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Ich bin der Sohn des dritten Erbhofbesitzers auf Willhofsgave, des Hofjägermeisters und Magisters der Politischen Wissenschaften Hans Helmuth Willhof-Holm und dessen Frau Constance, geborene Mühlenhausen. Meine Eltern haben 1872 geheiratet. Alle meine Geschwister, mit Ausnahme von Gudrun, die als letzte vor mir geboren wurde, kamen in Kopenhagen zur Welt.

Meine Familie wohnte am Gamle Kongevej, und mein Vater war Abteilungsleiter der Landwirtschaftsbank, als ihn 1885 die Pflicht rief, den Erbhof von seinem Vater, dem zweiten Erbhofbesitzer Helmut Ludvig Willhof-Holm, zu übernehmen.

Mit ihrem gesamten Hausstand, sechs Kindern, die bald sieben sein sollten, sowie dem Kindermädchen Melvilda Valentin brachen meine Eltern auf und ließen das Hauptstadtleben mitsamt der Arbeit, dem Familien- und Freundeskreis hinter sich, nachdem mein Großvater sie benachrichtigt hatte, dass die Zeit reif sei. Einige Monate später, als sie sich an ihr neues Leben auf dem abgelegenen Gut gewöhnt hatten, verschied der Alte ohne vorheriges Krankenlager während eines Mittagsschlafs.

Vidde hatte von Beginn an gewusst, dass die Familie nicht für immer in der Hauptstadt bleiben würde, hatte sich aber nie vorstellen können, irgendwo anders als in Kopenhagen zu wohnen. Als Nyboder Kind war sie klassenbewusst und heimatverbunden. Als die Zeit gekommen war, hatten die Umstände ihr die Entscheidung abgenommen. Es schien ihr völlig unvorstellbar, einen anderen Entschluss zu fassen, als den mitzukommen. Außerdem war es ihr unbegreiflich, wie die Herrschaften – Madame auch noch hochschwanger – auf der Reise die Kinder von zwei, fünf, zweimal sechs, acht und elf Jahren in den Griff bekommen sollten.

Die Fahrt mit dem Dampfschiff von Kopenhagen nach Jütland war für sie und die Kinder wie eine Odyssee ans Ende der Welt. Wohlbehalten angekommen, fühlte sie sich weiter von der Zivilisation entfernt, als ein Mensch sich ihrer Auffassung nach jemals träumen lassen konnte. Dunkelheit und Stille ließen sie in der ersten Zeit aus dem Bett aufschrecken. Es kam ihr vor, als wäre sie lebendig begraben. Sie sehnte sich nach den Lichtern der Stadt, vor allem aber nach der trüben Gaslaterne in der heimischen Hjertensfrydgade. Die vielen Jahre, die sie dort verbracht hatte, schienen ihr Leben gerade in Zeiten der Sehnsucht bislang zusammengehalten zu haben.

In all dem Trubel des Packens, bei dem ständig entschieden werden musste, welche Möbel aufs Schiff und welche ins Lager sollten, während gleichzeitig der Haushalt weitergeführt und die Kinder versorgt werden mussten, hatte sie keine Zeit zum Nachdenken gefunden. Später kam ihr die Möglichkeit in den Sinn, nach Kopenhagen zurückzukehren und sich eine andere Anstellung zu suchen. Doch sie hätte nur ungern den Status aufs Spiel gesetzt, den sie sich in 14 Jahren bei Willhof-Holms erworben hatte. Außerdem brachte sie es nicht übers Herz, die Kinder oder die Hofjägermeisterin im Stich zu lassen.

Der Einzug der jungen, kinderreichen Familie samt ihrem bereits damals dominierenden Kindermädchen auf dem Gutshof ging nicht ohne Komplikationen vonstatten. In den oberen Gemächern residierten außer dem alten Kammerherrn die in die Jahre gekommene Tante Feodora sowie die zur Familie gestoßene «Tante» Caro, die Botanikerin war und sich seit Menschengedenken um das Herbarium des Gutes kümmerte. Die Kinder rannten durch die Zimmer, brachten die Alten aus dem Gleichgewicht oder stolperten über deren Stöcke. Jedes Abendessen geriet zu einem Höllenspektakel. Nur die beiden Jüngsten aßen mit Vidde zusammen; die anderen hatten soeben begonnen, mit am Tisch zu sitzen, und daran wollte man festhalten. Vidde war gemeinsam mit Frau Willhof-Holm für ihre Tischmanieren und das allgemeine Benehmen verantwortlich; in den Augen der Alten waren sie jedoch wilde Hyänen. Ihre Mutter musste sie ausschimpfen und auffordern, den Tisch zu verlassen, wenn sie über Tante Feodoras schief sitzende Haube oder Caros wackelige Zähne kicherten.

Im untersten Stockwerk ging es der Wirtschafterin Martine Jensen und ihrer Tochter Else Marie gegen den Strich, sich von Leuten aus Kopenhagen herumkommandieren zu lassen, weil sie gewohnt waren, die Bediensteten des Hauptgebäudes selbst zur Arbeit anzuhalten. «Solange der alte Kammerherr noch lebt ...», begannen sie jeden Satz, und Vidde entgegnete mit gutem Recht: «Alles hat seine Zeit ... Darum sind wir ja hier, und ich mache so weiter, wie wir das beim Herrn Abteilungsleiter schon immer getan haben.»

In einer Art erhöhtem Kellergeschoss unterhalb der mittleren Etage befanden sich aus alter Zeit noch zwei Küchen, eine an jedem Ende, da sowohl der Nord- als auch der Südflügel außerhalb des Hauptgebäudes von Familien aus dem Geschlecht der Willhof-Holms bewohnt worden war, die über selbständige Haushalte, aber ein gemeinsames Personal verfügt hatten. Jetzt war für gewöhnlich nur noch die Eckküche, die den Südflügel mit dem Hauptgebäude verband, in Betrieb. Ein Bügelzimmer, das zwei hohe Fenster zum Hof und einen Zugang zu dieser Küche hatte, wies die junge Hausherrin dem Kindermädchen zu. Eine Entscheidung, die Vidde auf der Stelle eine herausgehobene Position verschaffte – einen standesgemäßen hierarchischen Status, für den sie, da bin ich ganz sicher, andernfalls selbst gesorgt hätte. Eine Liste, die über die verschiedenen Klingelzeichen der Zimmer des Hauptgebäudes Auskunft gab, befand sich, zusätzlich zu den Sprechrohren ins Speisezimmer und in die Bibliothek, in jener Ecke der Küche, wo auch die Tür zu Viddes Zimmer angebracht war, sodass sie selbst im Bett hören konnte, wenn gerufen wurde.

Zu ihrer ungeteilten Freude bemerkte Vidde, dass die Frau des Hauses in der neuen Umgebung verblüffend rasch zur Ruhe kam, was auch notwendig war, da die Geburt nahte. Die ersten Jahre im Kreis der jungen Familie waren ruhig und friedlich verlaufen. Die Herrschaften nahmen um Punkt sechs im Speisezimmer das Abendessen ein, während Vidde den Kindern in einem kleinen, für diesen Zweck eingerichteten Raum etwas zu essen gab. Die letzten Jahre in der Hauptstadt waren beschwerlich gewesen, weil sie niemals wussten, wo der Herr Abteilungsleiter sich gerade befand. Durch die gemeinsame Sorge und Beschämung darüber, wo er schon wieder abgeblieben sein mochte, wenn es bereits auf acht oder neun Uhr zuging und sie immer noch nicht gegessen hatten, kamen sich das Kindermädchen und Frau Willhof-Holm sehr nahe. Auf dem Gutshof, weit von den Versuchungen des Lebens entfernt, war er immer irgendwo im Haus oder in den Wirtschaftsräumen zu finden, was Vidde veranlasste, im Stillen darüber nachzudenken, dass so ein abgelegener Wohnsitz einfach ein Traum für jede Frau sein müsse, die einen aufgeschlossenen und charmanten Ehemann besaß.

Viele häusliche Pflichten, die zuvor auf Viddes Schultern geruht hatte, wurden jetzt von anderen übernommen. Sie hielt sich mehrere Stunden täglich mit den Kindern im Freien auf, ließ sich die Nähmaschine in den Garten bringen, um gleichzeitig Kleider ausbessern und die Kinder im Auge behalten zu können, während sie an die Kindermädchen in der Großstadt dachte, die so viel Zeit damit vergeudeten, im Frederiksberg Park auf und ab zu gehen, nachdem es in aufgeklärten Kreisen Sitte geworden war, die Kinder mindestens eine Stunde am Tag an die frische Luft zu lassen.

Mit seinen weitläufigen, den englischen Landschaftsgärten des Rokoko nachempfundenen Anlagen erinnerte Willhofsgave sie nicht wenig an den Frederiksberg Park, und es amüsierte sie, wenn sie sich vorstellte, Hunderte von Kopenhagener Kindermädchen würden ihre Nähmaschinen dorthin mitbringen, um ihrer Handarbeit nachzugehen, während die Kinder herumtollten, anstatt die Wege plattzutreten und ihre Schuhe abzunutzen. Ein heimisches Gefühl vermittelten ihr auch die Schilder mit lateinischen Namen, die vor den Beeten, Büschen und Bäumen standen, genau wie im Botanischen Garten von Kopenhagen. Sie hätte sich nicht träumen lassen, dass es so etwas noch woanders gab als dort oder in den Grünanlagen von Frederiksberg.

Manchmal kam der Gärtner und legte den Kindern Obst auf den Gartentisch, und eines Tages hatte er einen Blumenstrauß für Vidde dabei. Sie hatte nie zuvor in ihrem Leben ein Bukett bekommen, stellte es in ein Marmeladenglas und nahm es mit auf ihr Zimmer. Die Verwalterin ärgerte sich: ein Blumenstrauß auf einem Dienstmädchenzimmer, so was hatte sie noch nie erlebt. Sie bat Vidde darum, das Glas zumindest so hinzustellen, dass man es von draußen nicht sehen konnte. Vidde hatte Schwierigkeiten, sie ernst zu nehmen, weil sie diesen sonderbaren jütländischen Dialekt sprach. Der Gärtner war ein schweigsamer Mann. Sie fragte sich manchmal, ob sich ihr Verhältnis zum Jütländischen ändern würde, wenn sich herausstellen sollte, dass auch er es sprach.

Später bekam Vidde noch reichlich Gelegenheit, in aller Ruhe darüber nachzudenken, ob sie in ihren geliebten Stadtteil Nyboder zurückziehen sollte, da wir im Winter immer vier Monate in Kopenhagen verbrachten. Ich nehme es als reine Schmeichelei, wenn sie sagt: «Das war unmöglich, Tyge, damals haben wir doch dich bekommen.»

Heute ist mein altes Kindermädchen über achtzig und gebrechlich. Mit derselben natürlichen Würde, mit der sie seit beinahe 50 Jahren ihren Platz als Faktotum und Betreuerin der zahlreichen Kinder unserer Familie ausfüllt, lässt sie sich auf dem Krankenlager von meiner Mutter betreuen. Sie will von niemandem sonst versorgt werden.

Das Vertrauensverhältnis der beiden Frauen wurde durch meine Geburt noch verstärkt. Die Unsicherheit und Verzweiflung meiner Mutter führte zu freimütigen Erörterungen und Handlungen wie unter Gleichgestellten. Jedenfalls schlug meine Mutter, wie Vidde mir berichtet hat, nach achtzehnjähriger gemeinschaftlicher Kindererziehung und Haushaltsführung vor, sich hinfort mit Sie und dem Vornamen anzureden.

Tanz der Zwerge

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