Читать книгу Tanz der Zwerge - Anne Marie Løn - Страница 10
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ОглавлениеEin Meter und sechsunddreißig Zentimeter sind keine Kleinigkeit für einen Zwerg. Um korrekt zu sein, messe ich – von Zoll umgerechnet – 1,35980 Meter.
Das metrische System bescherte mir eine neue Zahl für meine Größe. Ich hatte es offen gestanden schon aufgegeben, als ich 18 Jahre alt war und die zweite Klasse eines Kopenhagener Gymnasiums besuchte. Natürlich war es lächerlich, und so sprach ich mit niemandem darüber.
Der kleinste Mensch, der je gemessen wurde, war die Holländerin Paulina Muster. Sie war 61 Zentimeter groß, also keineswegs von meinem Schlag. Sie war eine so genannte Liliputanerin, das heißt, die Proportionen stimmten, außerdem muss sie ziemlich hübsch gewesen sein.
Hierzulande war Fräulein Catarina Stöber die Kleinste, die sich je hat blicken lassen. Sie maß fünf Quarter, also 78 Zentimeter, und wurde gegen Ende des 18. Jahrhunderts gegen Bezahlung zur Schau gestellt. Sie war aber kein richtiger Zwerg. Ich habe einen Kupferstich von ihr gesehen – den harmonischen Größenverhältnissen zum Trotz eine wirklich unschöne Abnormität. Für deren Anblick hätte ich kein Geld bezahlt.
Ein drolliger Herr, der sich mit dem Namen Labri vorstellte und als Gauklerkönig bezeichnete, hat mich einmal auf der Fähre über den Kleinen Belt angesprochen und gefragt, ob ich an einer Zusammenarbeit interessiert wäre.
«Ich studiere Musikwissenschaft», erwiderte ich und stellte mich vor: «Tyge Willhof-Holm.»
«Musikwissenschaft, intelligent ... umso besser», triumphierte der zufriedene Schausteller.
Meine Hand legte sich automatisch auf die mitgebrachte Reiselektüre, die vor mir auf dem Tisch lag: die Partitur zu Ludolf Nielsens Orchesterphantasie Echo und Narzissos, die gerade herausgekommen war. Der Komponist hatte mir früher Violinunterricht erteilt und mir soeben ein Exemplar seines Opus 40 zugeschickt.
Das sonderbare Individuum studierte dreist meine Hand auf der Partitur und fixierte meine kurzen Finger, während es sich unaufgefordert auf die Bank mir direkt gegenüber setzte. Ich spürte, dass er sich förmlich den Kopf zerbrach. Irgendwas schien für ihn nicht zusammenzupassen. Dann ging ihm offenbar ein Licht auf, und er begann unmittelbar, die Verkäuflichkeit des Objekts zu testen, das er soeben entdeckt hatte.
Den umstehenden Mitreisenden erklärte er lautstark, ich könne der Partitur lesend entnehmen, was ich nicht in der Lage sei zu spielen. «Denn mit diesen Fingern da ...» Er deutete auf mich, und die Leute glotzten.
Ich erklärte ihm, dass ich die Musikstücke, die meine Finger trotz ihrer Geschmeidigkeit nicht bewältigten, einfach umschreiben würde.
«Umschreiben!»
Siegesgewiss ließ er seinen Blick schweifen.
«Hat man so was schon gehört. Er schreibt sie um!»
Vor lauter Begeisterung schaute er mir nicht in die Augen, sondern durch mich hindurch, vermutlich bereits die Zukunft vor Augen, in der ich als musikalischer Clown sein Zugpferd sein würde.
Während ich ihn in Augenschein nahm, wurde mir leichter ums Herz. Ich bemerkte sein unschönes, mageres Gesicht mit der fliehenden unteren Hälfte, die schiefen, imbezilen Augen über den grotesk hervorspringenden Wangenknochen und die niedrige Schimpansenstirn. Ich wurde richtig glücklich über mein eigenes Aussehen.
«Was für Instrumente spielen Sie, Herr Tyge?», fragte er, während ihm der Speichel aus den Mundwinkeln quoll.
«Klavier und Violine», antwortete ich bereitwillig.
«Eine doppelte Merkwürdigkeit der Natur», klang es aus seinem Mund, während er spontan die Schlagzeile für das Werbeplakat verfasste:
«Zwerg und Musikgenie – ein Vergnügen für alle.»
«Ich besitze nicht das geringste komische Talent, Herr Labri», verteidigte ich mich.
Seine niedrige Stirn verschwand vollständig unter Haaren und Brauen, bevor er in schallendes Gelächter ausbrach. Dies nahm seinen Mund dermaßen in Anspruch, dass es eine Weile dauerte, bis er die pfiffige Frage hervorbringen konnte, die ihn so sehr amüsierte: Ob ich mich denn noch nie im Spiegel betrachtet hätte.
Das habe ich sehr wohl, und ich wiederhole diese Prozedur täglich beim Friseur. Der Anblick betrübt mich nicht. An die breite Stirn habe ich mich längst gewöhnt, ebenso an die eingefallene Stelle zwischen den Augen, die kurze, runde Nase, die man als Sattelnase bezeichnet, meinen riesigen Kiefer und das große Kinn. Meine aschblonden Haare sind kurz geschnitten, damit der Umfang meines Kopfes weniger auffällt. Meine Männlichkeit unterstreiche ich durch einen mit der Zeit ziemlich dicht gewordenen Spitzbart, der mein Kinn schmaler wirken lässt.
Nicht einmal der Anblick meines gesamten Körpers erschreckt mich. Als Kind stand ich oft neben den Pfauen, wenn sie durch die geöffnete Tür direkt aus dem Garten hereinspazierten, und betrachtete mich in den Empirespiegeln.
Zwar bemerkte ich, dass Oberarme und Schenkel im Verhältnis zum Körper zu kurz waren. Aber deswegen fühlte ich mich in meinem Körper nicht weniger wohl. Mein Körperbau war schon damals muskulös. Ich hatte viel Kraft, und wenn mich jemand belästigte, machte ich auch davon Gebrauch. Einen Ansatz von Dickleibigkeit habe ich mir nie gestattet. Überhaupt ist mein Körper von frühester Kindheit an von Europas führenden Experten auf diesem Gebiet mit der größten Sorgfalt untersucht und behandelt worden. Daher bin ich, objektiv betrachtet, ein ungewöhnlich gut aussehendes Exemplar eines Achondroplasie heimgesuchten Menschen. Meine Augen sind braun und strahlen eine wache Intelligenz aus. Auch die Geschlechtsorgane sind von normaler Größe und voll funktionsfähig.
In den späteren Jahren meines Heranwachsens oder besser gesagt der Zeit der allgemeinen Persönlichkeitsbildung – als Vierzehnjähriger wurde ich in einem Kopenhagener Pensionat einquartiert, und es war mir, vom Schulbesuch abgesehen, freigestellt, womit ich meine Zeit verbrachte –, beschäftigte ich mich intensiv mit dem Begriff des Nanismus und nutzte jede Gelegenheit, meine wenigen gleich gearteten Mitmenschen unter die Lupe zu nehmen.
Damals stand ich oft im staatlichen Kunstmuseum vor Karel van Manders Gemälde von Giacomo Favorchi, dem italienischen Zwerg des sächsischen Kurfürsten, das ich grenzenlos bewunderte. Der Maler hat den Zwerg neben eine große dänische Dogge gestellt, deren leicht vorgebeugter Kopf ihm bis zur Mitte der Stirn reicht, aber das macht nichts, seine Ausstrahlung ist imposant. Die rechte Hand hat er in die Seite gestemmt, während die linke das Hundehalsband hält.
Giacomo oder Jacob, wie ich ihn nannte, ist ein attraktiver und selbstbewusster Herr mit schulterlangen Haaren, einem langen Bart und entblößten Armen. Ihm fühle ich mich verbunden, und ich bewundere seinen Geschmack, was die Kleidung betrifft: Puffärmel verdecken die extrem kurzen Oberarme, und weiße Pluderhosen aus kräftigem Velours überspielen seine besonders stark ausgeprägte O-Beinigkeit.
Alle Züge, die für meine Form der Zwergwüchsigkeit charakteristisch sind, besitze ich in Reinkultur. Sie ist primordial und die Folge eines nicht näher bekannten Defekts der Erbanlagen. Die Bekanntschaft mit dem durch und durch eitlen Zwerg des Kurfürsten war für mich von immenser Bedeutung.
Alle Menschen und Pfauen sind eitel. Ich bin da ebenso wenig eine Ausnahme wie Favorchi. Im gegebenen Rahmen achte ich auf mein Äußeres. Es gibt Tage, an denen ich dem Spiegel des Friseursalons zürne, so wie andere Menschen und die Pfauen auch. Manchmal machten die Tiere aus Verärgerung darüber, was sie sahen, bei uns auf den Teppich. Es waren die Männchen, die sich mit erhobener Schwanzfeder besonders in Positur stellten, weil sie glaubten, einen Rivalen vor sich zu haben.
Man gewöhnt sich daran, nicht den übrigen Mitgliedern seiner Familie zu gleichen, wohl aber frappierende Ähnlichkeit mit einem Clan in der Welt verstreuter Gnome aufzuweisen: plattfüßig, leicht o-beinig, mit fleischigen Gesäßbacken, einem Hohlrücken und der so genannten Dreizackhand, was bedeutet, dass die drei mittleren Finger gleich lang sind. Eine Familie, als deren Mitglied mich Herr Labri offensichtlich betrachtete.
Mein Vater, der mich auf dieser Reise begleitete, war für einen Augenblick draußen gewesen und kehrte in dem Moment zurück in den Salon, als das Lachen des Gauklerkönigs verebbte.
Er ist eine imposante Erscheinung und sieht aus, als habe er gerade noch rechtzeitig die Säulenhalle der stoischen Schule verlassen, bevor er selbst zu einer tragenden Säule wurde.
Der Gauklerkönig blickte ungläubig zu dem stattlichen Herrn auf, der ihn mit einem liebenswürdigen Nicken begrüßte und sich nicht darum scherte, ob er ein König oder Bettler war. Labris Blick wanderte zu mir. Das amüsierte Glühen seines Gesichts verwandelte sich in Schamesröte. Grußlos sprang er auf und verschwand in eine Richtung, die ihn sofort aus dem Gesichtsfeld meines Vaters entfernte.
Ich blickte ihm nach und erkannte, dass dieser Pfiffikus nichts als ein kleiner Dreckskerl war.
«Wo waren wir stehen geblieben?», fragte mein Vater voller Elan und setzte sich, als hätte es keine andere Unterbrechung als die seiner Abwesenheit gegeben.
Wir sprachen über Tschaikowski. Mein Vater hatte Kopenhagen besucht, um sich am Königlichen Theater Eugene Onegin anzusehen – eine bessere Inszenierung, da waren wir uns einig, als die, welche wir im Jahr meines Studienbeginns in Berlin erlebt hatten. Die Aufführung fand zu einem günstigen Zeitpunkt statt, sodass wir gemeinsam nach Hause fahren konnten. Ich hatte meine verschiedenen Verpflichtungen erledigt und sah einem langen Sommerurlaub entgegen.
«Als deine Mutter und ich dreiundneunzig Jolanthe am Königlichen Theater gesehen haben ... Tschaikowskis Todesjahr übrigens, wusstest du das? Er wurde nur dreiundfünfzig Jahre alt ...»
Er beugte sich geschäftig über den Tisch, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich nickte zerstreut, aber es ging mir wie so oft, wenn er doziert – ich vergesse zuzuhören. Die Jahreszahl lenkte mich ab. Ich war damals drei Jahre alt, es war Winter, ich konnte vermutlich noch nicht laufen.
Wir hatten begonnen, die Winter in Kopenhagen zu verbringen, eine Gewohnheit, die wir aus verschiedenen Gründen noch jahrelang fortsetzten, was zur Folge hatte, dass meine Eltern, abgesehen von vereinzelten Jagdgesellschaften, die der Abreise vorausgingen, keinen lokalen gesellschaftlichen Umgang mehr pflegten und sich dadurch absonderten. Allerdings beklagten sie sich niemals über diese Entwicklung.
Einige meiner Schwestern besuchten die Wilhelmine-Bang-Schule für Bildende Kunst, eine Ausbildung, der es zwei von ihnen zu verdanken hatten, mit 18 Jahren auf die Kunstakademie aufgenommen zu werden. Meine Eltern und die älteren Schwestern besuchten Theateraufführungen und Konzerte. Außerdem befand man sich in der Nähe des Frederiks Hospitals, wo das Gesicht meines Vaters in diesen Jahren allgemein bekannt war. Seinen Sohn auf den Armen, suchte er die Ärzte auf, um sich mit ihnen über die verschiedenen Aspekte meines komplizierten Körperbaus zu beratschlagen. Über die Zusammenhänge wusste er besser Bescheid als sie. Ich müsste mich sehr täuschen, wenn er die Gelegenheit nicht dazu genutzt hätte, sein Wissen darüber zu verbreiten, wie weit man im Ausland bereits in der Erforschung des Nanismus gekommen war.
Mein Vater redete und redete; die Möwen schwirrten laut schreiend um das Fenster. Erst als das Tuten des Schiffs den Salon wie das Knurren eines Magens erfüllte, schauten wir uns geistesabwesend an. Die Türen öffneten sich, und wir hörten, wie die Geräusche von der Hafenmole zurückgeworfen wurden, und erhoben uns – jeder aus seiner eigenen Welt.
Das war, bevor sich mein Bruder Helmuth mit seinem langjährigen Freund – einem Freund der ganzen Familie – entzweite, dem Opernsänger Olaf André Halle, der uns immer gute Theaterkarten zu günstigen Preisen besorgt hatte. Seitdem hat meine Familie es vermieden, die Oper zu besuchen, wenn er zur Besetzung gehörte. Ich nicht. Olaf besucht mich hin und wieder oder schickt mir einfach eine Karte. Die nehme ich dankend an.