Читать книгу Die Insel der Feuerberge - Anne Maria Nicholson - Страница 7

Ein Fahrgast

Оглавление

»Ich erwachte kurz vor dem Ertrinken. Wirbelndes, schwarzes, eiskaltes Wasser umgab mich, füllte meine Lungen und meinen Geist. In der flüssigen Dunkelheit spürte ich, wie jemand an meinen Haaren zog, brutal an meinen langen Strähnen riss und mich ins Leben zurückbeförderte.

Plötzlich wurde mir klar, dass ich mich noch immer im Zug befand, und strampelte von meinem Sitz weg. Schon immer war ich eine gute Schwimmerin und Taucherin und hatte instinktiv den Atem angehalten, als das Wasser in den Zug geschwappt war. Ich versuchte die Augen zu öffnen, mich im Waggon zu orientieren, David auszumachen. Doch ich konnte nichts sehen, und das Wasser schmerzte in meinen Augen. Panik erfasste mich, während ich im Wasser trieb und nach meinem Liebsten suchte. Aber der Sog war so stark, dass ich mich schließlich meinem unsichtbaren Retter überließ, der mich aus dem Waggon, dem Wassergrab wegzog, indem er unerbittlich meine Hand gepackt hielt. Irgendwie fanden wir ein geöffnetes Waggonfenster und schlüpften hintereinander hindurch, ehe wir zusammen im wirbelnden Wasser emportauchten.

Als wir die Oberfläche durchstießen, rangen wir verzweifelt nach Atem, keuchten und würgten die widerlich süßlichen Schwefeldünste und ölige Brühe hervor. Das Wasser trieb uns voneinander weg, doch im Mondlicht erblickte ich ihre Augen, erkannte ihren verzweifelten Ausdruck, ehe sie in einem Meer winziger Wellen meinem Blick entschwand. Der Fluss war voller Zweige, Eisenbahntrümmer, Gepäckstücke, und unversehens spürte ich, wie mich etwas anstupste, vielleicht ein Körper.

Während ich auf das Ufer zuschwamm, hörte ich über das Tosen der Fluten hinweg Schreie, darunter womöglich auch meine eigenen. Immer wieder schluckte ich brackiges, kaltes Wasser. Nach festem Grund tastend, stieß ich mit den Zehen an scharfe Felsen. Ich bemühte mich, mit den Füßen Halt zu finden, als mir bewusst wurde, dass ich Schuhe und Jacke verloren hatte. Ich trug das neue Kleid, das ich einen Tag zuvor, an meinem Geburtstag, eigens für die Ferien fertig genäht hatte. Der Saum hatte sich mit Flusssand gefüllt, sodass er mich wie ein schwerer Reif umgab, der mich in die Tiefe zu ziehen drohte. Immer wieder glitt ich aus, während ich würgend auf das riesige Ding zukletterte, das am Ufer des Flusses hervorragte.

Als sich meine Augen an das Licht gewöhnt hatten, erkannte ich, dass es sich um die zerschmetterte und verbogene Dampflok handelte, die unsere Waggons gezogen hatte. Noch immer stieg Dampf aus dem Wrack, in dem das glühend rote Feuer, das zuvor die Dampfmaschine angetrieben hatte, von den Fluten überschwemmt worden war. Ich hörte einen Schrei. Hinter mir sah ich, wie die Frau, die mich gerettet hatte, mit den Fluten kämpfte. Ich streckte die Hand aus und half ihr ans Ufer, wo sie hustend und keuchend über mir zusammenbrach. Zum ersten Mal sah ich ihr Gesicht; sie musste ungefähr in meinem Alter sein.

»Meine Schwester, ich dachte, Sie wären meine Schwester. Sie ist noch immer im Zug.«

Sie hatte mich mit ihrer Schwester verwechselt, die lange blonde Haare hatte wie ich. Zu wissen, dass ich irrtümlich gerettet worden war, bereitete mir Unbehagen, ich kam mir vor wie eine Heuchlerin.

»Kommen Sie mit mir, Sie können nichts mehr tun.« Nun schlüpfte ich in die Rolle der Retterin, die sie davon abhielt, in den eisigen Strom zurückzukehren. Ich dachte an meinen Verlobten und betete, dass David ebenfalls aus dem Zug entkommen war. Ich packte sie an der Hand und zog sie unter Aufbietung all meiner Kraft in Richtung der Dampflok. Bei dem Wrack angekommen, klammerten wir beide uns erschöpft an eine Seite und zogen uns hinauf. Erschrocken zuckte ich zusammen, als ich mir an dem noch heißen Metall die Haut verbrannte. Hals und Augen schmerzten von dem Sand und Öl, während ich mich weiter auf das Wrack hinaufkämpfte, weg vom Wasser.

Ich selbst hatte keine Angst mehr, sorgte mich aber um die junge Frau, die heftig zitterte, und ich fürchtete, Schock und Anstrengung würden sie umbringen. Ich umschlang sie mit den Armen, während ich sie ermunterte, gemeinsam um Hilfe zu rufen. Als ich selbst zu schreien begann, erschrak ich über meine Stimme, die ich kaum als die meine erkannte. Kurz darauf vernahm ich einen anderen, schwächeren Ruf. Unter mir war jemand, eingeschlossen in der Lok.

Dann hörte ich weitere Stimmen und erblickte über uns am Ufer eine Gruppe Männer. »Bleiben Sie dort, wir holen Sie heraus!«, rief uns einer in der Dunkelheit zu.

»In der Dampflok ist jemand eingeschlossen!«, rief ich zurück.

Zum ersten Mal sah ich mich um. Die Nacht war klar, was mir seltsam erschien. In den Fluten erkannte ich Menschen, die vom Strom weggetrieben wurden, andere kämpften sich an Land. Wieder andere hatten es geschafft; auf beiden Ufern lagen erschöpfte Zuginsassen auf der Erde. Verzweifelt versuchte ich David unter ihnen auszumachen, konnte aber keine Gesichter erkennen. Mit einem Mal dachte ich an all die Menschen, die ich im Zug gesehen hatte, die Kinder, die eine Stunde zuvor noch aufgeregt auf und ab gerannt waren. Aus schmutzig gelben Fluten ragten Waggons hervor, bei einigen war nur das Dach zu sehen, ein anderer lag auf der Seite.

Dann sah ich es. In der Mitte der zerstörten Brücke baumelte ein Waggon über den Rand. Während der nächsten Sekunden konnte ich zuschauen, wie er sich langsam in die Tiefe neigte. Dann geriet er heftig ins Schlingern, ehe er sich überschlug und ins Wasser stürzte. Und jenseits davon erblickte ich zum ersten Mal die Silhouette des Vulkans.

Als der Zug in den Fluss stürzte, hatte ich in Davids Armen geschlafen. Ich sah ihn nie wieder, seine Leiche wurde nie geborgen. Meine Retterin hatte ihre Schwester verloren. Wir beide waren mit einer Handvoll weiterer Passagiere die einzigen Überlebenden von sechsundfünfzig Insassen unseres Waggons. Die Männer in der Dampflok – der Lokführer und der Heizer – starben ebenfalls.«

Beverley Corbett, 19, eine Überlebende der Tangiwai-Katastrophe, 1953

Die Insel der Feuerberge

Подняться наверх