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«Schlechte Zeiten sind gute Zeiten ... Lasst uns ausgehen und Tyges Anstellung feiern.»

Mit diesen Worten lud mein Vater uns alle zum Abendessen ins Kopenhagener Palast Hotel ein, weil die zu Hause wohnenden Mitglieder meiner patriotisch gesinnten Familie, angeführt von dem in die Jahre gekommenen, aber immer noch stattlichen Erbhofbesitzerpaar sowie Andrea, Ebba, Franz und Gudrun sich in der Hauptstadt befanden, um Helge Rodes Wiedervereinigungsfestspiel «Die Mutter» am Königlichen Theater anzuschauen. Das war kurz nachdem ich meine Tätigkeit in der Nordkapelle aufgenommen hatte.

Ellinor wohnt in der Asmussens Allee ganz in meiner Nähe. Ich spendierte uns einen Mietwagen bis zum Theater, wo wir die anderen im Foyer trafen. Helmuth stieß erst während des Abendessens zu uns.

Das Palast Hotel galt lange Zeit als Treffpunkt des Landadels in der Hauptstadt, eine Tatsache, über die mein Vater bisher nachsichtig hinweggesehen hatte. Wenn er sich in der Hauptstadt aufhält, fühlt er sich als Kopenhagener und betrachtet sich selbst und seine Familie ohnehin als einzigartige Institution, die es nicht nötig hat, sich an besonders prestigeträchtigen Orten zu zeigen. Denn das Palast Hotel ist geschmacklos eingerichtet mit seinen seeländisch-bäuerlichen Möbeln, den künstlichen, nach Gas riechenden Kaminen und den hässlichen erdfarbenen Teppichen und Bezügen. In meiner Kindheit, als wir zunächst in der Wohnung meines verstorbenen Großvaters mütterlicherseits am Højbro Platz und danach in der Store Kongensgade wohnten, gingen wir selten aus. Später bevorzugte mein Vater das Hotel Phönix. Dass wir uns jetzt im Palast Hotel treffen, geschieht allein Helmuth zuliebe.

Wir haben unsere Plätze an der Tafel eingenommen, unsere Bestellungen aufgegeben und warten auf das Essen. Diese Szene fällt mir ein, weil sie ein gutes Beispiel für die Fähigkeit meiner Familie ist, aus den meisten Situationen das Beste herauszuholen. Meine Eltern führen das Wort, und ich spüre, dass der Westfriedhof für sie immer noch eine proletarische Aura besitzt. Zumindest wäre es für das Kopenhagener Geschlecht meiner Mutter im letzten Jahrhundert unvorstellbar gewesen, sich auf diesen Armenfriedhof verbannen zu lassen.

Ich verhalte mich ruhig, obwohl sie irren, als sie behaupten, es sei weniger attraktiv – und würde es auch immer sein –, auf dem Westfriedhof begraben zu werden als auf dem Assistenzfriedhof, wo der eigene Humus sich mit dem großer Geister vermischen könne. Ebba macht darauf aufmerksam, dass der Weingroßhändler Therkildsen, dessen Assistentin sie über mehrere Jahre gewesen ist, auf dem Westfriedhof begraben liege und dass sein Name sowie sein Grabmonument sicher jedem Friedhof zur Ehre gereichen würden.

Ich hingegen denke an die Pracht und Schönheit, die diesen Ort mit seinen riesigen Baumkronen, den seltenen Pflanzen und dem glitzernden Wasser ohnehin auszeichnen. Sie einigen sich schließlich darauf, dass es nicht ausnahmslos unbedeutende Menschen sind, die auf meinem Friedhof begraben liegen.

Meine Mutter weist darauf hin, dass Nathalie Zahle dort beigesetzt worden sei. Eine ihrer Nichten, die eine Schülerin Zahles gewesen sei, habe sogar am Begräbnis teilgenommen. Franz führt den Dichter Axel Juel ins Feld, und Ellinor hebt Kristian Zahrtmann hervor, der sie auf der Kunstakademie unterrichtet hat. Mein Vater lebt spürbar auf, als ihm einfällt, dass auch Wilhelm Bergsøe dort begraben liegt. Helmuth nickt wissend; sie haben ihn beide gekannt. Bergsøe war einer der jungen Wissenschaftler, die sich zur Zeit meines Großvaters auf Willhofsgave vorstellten und freundlich aufgenommen wurden.

«Hammershøi, nicht wahr, Tyge?»

Ich nicke Ellinor zu. Der Maler, sie hat Recht. Jetzt blickt mein Vater mich an.

«Niels Finsen! Bist du dir darüber im Klaren, Tyge, dass auch er dort liegt? Ein Jahr vor seinem Tod bekam er den Nobelpreis.»

Ich nicke und stimme ihm zu. Ich glaube, mein Kinn schiebt sich ganz von selbst nach vorne – sogar Nobelpreisträger!

«Ich erinnere mich an einen Zeitungsartikel, der in Verbindung mit Finsens Beisetzung von der Schönheit des Westfriedhofs handelte», fährt mein Vater fort.

«Du denkst an die überwältigende Beschreibung von Magister Viggo Bierring in Politiken. Die Landschaftsarchitekten müssen sich sehr gefreut haben», sagt Helmuth und übersieht den zurechtweisenden Blick meiner Schwestern.

«Die schönste Parkanlage der Stadt. Die landschaftlichen Gegebenheiten sind großartig einbezogen worden; man hat sogar einen Ausblick auf den Kai von Kalvebod. Alles ist geprägt von Gestaltungswillen und Fruchtbarkeit.» Helmuth drückt sich nur selten so begeistert aus.

Meine empfindsamen Schwestern, allen voran Andrea und Gudrun, schauen meinen Vater ängstlich an, der kurz vor sich hin grummelt und anschließend schweigt, weil er Politiken nicht ausstehen kann. Er hegt eine schwere Aversion gegen Georg Brandes, die er von seinem Vater übernommen hat, und räumt daher nur ungern ein, dass Politiken zu den Zeitungen gehört, die er regelmäßig liest. Ich habe einmal versucht, dieser Aversion auf den Grund zu gehen, und kann die Alten eigentlich gut verstehen. Eine von Brandes’ ersten Veröffentlichungen war eine kritische Betrachtung der neuen naturwissenschaftlichen Weltsicht, der er den frommen Glauben an Gott und das Übernatürliche entgegensetzte. Natürlich erzürnte das meinen Großvater. Punkt für Punkt nahm Brandes alles freudig aufs Korn, wofür das Geschlecht der Willhof-Holms stand. Mein Vater hat mit dieser ererbten Aversion seine Schwierigkeiten, denn er stimmt mit Brandes in vielem überein und bewundert insgeheim die Verachtung des alten Revolutionärs für die Oberflächlichkeit unserer Zeit.

In den Augen meines Vaters sehe ich kurz Duldung, wenn nicht gar Zustimmung dazu aufblitzen, dass der Zorn auf Brandes und dessen völlig unsinnige Weiterleitung auf Politiken sich nicht auf Helmuth übertragen hat. Er räuspert sich, während er seinen Blick zu mir wandern lässt. Ich könnte gut und gerne einiges über Brandes äußern, den ich sehr bewundere, aber der Zeitpunkt ist wohl nicht gerade der günstigste.

«Hast du überhaupt einen Blick für all die Gräber dieser Berühmtheiten, oder gehst du mit Scheuklappen über den Friedhof, Tyge?»

«Die Gräber in der Nähe der Kapelle sehe ich täglich. Ansonsten ist ja noch alles ziemlich neu für mich. Aber wenn das Wetter besser wird, will ich mich natürlich mal gründlich umsehen. Ich bin neulich in der Bierstube beim Materialdepot auf ein Pils eingeladen worden und ...»

Andrea beugt sich ungläubig nach vorne und schaut mich vorwurfsvoll an, was an den Augenbrauen meines Vaters liegt, die nach oben geschnellt sind. Ich amüsiere mich im Stillen und fahre fort:

«... bin direkt an der Grabstelle von Emil Johansen vorbeigekommen.»

«Ah, der berühmte Gärungsphysiologe von Carlsberg.»

Mein Vater schaut zu meiner Mutter, die erklärt, ihr Vater habe Johansen aus der Wissenschaftlichen Gesellschaft sehr gut gekannt.

Helmut lehnt sich über den Tisch und schaut mir in die Augen.

«Dann hast du sicher auch bemerkt, wie groß Herman Bangs Blutbuche geworden ist. Ich war ganz schön erstaunt, als ich letztes Mal dort war. Stell dir vor, in weniger als zehn Jahren.»

Jetzt bin ich es, der sich wundert. Ich hatte keine Ahnung, dass Helmuth den Westfriedhof aufsucht.

Mein Vater ergreift hastig das Wort und fasst zusammen, man müsse trotz allem konstatieren, dass der Westfriedhof sich in den letzten fünfzig Jahren zu einer bemerkenswerten Friedhofsstätte entwickelt habe. Er sieht mich aufgeräumt an.

«Du hast bestimmt einige begabte Kollegen, ich meine Organisten, bekommen; du pflegst doch sicher nicht nur Umgang mit den Arbeitern in der Bierstube.»

«Ich habe sie noch nicht näher kennen gelernt – zwei Stockblinde, ein Halbblinder und einer mit Buckel.»

Ellinor, meine Allegro-Schwester, geht auf mich los:

«Verschone uns mit deiner vulgären Ausdrucksweise, Tyge, dafür gibt es bestimmt griechische oder lateinische Namen.»

Ihre Augen blitzen, während sie meinen Vater ansieht, der todernst, ohne davon Notiz zu nehmen, dass wir anderen zu lachen anfangen, sagt:

«Kyphose für Buckel.»

«Amaurosis für Blindheit», ergänzt Helmuth.

Jetzt prusten wir los, sogar Andrea. Helmuth ist meinem Vater in seinem Ehrgeiz, auf alles eine Antwort zu wissen, vollkommen gleich geworden. Er ist sich darüber völlig im Klaren und stimmt in unser Lachen ein.

Rasch haben sich unsere beiden wandelnden Lexika dem Lachen ergeben – die Szene könnte sich genauso gut zu Hause im Speisezimmer abgespielt haben –, während ein Kellner des Palast Hotels äußerst diskret vor sich hin summt und unsere Teller zum Serviertisch trägt, auf dem eine kleine aufrechte Spiritusflamme unter der großen Schüssel mit dem Essen lodert. Der Kellner lässt sich Zeit und genießt die Situation. Wir sind keine ungeduldigen Gäste, sondern können uns unendlich lange in unserer eigenen Gesellschaft amüsieren, wenn wir das richtige Thema gefunden haben. Die Diskussionen beim Abendessen kreisen oft um die Bedeutung von Wörtern, und alle kennen nur zu gut den Klang von Vaters Stimme, wenn er sagt: «Das schlagen wir besser gleich nach. Hol mal den Molbech (oder die Lexika von Meyer, Arlaud, der Wissenschaftlichen Gesellschaft oder Müllers Synonymwörterbuch etc.); er steht im ersten Zimmer, drittes Regal von unten, links von der Tür, ein wenig nach hinten gerutscht ...» Meine Mutter schlägt lachend vor, er solle doch direkt unter dem Esstisch ein Regal für die Nachschlagewerke anbringen lassen. Früher war diese Neigung natürlich noch ausgeprägter. Inzwischen hat sich eine gewisse Ermüdung meines Vaters bemächtigt, die gleichsam im Takt mit dem wachsenden, inzwischen beträchtlichen Wissen der Kinder zunimmt.

Die Aufmerksamkeit meines Vaters richtet sich auf mögliche Ergänzungen meinerseits, aber wir warten ab, bis der letzte seinen Teller bekommen hat, um mit dem Essen beginnen zu können.

«Es gibt auch einen weiblichen Organisten, doch was mit ihr nicht stimmt, außer dass sie ledig ist, hab ich noch nicht herausgefunden.»

«Jetzt gehst du zu weit, Tyge», sagen die Augen meiner Mutter, während ihr Mund uns zum Essen auffordert.

Die Augen der anderen plappern die stumme Replik meiner Mutter nach. Ellinor beugt sich weit über den Teller, um ihr Grinsen zu verbergen.

Wir brauchen nicht lange, bevor wir das Gespräch wieder aufnehmen, während wir essen. Andrea ist in der Regel nicht besonders hungrig, also ergreift sie die Gelegenheit, gleich in den ersten Minuten etwas zu sagen, ohne unterbrochen zu werden. Sie beugt sich über den Tisch und berichtet Helmuth von Johannes Poulsens ergreifender Darstellung als Narr.

Helmuth nickt und verspricht, sich die Vorstellung gleich in den nächsten Tagen anzusehen. Andrea erzählt von der Bitterkeit und Rohheit, die Poulsen zum Ausdruck bringe. Besonders bei einem Lied, das soweit sie sich erinnere Der Hass ist stärker heiße.

«Ich habe vor Freude gezittert, als er es gesungen hat», sagt Franz und hält sich die Hand vor den vollen Mund.

«Mir hat das nicht gefallen», entgegnet Gudrun. «Ich finde, man sollte dem Hass kein Loblied singen.»

Ich nicke ihr zu; so hätte Edith das auch gesagt.

Andrea schaut sich ärgerlich um und beginnt zu essen, während ihr Blick zu meiner Mutter wandert, die gerade zu Ende kaut, um danach etwas zu sagen.

«Aber die anderen Lieder ... wie Eine reiselustige Flotte, glaubt mir, das kommt eines Tages in das Gesangbuch der Volkshochschule.»

Niemand hat Lust, ihr zu widersprechen. Einer ihrer Brüder war als Redakteur für das Liederbuch verantwortlich.

«Eine leichte und eingängige Melodie von Carl Nielsen, nicht wahr, Tyge?» Ich nicke Ellinor zu und sage:

«Das zweite Lied: Mein Mädchen ist so hell wie Bernstein, habt ihr das bemerkt, ich meine den Text?»

Ich schaue mich nach einer Reaktion um.

Mein Vater summt den Refrain mit geschlossenem Mund. Beinahe richtig. Von ihm habe ich meine Begabung. Meine Mutter hingegen ist völlig unmusikalisch. Dafür besitzt sie ein unglaubliches Gedächtnis und fügt den Melodiefetzen meines Vaters, die ich im Stillen korrigiere, die gesprochenen Worte hinzu: «Prinzessin Tove von Dänemark.»

«Die Symbolik ist kostbar», meint mein Vater.

Ich berichte, während alle zuhören, dass Rode von einer Nichte namens Tove zu diesem Text inspiriert worden ist, die er sehr gern gehabt hat.

Meine Schwestern Ellinor, Gudrun und Ebba sind gerührt, meine Mutter schaut skeptisch drein, und Andrea wirft mit allen Zeichen der Missbilligung die Frage auf, ob man so etwas tun dürfe. Franz ist ganz Ohr, weil es sich um ihr Gebiet handelt, die Kunst des Schreibens und das lebende Vorbild.

Mein Vater lässt verblüfft Messer und Gabel sinken. Selbst hat er niemals davor zurückgeschreckt, seine Töchter in gewissem Sinne als Königskinder zu betrachten.

«Ich finde das dann doch ein wenig zu persönlich. Dieses Kind kam wohl aus einer ganz besonderen Familie.»

«Ach komm, Hans Helmuth», sagt meine Mutter nachsichtig. «In allen Schichten und Klassen werden die Kinder liebevoll als Prinzen und Prinzessinnen bezeichnet.»

«Na dann prost», sagt mein Vater beschwingt und mit einem Zwinkern. Er hebt sein Glas und schaut in die Runde, wobei er mit jedem einzelnen Blickkontakt aufnimmt.

«Zum Wohl, meine lieben Kinder, und denkt daran, dass manche mit mehr Berechtigung Prinzen und Prinzessinnen genannt werden als andere.»

Wir lächeln milde; seine Überheblichkeit ist erklärlich und entschuldbar.

Tanz der Zwerge

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