Читать книгу Die Insel der Feuerberge - Anne Maria Nicholson - Страница 8

Erstes Kapitel

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Es ist noch früh am Morgen, als Frances Nelson in Auckland aus dem Flugzeug steigt. Im Gedränge von Hunderten weiterer übernächtigter Fluggäste steht sie am Gepäcklaufband und hält Ausschau nach ihrem marineblauen Koffer; er enthält alles, was sie in dem vor ihr liegenden Jahr brauchen wird, das sie in Neuseeland verbringen will. Mit seinen Kratzern und dem kleinen Riss auf der Vorderseite, den Spuren früherer Reisen, erkennt sie ihn auf Anhieb, als er auf sie zuruckelt. Sie hievt ihn vom Laufband, und als sie ihn auf die Rollen stellt und durch das Gedränge zieht, kommt er ihr angesichts ihres müden Körpers ungewöhnlich schwer vor.

Sie rückt den Gurt ihrer Laptoptasche auf der einen und den ihres kleinen Rucksacks auf der anderen Schulter zurecht und will weitergehen, als ein Beagle ihr den Weg versperrt. Er streift um ihre Beine, schnüffelt an ihr und ihrem Koffer. Sie weiß, dass das sein Job ist, und widersteht der Versuchung, ihn zu streicheln, als er schnüffelnd ihren Koffer inspiziert. Ob er wohl den Geruch der felsigen Wildheit aufgenommen hat, aus der sie kommt? Nachdem der Hund keine Drogen entdeckt hat, verliert er schnell das Interesse und tapst weiter zu einer jungen Frau mit einem holländischen Wappen auf ihrem Rucksack.

Erleichtert, dass ihr Arbeitsvisum offensichtlich in Ordnung ist, passiert Frances anstandslos die Zoll- und Passkontrolle. Nichts erinnert hier an die Anspannung, die sie auf den amerikanischen Flughäfen verspürte, den Zwischenstationen ihrer Reise hierher; keine Wachmänner mit Maschinenpistolen im Anschlag, keiner schleicht misstrauisch um einen herum oder stellt einem Fragen, etwas, was seit dem 11. September Teil des Reisens geworden zu sein scheint. Überhaupt sehen die Menschen um sie herum entspannter aus, eine Mischung aus den weicheren Gesichtszügen der Pazifikbevölkerung und dem britischen Erbe der längst vergangenen Kolonialzeit.

Nachdem sie von Seattle nach Los Angeles geflogen war, döste sie mit vielen Unterbrechungen auf dem Flug nach Neuseeland immer wieder ein. Während das Flugzeug durch einen nicht enden wollenden helllichten Tag und eine noch längere Nacht schwebte, hatte sie zu viele Mahlzeiten eingenommen und zu viele Gläser Wein getrunken, ehe es schließlich in eine fluoreszierende, blutorange Dämmerung stieß. Doch während sie jetzt durch den Terminal schreitet, spürt Frances, wie die Müdigkeit von ihr weicht, und beschließt, sich die eine Nacht im Motel zu sparen und stattdessen die fünfstündige Fahrt in die Berge hinter sich zu bringen.

Sie findet einen Duschraum, und das warme Wasser belebt ihre müden Knochen. Die Arme hoch in die Luft gereckt, steht sie auf den Zehenspitzen und lässt das Wasser über ihr Gesicht strömen, in den Mund und über die kräftigen Glieder, die sich während des langen Flugs verkrampft hatten. Dann rubbelt sie sich mit einem Handtuch ab und kämmt die nassen Strähnen zurück.

Als sie ihr Spiegelbild betrachtet, ist sie zufrieden mit ihrem neuen Stufenhaarschnitt und froh, sich vor ihrer Reise entschlossen zu haben, einige Zentimeter ihrer langen Locken zu opfern. Sie gibt ein paar Tupfer der sündteuren Feuchtigkeitscreme auf das Gesicht, die sie unüberlegt im Flugzeug gekauft hat, und untersucht dann kritisch ihr Gesicht auf neue Falten. Seufzend meint sie eine neue Linie auszumachen, und ihr kommen Zweifel, ob die Wundercreme etwas gegen die Spuren ausrichten kann, die jahrelange Sonneneinstrahlung und Klettern im Hochgebirge auf ihrer Haut hinterlassen haben. Sie streift sich einen sauberen Baumwoll-BH und den dazu passenden Slip über, schlüpft in eine frische Jeans und eine hellblaue Bluse und stopft die schmutzigen Sachen in den Koffer.

Sie ist absichtlich einen Tag früher angereist. Ehe sie ihre Arbeit beim seismologischen Team in Taupo aufnimmt, will sie allein den Mount Ruapehu aufsuchen. Es gibt aber noch einen anderen, einen wichtigeren Grund. So sehr sie sich auch davor fürchtet, muss sie so bald wie möglich nach Tangiwai fahren, das weiß sie.

»Zu dieser Jahreszeit werden Sie keinerlei Probleme haben«, sagt der flippige junge Mann am Schalter der Mietwagenfirma. Mit seinem stachligen, gegelten Haar und dem Nasenstecker einerseits und dem konservativen Uniform-Blazer andererseits schwankt sein Outfit zwischen zwei Welten. »Aber in spätestens einem Monat müsste ich Ihnen Schneeketten für den Wagen mitgeben. Kann ziemlich kalt werden, dort oben.«

Sie sieht zu, wie er gewissenhaft die Daten ihres amerikanischen Reisepasses notiert: Frances Tui Nelson, geboren in Großbritannien, 36 Jahre alt, blondes Haar, grüne Augen. Sein Blick mustert sie von oben bis unten. Sie ist das gewohnt, vor allem, wenn sie allein reist. »Sie sind wohl auf Urlaub und ein wenig Abenteuer hier, hm?«

»Für Abenteuer bin ich zwar immer zu haben«, sagt sie scherzhaft, »aber tatsächlich bin ich zum Arbeiten hier.«

Er lächelt sie an. »Tui ist ein Maori-Name. Seltsam für eine Amerikanerin, nicht wahr?«

»Die Idee meiner Mutter«, sagt sie. »Und was ist mit Noah?« Sie deutet mit einer Kopfbewegung auf das Namensschildchen an seinem Blazer. »Ich dachte, nur alte Männer mit Bart und einem Haufen Haustiere heißen so.«

»Der Punkt geht an Sie.« Er lacht. »Ja, ja, unsere lieben Eltern. Hören Sie …« – er beugt sich verschwörerisch zu ihr vor, als wären sie enge Freunde –, »… in der Nebensaison herrscht hier wenig Verkehr, und es kommt immer wieder vor, dass Touristen auf die rechte Straßenseite geraten, ohne es zu merken. Letztes Jahr sind zwei Schweizer und dieses Jahr zwei Deutsche bei Unfällen ums Leben gekommen. Sind dann in Särgen nach Hause gereist. Sie haben einfach vergessen, dass wir hier Linksverkehr haben. Also seien Sie auf der Hut, wär schade, wenn es Ihnen auch so erginge.«

Während sie nach Süden fährt, passt Frances auf, stets auf der linken Straßenseite zu fahren. Im Gegensatz zu dem, was der junge Mann am Mietwagenschalter gesagt hat, ist der Verkehr ziemlich dicht, doch die Straßen sind besser als erwartet und erinnern sie an die Fahrt auf dem Highway No. 5 von Seattle zum Mount St. Helens hinunter, die sie so oft zurückgelegt hat.

Dort hat sie ihr Handwerk gelernt. Infolge eines Erdbebens war der amerikanische Vulkan im Mai 1980 auf spektakuläre Weise ausgebrochen und hatte einen mächtigen Erdrutsch ausgelöst. Als Frances ein Jahrzehnt später ihre Stelle bei einem Forschungsteam antrat, war die Landschaft im Umkreis von Meilen noch immer von den verheerenden Folgen gezeichnet. Riesige Flächen von gigantischen Holzsplittern waren die einzige Erinnerung daran, dass es hier einmal Kiefer- und Zedernwälder gegeben hatte, die binnen weniger Augenblicke gefällt worden waren. Fünfzig Menschen waren damals umgekommen.

Als Frances zu dem Team stieß, waren die Mitglieder gerade dabei, wieder halbwegs ihr Selbstbewusstsein zurückzugewinnen, das im gleichen Maße Schaden genommen hatte wie der Berg. Das Ausmaß und die Unvermitteltheit der Katastrophe hatten ihre Sicherheit erschüttert, in der sie sich gewiegt hatten: dass sie die Aktivitäten eines Vulkans vorhersagen könnten. Inzwischen glaubten sie jedoch, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis sie genügend Daten gesammelt hätten, um mithilfe modernster Technologie die Seismologie zu einer exakten Wissenschaft zu machen.

Dieser Gedanke tröstet sie, während sie Hamilton passiert und weiter in südlicher Richtung fährt, der Hauptroute folgend. Zusehends wird der Verkehr spärlicher und die Straße schmaler, die sich durch kleine Eisenbahnstädtchen schlängelt. Auch die Landschaft ändert sich. Die feuchte, grüne Tiefebene des Waikato-Distrikts weicht dem von Schaffarmen und Wäldern geprägten Bergland des King Country.

Obwohl sie eine Kaffeepause eingelegt hat, macht sich allmählich die Anstrengung des langen Fluges bemerkbar. Sie gähnt und rutscht auf dem Sitz herum, nimmt immer wieder einen Schluck aus der Wasserflasche, kaut Pfefferminzkaugummi und versucht sich auf den Radiosender zu konzentrieren, aber der Empfang ist schlecht. Schließlich hat sie genug von dem nervigen Rauschen und schaltet das Gerät aus.

Wieder verändert sich die Landschaft, bis um sie herum eine weite Leere herrscht. Wie so oft in diesem Jahr spürt Frances die ebenso vertrauten wie unliebsamen Bauchschmerzen. Und völlig unverhofft taucht vor ihren Augen, als würde sich der Vorhang vor einem grandiosen Opernbühnenbild heben, das Vulkan-Hochplateau auf. Einen Moment lang verschlägt es ihr den Atem, und ihre unausgesprochenen Ängste sind schlagartig weggewischt. Ihr wird bewusst, dass sie durch das spirituelle Herz der Nordinsel fährt, in dem sich menschliche Kräfte und die Natur seit Jahrhunderten gegenseitig beeinflussen. Geradeaus ragt aus der abweisenden Erde das Trio mächtiger Vulkane gleich dreier gigantischer Wachtposten – der kegelförmige Ngauruhoe, die unregelmäßig zerklüfteten Hänge des Tongariro und – die beiden beherrschend – die gewaltige Erhabenheit des Ruapehu. Die drei Berge sind über 250000 Jahre alt, wie Frances weiß. Als sie jetzt nach so vielen Jahren wieder sieht, wie sie sich in das tiefe Blau des Himmels erheben, ruft sie sich in Erinnerung, warum sie ihren Platz unter den größten Schätzen des Weltnaturerbes verdient haben.

Die Straße steigt steil an, und Frances beschleunigt die Geschwindigkeit, froh, dem Rat des jungen Mannes gefolgt zu sein, einen PS-starken Wagen mit einem Sechszylinder-Motor zu mieten. Je näher sie dem Ruapehu auf der sich in engen Kurven nach oben windenden Straße kommt, desto mehr spürt sie den Sog des Bergs. Ein erregendes Gefühl überkommt sie, als wäre sie ein Astronaut, der nach Monaten des Trainings auf der Erde endlich auf dem entfernten Planeten landet.

Eine Woche zuvor hat sie in ihrem komfortablen Büro auf der anderen Seite der Erde Live-Bilder des Bergs auf ihrem Computerbildschirm betrachtet. Riesige säurehaltige Dampfwolken quollen aus dem Krater, und es schien, als wollte er die angekündigten Eruptionen wahrmachen. In den letzten fünf Jahren hatte sich Mount Ruapehu mit Lava- und Ascheeruptionen begnügt. Nun aber drohte er damit, aus dem geheimnisvollen See in seinem Krater einen massiven Schlammstrom auszustoßen.

Frances wünscht, ihre Kollegen wären dabei, um den Anblick mit ihr zu teilen. Als sie sich daran erinnert, wie sie sie aufgezogen haben, muss sie lächeln.

»Also verlässt du uns, um Mount Doom zu erobern«, sagte einer ihrer Kollegen. Seit einige Szenen des Kinofilms Herr der Ringe hier gedreht wurden, nennt man den Ruapehu in Vulkanologenkreisen gern bei seinem Künstlernamen.

Als sie erneut eine Kurve passiert, ist der unvermittelte Blick auf den Berg, der direkt vor ihr aufragt, so überwältigend, dass sie abrupt am Straßenrand anhält. In der spätnachmittäglichen Sonne schweben kleine Dampffahnen über der Kuppe. Es ist jetzt zwei Jahrzehnte her, seit sie mit ihren Eltern hier war. Sie verspürt den Drang, aus dem Wagen zu steigen, fröstelt aber im kühlen Wind, während sie sich an die traurige Atmosphäre jener einsamen Pilgerreise erinnert. Der Vulkan, der darauf wartet, in Bälde mit seinem ersten weißen Wintermantel überzogen zu werden, zieht sie in seiner schlichten, steinernen Schönheit in seinen Bann, so wie er es seit jener Reise getan hat.

Obwohl es jetzt sechsunddreißig Stunden her ist, dass sie in einem Bett geschlafen hat, verschafft ihr die frische Aprilbrise des Vulkangebirges einen neuen Energieschub. Einen Monat zuvor, als sie in ihrem Labor arbeitete, erhielt sie den Anruf, mit dem ihre Hilfe angefordert wurde.

»Glauben Sie ja nicht, dass es einfach werden wird«, hat der neuseeländische Teamleader bei ihrem letzten Telefonat gesagt, als sie bereits inmitten ihrer Reisevorbereitungen steckte. »Eine Menge Leute furchten, dass es einen gigantischen Lahar geben wird. Die Fraktion, die sich in den Kopf gesetzt hat, den Kratersee zu drainieren, ist hier sehr groß. Währenddessen halten die Maori ihren uralten Glauben dagegen, dass das heilige Mana des Berges gerade seine Unvorhersehbarkeit ist. Sie sagen, dass man der Natur freien Lauf lassen soll. Somit sitzen wir zwischen den Stühlen.«

»Und wo ist da mein Platz als Außenstehende?«

»Ich bin versucht zu sagen, in der sprichwörtlichen Klemme, will Ihnen aber andererseits keine Angst einjagen, noch ehe Sie hier sind. Im Gegenteil, ich freue mich, frische Gedanken von Ihnen zu hören, und, keine Sorge, Sie werden bestimmt auf die herzliche Kiwi-Art begrüßt werden, wie es hier so üblich ist.«

In diesem Moment, da sie mutterseelenallein auf einer Nebenstraße des merkwürdigen Bergs steht, kann Frances einen Moment lang nicht glauben, dass sie überhaupt gekommen ist.

Die Insel der Feuerberge

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