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Für einen Augenblick hänge ich meinen Gedanken nach, während ich mit dem Brief in der Hand dasitze. Ich lächle bei der Vorstellung, Ellinor, Helmuth und ich könnten gemeinsam auf Willhofsgave eintreffen, obwohl ich fast sicher bin, dass Helmuth einen Grund finden wird, Samstag oder Montag zu reisen; die goldene Hochzeit findet erst am Mittwoch statt.

Abgesehen von den Malen, als wir mit einigen seiner Freunde das Schiff genommen haben, sind Helmuth und ich, glaube ich, niemals gemeinsam gereist. Er ist extrem eitel und findet offenbar nicht, dass ihm der halbe Meter, den er größer ist als ich, in meiner Gesellschaft zum Vorteil gereicht. Im Gegensatz zu Olaf scheint ihn meine Gegenwart zu irritieren, und er lässt sich nur selten mit mir in der Öffentlichkeit blicken.

Früher bin ich wiederholt krank gewesen: die Atemwege, das Mittelohr, die Bronchien – was mit meinem Körperbau und der Deformität meiner Knochen zusammenhängt. Doch seit ich in der Nordkapelle begonnen habe – und jetzt klopfe ich auf den Holztisch, dass die Teetasse tanzen würde, wenn Anna Lovinda sie noch nicht abgeräumt hätte –, habe ich keine Beschwerden mehr verspürt, die eine Pflege oder Behandlung über die wöchentliche Massage hinaus erforderlich gemacht hätten; nur ein wenig Rücken- oder Lendenschmerzen, die ich heute wesentlich besser wegstecke als früher.

Nachdem ich hier in der Stadt jahrelang in einer Pension gelebt habe, genauso wie vor dem Krieg in Leipzig und später in Stockholm, bewohnte ich jetzt ein Zimmer am Maglekildevej in relativer Nähe zum Rolighedsvej und in unmittelbarer Nachbarschaft zur Asmussens Allee. Meine unnützen Studien gab ich allmählich auf und begann stattdessen eine Reihe einträglicher Tätigkeiten – als Klavierstimmer, Violin- und Klavierlehrer sowie als Aushilfe in der Kirche –, um nicht für alle Zeit auf die einförmigen Mahlzeiten meiner Wirtinnen angewiesen zu sein, sondern auch einmal ein gemütliches Restaurant besuchen zu können.

Sowohl Ellinor als auch Ebba, die inzwischen wieder zu Hause sind, damals aber am Bülowvej wohnten und als Bürokraft beim Weingroßhändler Therkildsen arbeiteten, standen mir in schwierigen Zeiten zur Seite, leisteten mir Gesellschaft und pflegten mich. Ellinor hat mir damals angeboten, zu ihr zu ziehen, aber das hätte ihr Leben und ihren Alltag zu sehr eingeschränkt. Außerdem machte mir die Vorstellung Angst, meine Hilflosigkeit könnte zunehmen, wenn ich mich dermaßen in Abhängigkeit begäbe.

Auch Helmuth saß ab und zu bei mir, spielte auf meinem alten Harmonium, sprach mit mir und unterstützte meinen Plan, die Organistenprüfung abzulegen. Er war damals in sehr schlechter Verfassung; es war unmittelbar nach dem Bruch mit Olaf. Ich glaube, er versuchte, den Verlust zu verarbeiten, indem er ihn mit mir teilte, obwohl er die Angelegenheit niemals direkt ansprach. Damals begriff ich, dass wir – meine Eltern, meine Schwestern und ich – uns gewaltig irrten, als wir glaubten, Olaf genauso stark und auf dieselbe Weise zu vermissen, wie es Helmuth tat. Ich spürte, dass sein Verlustgefühl einen ganz anderen, beinahe zersetzenden Charakter besaß. Helmuth wusste, dass Olaf nur zu mir eine gewisse Verbindung aufrechterhalten hatte, konnte sich aber nicht überwinden, direkt nach ihm zu fragen, und seine Hemmungen übertrugen sich insofern auf mich, als es auch mir unmöglich wurde, die Sprache auf Olaf zu bringen, obgleich ich spürte, dass es das Einzige war, woran er dachte. Ich glaube, das sind die stärksten Empfindungen, mit denen ich jemals Bekanntschaft gemacht habe; ich selbst habe nie etwas Vergleichbares erlebt.

Damals entdeckte ich zum ersten Mal die leidenschaftliche und passionierte Seite von Helmuth, und an der orientiere ich mich, weil er als einziges meiner Geschwister in der Lage war, eine dauerhafte Bindung zu einem Menschen außerhalb der Familie aufzubauen. Obwohl er mich zurückweist, erkenne ich doch seine Fähigkeit, einen anderen Menschen zu lieben.

Jahrelang habe ich die Einsamkeit als natürliche Begleiterscheinung meines Lebens akzeptiert. Jetzt halte ich Augen und Ohren offen. Mit Helmuth als Vorbild habe ich den festen Glauben gewonnen, dass meine Zeit kommen wird und die leidenschaftliche und passionierte Seite in mir kurz vor der Blüte steht. Helmuth existiert und ist mein Bruder, das ist alles, was zählt, also spielt es keine Rolle, dass er sich, physisch gesehen, meist außerhalb meiner Reichweite aufhält.

Gudruns hübsche Handschrift bringt mich zum Lächeln. Vielleicht ist es aber auch der Anblick unserer beider Namen – «An Helmuth und Tyge!» –, der mich beglückt. Die meisten Briefe von Zuhause sind an Helmuth adressiert und werden dann an mich weitergegeben, um Briefmarken zu sparen.

Ebba fängt immer so an wie Gudrun, wenngleich ihre routinierte Sekretärinnenhandschrift einen ziemlich unpersönlichen Eindruck macht. Andrea wendet sich stets ausschließlich an Helmuth, um dann im Postskriptum hinzuzufügen: «Der Brief ist auch für Tyge bestimmt.»

Ich falte den Brief auseinander. Natürlich wird Helmut zuerst erwähnt, er ist ja auch der Älteste. Franz macht da eine Ausnahme und setzt mich immer an die erste Stelle. Ich weiß nicht warum. Nach der Reihenfolge des Alphabets ist das nicht korrekt. Sie stellt die Dinge gern auf den Kopf. Manchmal schreibt sie mir persönlich, genauso wie meine Eltern; ich habe doch trotz allem mehr Zeit als Helmuth, mich der Korrespondenz zu widmen. Ob er überhaupt mal nach Hause schreibt, weiß ich nicht. Für gewöhnlich notiert er auf der Rückseite der Umschläge, die er mir gibt: Ich rechne damit, dass du zurückschreibst und Grüße von mir bestellst. Diesmal steht gar nichts da, wir werden sie ja schließlich bald sehen.

Der Brief ist lang und im Plauderton gehalten. Andreas achtundvierzigster Geburtstag verlief nicht anders als die vorangegangenen Geburtstage auch. So ist es gewesen, seit ich denken kann. Der Höhepunkt des Tages ist erreicht, wenn sich alle, unter der Führung meines Vaters, in Richtung Fjord begeben, um den ersten Kiebitz des Jahres zu begrüßen. So war es von Kindesbeinen an ...

Mein Vater weiht die Sommersaison mit seinem Panamahut ein, der mit seinem schwarzen Band fast so aussieht wie der meiner Mutter. Er hat das Geburtstagskind untergefasst; ich laufe fröstelnd neben ihnen her und trage einen Matrosenanzug, den wir in einem Kellergeschäft am Holmens Kanal für den Sommer erstanden haben.

Sie berichtet von den Vorbereitungen zur goldenen Hochzeit: Es wird ein einfaches Mittagessen für wenige Gäste geben. Vater und Mutter wollen im Grunde keinen großen Aufwand. Erinnerst du dich, schreibt sie, an ihre silberne Hochzeit? Damals hatten wir noch allen Grund zu feiern.

Danach geht es um die Gesundheit im Allgemeinen und im Besonderen darum, dass Franciska sich als Dichterin nicht anerkannt fühlt. Schließlich schreibt sie von Vidde, von der alle auf Willhofsgave glauben, dass sie bald ihre Augen zum letzten Mal schließen wird, nachdem sie 49 Jahre lang im Kreis der Familie gelebt hat.

Zu Weihnachten hatte sie einen Herzanfall – «eine Hummerschere um mein Herz», wie sie sich ausdrückte. Ich ging zu ihr hinunter, nachdem sie wieder zu sich gekommen war. Sie blickte verschmitzt zu mir auf und sagte: «Ein schönes Fiasko.» Bis zu meiner Abreise an Neujahr war sie wieder obenauf und thronte in ihrem Zimmer.

«Vidde ist verwirrt», teilt Gudrun mit. «Mutter kümmert sich selbst um sie, doch sie glaubt, es sei ihre eigene Mutter, die sie umsorgt. Sie spricht, besser gesagt, phantasiert von ihrem eigenen kleinen Jungen, doch ich weiß nicht, liebe Brüder, wen von euch sie damit meint. Darum müsst ihr euch schlagen.»

Das steht für mich völlig außer Frage. Wie kann Gudrun nur so dumm sein. In meinen Augen war Vidde gegenüber Helmuth immer ein wenig reserviert, obgleich er der unmittelbare Anlass war, dass sie ihr Leben an unsere Familie knüpfte. Er war bereits ein erwachsener Mann, bevor ich als Zeuge auf den Plan trat. Doch ich war noch nicht besonders alt, als ich begriff, dass Olaf die Ursache dafür war, dass sie Helmuth nicht leiden konnte. Ich glaube, sie war durch ihre pragmatische Veranlagung ganz einfach der Ansicht, solch ein bühnenerfahrener Charmeur sei für meine Schwestern nicht der geeignete Umgang. Später hat mir Vidde erzählt, sie habe sich darüber aufgeregt, dass er ihnen den Hof machte, ohne ernste Absichten zu verfolgen.

«Du erinnerst dich doch sicher daran, wie die jungen Herren im Sommer mit den Mädchen im Garten herumtollten, mit Kleinkalibergewehren auf Zielscheiben schossen, Krocket spielten oder die Sterne betrachteten. Alles sollte sehr romantisch sein. Die armen Mädchen waren über Helmuths und Olafs Aufmerksamkeit schier aus dem Häuschen. Doch wenn es dämmerte und man die schummrigen Gartenwege entlangschlenderte, kleiner Tyge, dann gingen die Freunde immer Schulter an Schulter, während die Mädchen sich paarweise an den Händen hielten. Jammerschade war das. Glaub mir, ich kenne mich aus mit enttäuschten Mädchenherzen.»

Es läutet an der Tür; ich lege den Brief hin ...

Anna Lovinda ist zur Haustür gegangen. Draußen steht ein Bote von der Kapelle. Ich bitte sie, ihn hereinzulassen.

Er überbringt einen Liederwunsch für die Beerdigung am Samstag: Bist du mutlos, lieber Freund mit einer neuen Melodie. Die Musik ist mir unbekannt, doch kenne ich Carl Nielsen gut genug, um zu ahnen, dass mir knifflige Hausaufgaben bevorstehen. Vermutlich muss ich das ganze Stück von As-Dur nach G-Dur transponieren, um es bewältigen zu können. In Gedanken mache ich mich schon auf den Weg zum Musikverlag, als der Bote mir die Noten überreicht.

«Es handelt sich um den Schiffsmakler Johan Hermann Schoubo. Der Herr Schiffsmakler hat es anscheinend selbst so verfügt», erklärt er bereitwillig.

«Danke, mein Freund, wie umsichtig von dem Verstorbenen.»

Ich wühle in meinen Taschen und finde ein Fünfundzwanzigöre-Stück für ihn. Er führt die Finger zum Gruß an seine Mütze, aber vergebens, denn die Mütze hält er in der Hand, dann macht er einen Diener und lässt sich von Anna Lovinda hinausbegleiten.

Ich stehe auf und lege die Noten auf den Flügel, bevor ich mich wieder dem Brief zuwende. Gudrun ist über Viddes Zustand betrübt. Ich merke ihren Zeilen an, dass sie den Tränen nahe ist. Es stimme sie traurig, schreibt sie, dass wir bei dem großen Ereignis, welches die goldene Hochzeit unserer Eltern darstelle, nicht vollzählig zugegen seien.

«Ich spüre, dass Vater und Mutter in diesen Tagen besonders viel an Edith und Charlotte denken. Im Moment scheint es so, als würden sie Tag für Tag älter werden, was sie natürlich auch tun, aber ihr versteht sicher, was ich meine.»

Sie wünscht uns eine gute Reise und hofft auf ein frohes Wiedersehen. Im Postskriptum fragt sie, ob wir uns daran erinnern, dass Vidde immer sagte: «Spar dir deine Tränen, bis du verheiratet bist.»

Tanz der Zwerge

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