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Gibt es ein Paradies auf Erden, dann ist es Willhofsgave, mein Geburtsort. Einen so intensiven Vogelgesang im Mai, wie ich ihn auf dem Westfriedhof erlebe, kenne ich sonst nur von zu Hause. Zur Zeit denke ich täglich daran. Unabhängig davon, ob es feucht oder kalt ist, wie im Moment, singen die Vögel zuverlässig, sobald die entsprechenden Lichtverhältnisse eingetreten sind.

Nachdem der letzte blumengeschmückte Sarg hinausgetragen worden war, zog ich mich so weit auf die Orgelbank zurück, bis die Füße das Pedal nicht mehr erreichten, und starrte gedankenverloren in den leeren Spiegel.

Plötzlich stieg der Gesang der Vögel, der durch das offene Portal drang, zu mir herauf und erreichte mich mit einem Duft nach grüner Kühle und süßen Lilien, erweckte meine Sinne und meine Entschlusskraft.

Rasch zog ich meine Musizierschuhe aus – eine Sonderanfertigung meines orthopädischen Schusters mit einem eingebauten, fünf Zentimeter hohen Absatz und glatten Ledersohlen, die über das Pedal gleiten können –, sprang in meine Straßenschuhe und holte am Eingang den Küster ein, um mich nach dem Namen des Verstorbenen vom vorletzten Begräbnis zu erkundigen.

Das Verwaltungsbüro des Friedhofs suche ich nur auf, wenn ich meinen Lohn abhole. Alle praktischen Dinge werden von Angestellten in den kleinen Büros der einzelnen Kapellen erledigt. Für gewöhnlich erhalten die Organisten einen Zettel mit der Uhrzeit und den Nummern der Lieder, womit sich die Begräbnisse für mich auf eine Zahlenreihe und eine unendliche Wiederholung derselben zwanzig bis dreißig Lieder reduzieren. Eine äußerst bescheidene Aufgabe, könnte man meinen, sofern man nicht die Herausforderung annimmt, das Arrangement zu verändern, Variationen einzuflechten und so aus dem musikalischen Vortrag etwas Besonderes zu machen. Raum dafür gibt es reichlich, die meisten Begräbnislieder kennt man auswendig.

Als ich den Namen des Küsters ein zweites Mal rief, blieb er stehen. Ich stand so dicht vor ihm, dass er einen Schritt zurücktreten musste, um mich besser sehen zu können. Für einen Augenblick begegneten sich sein träger und mein strahlender Blick. Die Leute haben oft von vornherein keine Lust, mit mir zu sprechen. Sie müssen sich ausschließlich an meine Worte halten, weil sie meinem Gesicht, dessen Züge ihnen fremd sind, nichts entnehmen können.

«Daran erinnere ich mich nicht. Die Unterlagen habe ich im Büro abgeliefert.»

Ich konnte unschwer erkennen, dass ich durch meinen Eifer seine Neugierde geweckt hatte, also verhielt ich mich abwartend, bis er nachfragte:

«Ist irgendwas Besonderes, Herr Willhof-Holm?»

Ich wurde von einer plötzlichen Verlegenheit überrumpelt, die es mir unmöglich machte, auch nur ein Wort hervorzubringen, bevor er bereitwillig fortfuhr:

«Ich kann mich bis morgen danach erkundigen.»

«Das wäre sehr freundlich von Ihnen. Unter den Trauergästen befand sich ein Bekannter von mir, womöglich ein entfernter Verwandter, wenn Sie verstehen, was ich meine.»

Mit einer leichten Verbeugung und nochmaligem Dank verließ ich ihn.

Ich spürte, dass seine Augen mir folgten, während ich mich entfernte. Er blieb lange am Portal stehen. Meinen leicht watschelnden Gang sind sie gewohnt, und besonders o-beinig bin ich für einen Zwerg auch nicht – er machte sich wohl eher Gedanken darüber, dass ich offensichtlich so weit verzweigte Bekanntschaften und entfernte Verwandte besaß, dass ich nicht einmal mit Sicherheit wusste, ob sie an einem Begräbnis in meiner Kapelle teilnahmen.

Ich frage mich, ob mein heutiges Erlebnis stark genug ist, um eine Reise nach Jütland zu überstehen. Ich hoffe, der Küster nimmt meine Worte ernst und wird mir morgen den Namen mitteilen.

In der nächsten Woche, vielleicht schon am Sonntag, werde ich zur goldenen Hochzeit meiner Eltern nach Hause fahren. Im Moment bin ich über den Anblick im Spiegel noch so aus dem Häuschen, dass mich nichts davon abhalten könnte, die Frau, deren Profil sich mir so tief eingeprägt hat, zu besuchen. Hätte ich nur den geringsten Fingerzeig, würde ich ihm unverzüglich folgen.

Wie lange wird das Feuer brennen? Ich bin selten so empfänglich für Gefühlserschütterungen, weiß aber, dass die Dinge, die mit der größten Leichtigkeit zu einem kommen, auch mit der größten Leichtigkeit wieder verschwinden.

Tanz der Zwerge

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