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Großzügigkeit ist ein Adelsmerkmal meines Geschlechts. Das ist mein Glück; ich bin mir der Tatsache vollkommen bewusst, in gute Hände geraten zu sein. Sollte ich nicht so großherzig sein wie die anderen und meine Seele womöglich weniger Noblesse besitzen, dann liegt es daran, dass ich nur ein brauner Topinambur unter weißen Lilien bin. Es geschieht höchst selten, dass ich im Mittelpunkt stehe, darum kann ich mich an den Abend im Palast Hotel auch so gut erinnern.

Dass mein Vater seine Kinder gewissermaßen als Königskinder betrachtet, liegt daran, dass das Erbhofsystem praktisch den Regeln und Gesetzen eines Königshauses folgt. «Wer, außer dem Königshaus, besitzt keine Religionsfreiheit?», fragen meine Schwestern, während sich ihre Gesichtshaut algenartig hin und her bewegt.

Der Begründer von Willhofsgave, der Staats- und Landrat Tycho de Willhof, verlangte, dass mein Urgroßvater als erster Erbhofbesitzer Namen und Wappen der Familie annehmen und Lutheraner werden sollte. Er schenkte uns das Gut vor 138 Jahren aus reiner Großherzigkeit.

Der Erbhofbegründer, der kinderlos und in die Jahre gekommen war, machte den damals achtjährigen Hans Ludvig Holm, meinen Urgroßvater, zum ersten Erbhofbesitzer. Er erhielt den zusammengesetzten Namen Tyge Ludvig Willhof-Holm.

Der Wohltäter besaß zum begünstigten Jüngling eine zweifache familiäre Verbindung und war sich anscheinend sicher, dass dessen Abstammung für Qualität bürgte. Die Mutter des Jungen war die Tochter seiner Schwester. Mit der Großmutter väterlicherseits des Jungen, Elisabeth, war er verheiratet. Sie war die Witwe des Schiffsarztes Helmuth Holm. Tycho de Willhof war also der Ersatzgroßvater des Jungen. Als Kind verbrachte er einige Zeit auf dem Gut, das nach einem früheren deutschen Besitzer Böttingsborg hieß, bevor es zu unserem Erbhof wurde, sodass der Staatsrat Gelegenheit hatte, den Jungen zu begutachten.

Als Tycho bald nach der Erbhofbegründung starb, wurde das Gut für einige Jahre von Elisabeth de Willhofs Sohn geführt, Hans Helmuth Holm, dem Schiffskapitän und Leiter einer Zollstation. Der junge Erbhofbesitzer besuchte die Universität und hielt sich mehrere Jahre im Ausland auf. Mit dem Titel eines Homme de lettres in seinem Pass studierte er Botanik, Geologie und Mineralogie und knüpfte Verbindungen zu Wissenschaftlern aus aller Herren Länder. Im nach revolutionären Frankreich beschäftigte er sich nicht nur mit den fortschrittlichen Ideen, sondern setzte sich in solchem Maße für sie ein, dass er Schwierigkeiten bekam, als er im Jahr 1800 nach England reisen wollte. Ein Mitreisender der Postkutsche von Paris nach Calais registrierte, dass er mit ein paar jungen Franzosen auf das Wohl Napoleons anstieß, als dieser gerade, aus Ägypten kommend, Fréjus erreichte, und denunzierte ihn als Jakobiner. In Dover angekommen, verwehrte man ihm, trotz zahlreicher Empfehlungsschreiben, das Recht, an Land zu gehen. Nachdem er sich drei Tage im Hafen von Dover aufgehalten hatte, erhielt er die Anordnung des Herzogs von Portland, unverzüglich nach Frankreich zurückzukehren. Mein Urgroßvater hat in einer biografischen Zeitschrift selbst darüber berichtet:

«Nach meiner Heimkehr suchte ich unseren guten König Frederik den Siebten auf, der damals Kronprinz war, berichtete ihm von meinen Erlebnissen und überreichte ihm die Stellungnahme der dänischen Gesandtschaft in Paris, die bezeugt, dass ich mich, soweit bekannt, nicht der Politik, sondern ausschließlich meinen Studien gewidmet habe. Darüber hinaus hatte ich leider keine Möglichkeit, mich vom Verdacht des Ultraliberalismus reinzuwaschen.»

Es gelang ihm bereits 1801, seinen zweifelhaften Ruf aufzupolieren – ich möchte fast behaupten, sein Renommee völlig auf den Kopf zu stellen –, als er Charlotte, die Tochter des soeben zurückgetretenen Geheimrats, ehelichte. Sie war 16, und es geht das Gerücht, sie habe, bevor er um ihre Hand anhielt, heimlich zu Nadel und Faden gegriffen und ihre und ihrer Mutter Röcke zusammengenäht, aus Angst, mit ihm allein gelassen zu werden.

Ich bin ziemlich sicher, dass mein Urgroßvater an den Versammlungen von Robespierres Jakobinerclub teilnahm, der sich offiziell Gesellschaft der Verfassungsfreunde nannte, sowohl in Paris als auch in der Provinz frei zugängliche Sitzungen abhielt und in einer Übergangszeit große Bedeutung für die Radikalisierung der öffentlichen Meinung hatte. Mein Vater verweist treuherzig auf seinen eigenen Vater, der gesagt hat, dass an dem Gerede nichts dran sei. Natürlich mussten sie das behaupten. Ich bin überhaupt der Ansicht, dass vom politischen Habitus und der geistigen Orientierung meines Urgroßvaters in der dritten und vierten Generation nichts mehr übrig geblieben ist, auch wenn die Familie bemerkenswerten Nutzen aus seinen Handlungen zieht. Ich höre, wie mein Vater meine Schwestern als «junge Töchter der Nation» bezeichnet. So hätte er eine Horde von Stallmägden nie genannt.

Wenn ich die Vita meines Urgroßvaters studiere, was ich hin und wieder tue, weil die heimische Bibliothek, über ihre kostbare Sammlung wertvoller Erstausgaben hinaus, bedeutendes biografisches Material über ihn enthält, entdecke ich jedes Mal mit derselben Deutlichkeit und Verblüffung, wie viele Eigenschaften er mir unbemerkt vererbt hat. Darüber spreche ich natürlich nicht mit den anderen. Sie glauben alle, ihm ähnlich zu sein, solange sie nur die Seite seines Rufs im Auge haben, die ihnen sympathisch ist. Ich will nicht behaupten, sie würden die Wirklichkeit schönfärben – denn was ist schöner als die Wirklichkeit? –, aber verdrehen und verschweigen, das tun sie, weil sie darauf setzen, dass das Verschwiegene aufhört zu existieren.

Die Familie Willhof-Holm ist stets zahlreich und raumgreifend gewesen. Die Urgroßmutter Charlotte brachte zehn Kinder zur Welt, meinen Großvater als erstes. Des weiteren gehörten zu ihrer Schar zwei Pflegekinder, von denen zumindest eines heiß geliebt wurde. Zweiundsiebzig Jahre lang hat sie den Hof nie verlassen. Wie eine Königin herrschte sie gemeinsam mit einigen ledigen Töchtern über das Hauptgebäude und wachte darüber, dass der Geist meines Urgroßvaters bewahrt und das Geschenk mit Respekt verwaltet wurde. Sie blieb bis zu ihrem 93. Jahr am Leben, weil sie Louise Marie, meiner im Südflügel wohnenden Großmutter väterlicherseits, die Bewältigung der Aufgabe nicht zutraute. Diese starb lange vor ihrer Schwiegermutter und war nie ins Hauptgebäude eingezogen.

Warum musste sie so alt werden? Was hütete sie wirklich? Auf den Fotografien und Porträts des Gartenzimmers gleichen ihre Augen denen eines Waldkauzes. Sie leuchten aufmerksam, während sie von grauen Schläfenlocken, einer Haube und dem Samtband unter dem Kinn eingerahmt werden. Mit der Klugheit einer Eule formte sie die Wirklichkeit, bis sie so aussah, wie sie es wollte, bevor sie sich von ihr verabschiedete.

Meine frei umherflatternden Schwestern genießen, verglichen mit den Frauen vergangener Generationen, große Freiheit bei der Entfaltung ihrer diversen künstlerischen Aktivitäten und ihren persönlichkeitsbildenden Unternehmungen. Sie sehen nicht – oder es macht ihnen nichts aus –, dass die finanziellen Mittel meines Vaters ihrer Freiheit Grenzen setzen. Und sie lassen gänzlich die Möglichkeit außer Acht, dass die messerscharfe Schere, die das Schnittmuster der Familie zurechtschneidet, womöglich auch schon ihre Flügel berührt hat und sie zu amputierten Vögeln gemacht hat, die nur noch die Illusion hegen, überall hinfliegen zu können. An dieser Entwicklung hat Urgroßmutter Charlotte entscheidenden Anteil. Man muss mich entschuldigen, dass ich die tiefe Sorge um die Zukunft des Erbguts meinen Schwestern überlasse, während ich meinem Beruf nachgehe und mein gutes Auskommen genieße.

Wie ich bereits erzählt habe, wuchsen einige Gäste, denen ein gemeinsames wissenschaftliches Interesse den Weg zu meinem Groß- und Urgroßvater gebahnt hatte, mit dem Gut zusammen und blieben auf Willhofsgave wohnen. Andere kamen und gingen, unter ihnen – soweit mir bekannt ist – der französische Naturforscher Louisch Decandolle aus Montpellier, dessen Tochter von Kindesbeinen an inmitten von Urgroßvaters Kinderschar aufwuchs.

Das Kind hieß Colette – den Nachnamen Lawaetz hatte sie von ihrer französischen Mutter –, war vermögend und besaß ihre eigene Mamsell, was auch den Kindern meines Urgroßvaters zugute kam, die gemeinsam mit Colette von der Mamsell in Sprachen und Allgemeinwissen unterrichtet wurden. Auf dem Erbgut war man bei weitem nicht immer so vermögend, dass man sich eine Hauslehrerin leisten konnte. Zu Großvaters Zeiten waren sie so arm, dass seine Schwestern nicht alle gleichzeitig in die Kirche gehen konnten, weil nicht so viele Hüte vorhanden waren.

Colette, deren braune Augen ich geerbt habe, wurde von allen auf Willhofsgave geliebt, doch ihre Pflegeeltern sorgten dafür, dass sie früh verheiratet wurde. Blutjung ehelichte sie auf Willhofsgave den Numismatiker und Museumsleiter Sophus Mühlenhausen und zog mit ihm nach Kopenhagen. Sie nahm die Mamsell mit, die später auch meine Mutter erziehen sollte, eines von Colettes zahlreichen Kindern.

Manchmal besuchte Colette im Sommer ihr Ersatzelternhaus und brachte dann auch einige der Kinder und das in die Jahre gekommene französische Kindermädchen mit. Als meine Mutter zehn Jahre alt war, kam sie an die Reihe, Willhofsgave zu besuchen, begegnete meinem Vater bei dieser Gelegenheit jedoch nicht. Urgroßmutter, die allein im Mittelteil des Hauptgebäudes wohnte, trat ihren Gästen entschieden gegenüber und wünschte keine «Fraternisierung» mit dem Südflügel. Erst während seiner Studienzeit in Kopenhagen bekam er Colettes Tochter Constance zu sehen, als er, auf Veranlassung seines Vaters, die Familie am Højbro Platz besuchte.

Meine Mutter besaß also durchaus eine Vorstellung, was sie erwartete, als sie nach vierzehn Ehejahren von Kopenhagen nach Willhofsgave umzog, wo sie fünf Jahre später das Meisterstück fertig brachte, mich zur Welt zu bringen.

Vidde hat mir erzählt, sie habe damals nicht die geringste Ahnung gehabt, dass meine Mutter den Hof von Kindesbeinen an besucht hatte.

«Das hätte sie mir wirklich sagen können, dann hätte ich mir ihretwegen weniger Sorgen gemacht», sagte sie einmal zu mir und ließ die stehende Wendung folgen: «Die Wege der feinen Gesellschaft sind genauso unerforschlich wie die des Herrn.»

Über die Familie meiner Mutter weiß ich nur sehr wenig, obwohl es in Kopenhagen von leiblichen Vettern und Cousinen nur so wimmelt. In Mutters Patrizierelternhaus wurde ihre Ehe mit dem Erbhofbesitzer in spe nicht gebilligt. Nach dem Tod ihres Vaters kam es nicht einmal zu Höflichkeitsbesuchen. Später stattete ihr Bruder Peter Willhofsgave einen Besuch ab. Das war ein so herausragendes Ereignis, dass wir uns zu einem Familienfoto aufstellten. Ich stehe ganz nahe bei meinem sitzenden Onkel Peter. Wenn ich das Foto betrachte, spüre ich noch immer seinen Arm um meine Schultern und seine Hand, die sich um meine schließt.

Tanz der Zwerge

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