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In der Willhof-Holm-Familie war die Begeisterung ganz auf meiner Seite, als ich den bürgerlichen Beruf des Organisten ergriff und dieses halb geistliche Amt für ein festes Gehalt von 1800 Kronen jährlich zuzüglich 4 Kronen und 82 Öre für jeden Gottesdienst antrat.

Wir Mitglieder der hauptstädtischen Friedhofsverwaltung sind die am besten bezahlten Organisten des Landes, gleich nach den Domorganisten. Ich bin – im Gegensatz zu meinem früheren Lehrer Thorvald Nielsen, Organist und Kantor der Frederiksberg Kirche – nicht mehr darauf angewiesen zu unterrichten, Klaviere zu stimmen und Vertretungen zu übernehmen. Über die finanzielle Seite dieser Angelegenheit habe ich meiner Familie wohlweislich nicht allzu detailliert Rechenschaft abgelegt.

«Friedhofsverwaltung!»

Das Gesicht meines Vaters wurde weißer als sein Haar. Hinter dem faltigen Pergament seiner Haut wurden seine beschwörenden Prognosen über meine glänzenden Zukunftsaussichten als Künstler unkenntlich und sein unerschütterlicher Glaube an meine besondere musikalische Begabung und meine offenkundige Fähigkeit, die Wirklichkeit zur Kulisse zu degradieren, völlig sinnlos. Der Wirklichkeit und dem Leben am nächsten ist – gleich nach der Geburt – der Tod.

Mit meiner Anstellung hatte ich ihm den letzten Rest seiner immer realitätsferneren Träumereien bezüglich meiner Solistenlaufbahn ausgetrieben und seine vage Hoffnung begraben, mein Talent könne ein Gebrechen in eine unbedeutende Beeinträchtigung künstlerischer Hochleistung verwandeln. Außerdem hatte ich seinen Status als mein Mäzen untergraben.

Gewisse pekuniäre Umstände, die mit heute weniger denn je überschaubaren finanziellen Schwierigkeiten meiner Familie zusammenhängen, zwangen mich vor zwei Jahren, die Organistenprüfung abzulegen und eine Stelle anzutreten. Ein Beleg meines Savoir-faire.

Bis zu meinem neunundzwanzigsten Lebensjahr hatte ich dazu beigetragen, die Illusion meines Vaters über seinen konzertierenden Sohn zu nähren. Doch mein Leben ist keine Illusion. Ich lebe, und es ist eine Tatsache, dass heute ein Frauenprofil in den Spiegel über der Orgel hineinglitt und dass dessen Anblick eine Wärme erzeugt, die aus allen Körperteilen zusammenfließt und mein Herz umschließt.

Die Gesichtshaut meines Vaters hat wieder Farbe angenommen. Er weiß nur zu gut, dass Erkenntnis Erfahrung voraussetzt und Einsicht nach der Erkenntnis kommt. Was für Erkenntnisse er nach seiner unmittelbaren Reaktion gewann, als ich meinen Rückzug aus den Reihen potenzieller Schöngeister kundtat, weiß ich nicht.

Doch ich freute mich – gemeinsam mit meiner Mutter und meinen zu Hause wohnenden Schwestern – während der gesamten, über das Wasser führenden Fahrt nach Willhofsgave darüber, dass mein Vater in seinem hohen Alter mit verblüffender Vitalität seine philosophischen Studien wieder aufnahm. Die Werke seines Jugendfreunds Harald Høffding über die Einheit und Kontinuität des Bewusstseins wurden im Lichte der neuen Situation repetiert und bearbeitet. Besonderes Gewicht lag auf dem psychophysischen Parallelismus, den er schon in ganz jungen Jahren mit Høffding zusammen bei Spinoza studiert hatte und der ihn zu Beginn der neunziger Jahre, als ich ein Säugling war, erneut beschäftigte. Aus den heimischen Bulletins lernte ich, dass der alte Mann immer noch nicht immun war gegen das Allheilmittel, sich in philosophische oder literarische Dinge zu vertiefen, um Licht in das Dunkel zu bringen.

Obwohl ich meinem Vater immer wieder beteuert habe, mein Talent ganz und gar ausgeschöpft zu haben, wird er insgeheim bis ans Ende seines Lebens über die Kollision meiner Behinderung mit meinen Karrierechancen nachgrübeln und zu der Ansicht neigen, die Behinderung hätte diese beeinträchtigt. Natürlich hat es eine Kollision gegeben, doch ich finde es sinnlos, mich mit Mutmaßungen abzuplagen, welche Teile meiner Persönlichkeit anderen Teilen eventuell im Weg gestanden haben könnten.

Ich halte mich an einen interessanten Gedanken von Grundtvig über Körper und Geist, der mir manchmal in den Sinn kommt, obwohl mein Vater alles, was von diesem Mann stammt, als «unwissenschaftliches Geschwätz» bezeichnet: «Vielleicht war er ein Dichter; ein Denker war er jedenfalls nicht. In diesem Herrn steckte zu viel Materie und zu wenig Geist.»

Betreten habe ich gehört, wie er viele von Grundtvigs Kirchenliedern ohne den Respekt und die Großherzigkeit zerpflückt hat, die ihn sonst auszeichnen und die er seinen Kindern so erfolgreich vermittelt hat. So einen Quatsch, sagt er, hat man in Dänemark nie zuvor gehört, zum Beispiel, dass der Bauer vom Licht der Aufklärung durchdrungen sei, weil er gemeinsam mit der Sonne aufstehe, und dass der Bauerntrampel im Gegensatz zum Gelehrten einen Geist wie das Nordlicht habe.

Ich finde, Estrups phantasielose Kabinettspolitik passt einfach nicht zu meinem Vater. Dennoch war er über viele Jahre ein eingefleischter Estrup-Anhänger und teilte dessen Standpunkt, das allgemeine Wahlrecht sei eine Torheit. Von meinem Urgroßvater weiß ich genug, um mir vorstellen zu können, dass er sich im Grab herumdrehen würde, wenn ihm diese Anschauung des dritten Erbhofbesitzers zu Ohren käme. Auch mein Großvater wäre nicht gerade stolz auf den politischen Sinneswandel seines Sohnes.

Ich sehe meinen Vater das Gesangbuch mit allen Zeichen der Missbilligung zuschlagen und den Vorgängen um ihn herum den Rücken zukehren, wenn in der heimischen Kirche Grundtvig gesungen wird. Er wendet sich also, um es einmal so auszudrücken, ziemlich oft ab.

Dass mein Geschlecht sich über vier Generationen auf Willhofsgave halten konnte, beruht auf einer ausgewogenen Mischung von Geist und Materie. In meiner Generation hat, wie ich finde, der Geist überhand genommen. So wie ich meine Ahnen durch Studien und die Privatdokumente des Gutshofs kennen gelernt habe, wären sie darin völlig einer Meinung mit mir.

Für meinen Vater spricht, dass er sich sein ganzes Leben lang, zuerst als junger Hoferbe und später als Erbhofbesitzer, in die Enge getrieben fühlte und stellvertretend für die Familie um den Besitz des Gutes fürchten musste. Das ist keine Vermutung, sondern eine Tatsache.

Tanz der Zwerge

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