. Schon vor ihrer Ankunft wusste sie um die Gewichtung ihrer Stimme, aber erst jetzt begreift sie, wie viel Einfluss die Volksgruppe ausübt. »Wir müssen das Mana des Berges ehren.« Frances zeichnet mit der Fingerspitze die Worte nach. Das Mana. Die Kraft. Sie spürt, dass das Wort zu einem vertrauten Mantra für sie werden wird.

Ein Eisenbahnlogo zieht ihre Aufmerksamkeit auf sich. Es prangt auf einem Ausschreibungsangebot des Eisenbahnbetreibers. »Keine weiteren Maßnahmen sind nötig«, heißt es, und Frances wird klar, dass die Firma nicht bereit ist, irgendwelche Mittel zur Verfügung zu stellen. Weiter wird behauptet, dass die Gesellschaft bereits genug getan habe, indem sie eine Lahar-Messstelle etwas oberhalb von der Tangiwai-Brücke installiert hat, die von den Bahnbediensteten überwacht wird. Frances macht sich im Geiste eine Notiz, das System demnächst zu überprüfen, wie auch, ob das Personal ausreichend qualifiziert ist, um die Informationen richtig zu deuten.

Auch auf die Bedrohung des Taupo-Sees geht der Bericht ein. Ein riesiger Lahar könnte sich an verschiedenen Stellen des Bergs abwärts ergießen. Er könnte nicht nur in den Whangaehu-Fluss fließen, sondern auch in den Tongariro und auf diesem Weg in den See. Dadurch würde nicht nur das Leben von Anglern, Wanderern, Farmern und jedermann, der sich in der Gegend aufhält, gefährdet, sondern die Welle vulkanischen Wassers würde obendrein den Lebensraum der Fische und der unter Naturschutz stehenden Vögel zerstören. Die kostbaren Forellenkolonien könnten für mindestens ein Jahrhundert verschwinden. Frances sieht wieder das Bild der in Reih und Glied stehenden Angler vor sich.

Dann liest sie Theos Vorschlag, einen Damm zu bauen, der den in alle Richtungen wirbelnden Lahar auf seinen Hauptpfad begrenzen, ihn in das ursprüngliche Flussbett dirigieren soll, um zu verhindern, dass der Taupo-See verseucht wird. Doch die örtlichen Maori sind gegen jeden noch so kleinen Eingriff in die Natur.

Als Nächstes wird ein umfangreicher Maßnahmenkatalog beschrieben, auch wenn Frances glaubt, dass es sich eher um ein Ablenkungsmanöver handelt als um einen ernst gemeinten Vorschlag: die Errichtung eines ausgefeilten Systems aus Pfeilerdämmen an verschiedenen Stellen der gefährdeten Flüsse, in die ein Lahar sich möglicherweise ergießen könnte, um ihren Lauf zu verlangsamen.

Frances richtet ihr Augenmerk auf die Option, die ihr am sinnvollsten erscheint und die auch Theo befürwortet: das akustische Frühwarnsystem, das installieren zu helfen sie gekommen ist. Im Unterschied zu dem bestehenden System, das im Nachhinein die Auswirkungen einer Eruption oder eines Erdbebens erkennen kann, ist das neue in der Lage, während einer Eruption im Krater des Vulkans Schallwellen zu erfassen. Dadurch bleibt ein gewisses Zeitfenster, um die Menschen zu evakuieren – nur Minuten zwar, aber die reichen, um Menschenleben zu retten.

Sie legt den Bericht auf den Schreibtisch und geht zu Sam hinüber, der die neuen Daten in den Computer einlädt.

»Und wo stehen Sie, Sam?«

»Nun, ich mache mich hier nicht gerade beliebt, wenn ich es sage, aber ich halte den Standpunkt der Maoris für zu extrem und primitiv.« Er dreht sich auf seinem Schreibtischstuhl zu ihr und legt die Hände in den Nacken. »Wir befinden uns im 21. Jahrhundert, um Himmels willen, und dieses ganze Gerede um die Götter im Vulkan ist eine ziemliche Zumutung, finden Sie nicht auch? Ich würde sagen, wir sind angehalten, alles Mögliche zu tun, um Menschenleben zu retten, und wenn wir dabei einigen Leuten auf die Zehen treten, dann können wir das auch nicht ändern.«

Frances, die glaubt, dass noch etwas anderes dahinterstecken könnte, will vermeiden, sich von Sam in die Ecke treiben zu lassen. »Es ist noch zu früh für mich, mir eine konkrete Meinung zu bilden«, sagt sie ausweichend. »Aber in einem stimme ich Ihnen zu: Sie müssen alles versuchen, um Menschenleben zu retten.«

»Gut, ich freue mich, dass wir in diesem Punkt einer Meinung sind«, sagt Sam, ein bisschen zu schnell, wie Frances findet. »Wenigstens gibt es jetzt noch jemanden hier, der ein wenig gesunden Menschenverstand mitbringt. Ich geh jetzt in die Mittagspause, bis später dann.«

Nach dreißig Sekunden streckt er nochmals den Kopf durch die Bürotür. »Wenn Sie wollen, können Sie mit mir mitkommen«, sagt er. »Ich kenne das beste Café, und wenn Sie in meiner Begleitung sind, werden Sie besonders gut bedient.«

»Tut mir leid, aber ich habe eine Verabredung mit einer Immobilienmaklerin.« Überrascht von seinem unerwarteten Charme, lächelt sie ihm zu. »Ein andermal gern. Danke, Sam.«

Als sie über die Straße zu dem Maklerbüro geht, atmet Frances tief die frische Brise vom See her ein. Sie freut sich darauf, ihr zukünftiges Heim einzurichten. Sie betritt das Büro, und Tammy Curtis, eine untersetzte, blonde Frau in einem kirschroten Blazer und einem schwarzen Rock, kommt auf sie zu und schüttelt ihr die Hand. Sie dirigiert sie durch den Hintereingang hinaus und bedeutet ihr, auf dem Beifahrersitz eines neuen BMWs Platz zu nehmen.

Für Frances’ Geschmack fährt sie ein wenig zu schnell aus der Ausfahrt hinaus, ehe sie den Wagen forsch in den Verkehr einfädelt. Als sie in eine Nebenstraße abbiegen, sieht sie Sam am Fenster eines Cafés sitzen; er unterhält sich mit einem auffallend großen Mann mit grauem Haar und einem ausgeprägten Doppelkinn. Ehe sie mehr erkennen kann, beschleunigt Tammy, und sie verlassen eilig den Innenstadtbereich, um einer der großzügiger angelegten Vorortstraßen zu folgen, die gesäumt sind von Holz- oder Ziegelsteinhäusern mit Garten.

»In Taupo gibt es zu dieser Jahreszeit jede Menge leer stehender Immobilien«, sagt Tammy.

»Ich würde eine Wohnung bevorzugen«, erklärt Frances. »Schließlich bin ich allein und werde wohl nicht allzu viel Zeit zu Hause verbringen.«

»Gute Wohnungen haben eher Seltenheitswert«, sagt die Maklerin und schiebt die Sonnenbrille auf die Stirn, ehe sie im Rückspiegel ihr Make-up überprüft. Die Linien ihres Lippenkonturenstifts sind etwas zu üppig geraten, während das Lipgloss verschwunden ist. Sie schürzt schnell die Lippen und zieht sie großzügig mit einem leuchtend roten Lippenstift nach. Dann sagt sie: »Aber da es Nachsaison ist, habe ich Ihre Traumwohnung, glaube ich, schon für Sie gefunden, Schätzchen.«

Sie biegen in eine Straße, die sich nur eine Reihe hinter dem See befindet, und halten vor einem kleinen Wohnkomplex mit hübschen Reihenhäusern aus weißen Ziegelsteinen. »Die Wohnung ist komplett möbliert, und Sie können sie für sechs Monate mieten.«

Das klingt fast zu einfach, denkt Frances, während sie sich die Wohnung anschaut, die möglicherweise ihr neues Zuhause werden wird. »Sie brauchen nicht weiter zu suchen«, sagt sie zu Tammy, die ständig von ihrem läutenden Handy abgelenkt ist und jeden »Schätzchen« zu nennen scheint. »Es gefällt mir. Ich werde heute nach der Arbeit einziehen.«

Theo kehrt erst später am Nachmittag zurück. Erschöpft lässt er sich auf seinen Bürostuhl fallen.

»Ich habe das Gefühl, uns stehen raue Zeiten bevor, nachdem das Ganze eine politische Dimension angenommen hat. Vor allem aber sollten wir die Entwicklung da oben im Auge behalten. In den nächsten Tagen können wir nicht über den Hubschrauber verfügen. Sie haben im Moment nur einen – der zweite ist in der Inspektion, und der dritte wird für irgendeine Rettungsübung gebraucht. Aber ich dachte, Ihnen kommt eine ausgiebige Wanderung gelegen, nach all dem Herumsitzen in Flugzeugen, Frances, und mir schadet frische Luft ebenso wenig. Wenn es Ihnen recht ist, gehen wir übermorgen auf den Berg.«

Während Frances zum Motel zurückfährt, um ihre Tasche zu packen, schaltet sie den lokalen Radiosender ein. Tief in Gedanken versunken, summt sie die Melodie des Songs mit, der gerade gespielt wird. Bisher schien ihr der Berg Herausforderung genug zu sein, doch nun ahnt sie, dass der Chor der unterschiedlichen Stimmen derer, die sich in seiner Gefahrenzone befinden, zu einem weiteren Prüfstein für sie werden wird.

Die Insel der Feuerberge

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