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In der griechischen Mythologie sind die Plejaden sieben schöne Töchter, die durch den Wald wanderten, als sie von Orion, einem mächtigen und furchtlosen Jäger mit ganz normalen menschlichen Eigenschaften, entdeckt wurden. Sobald er sie erblickt hatte, begann er sie aus Motiven zu jagen, die alles andere als edel zu nennen waren. Die Plejaden flohen, und Orion setzte ihnen nach. Vom Olymp aus griff Zeus ein und rettete ihre Tugend, indem er sie in Sterne verwandelte.

Um die Wahrheit zu sagen, war der mächtige Orion meinen Schwestern nur in sehr begrenztem Umfang auf den Fersen. Ich habe den Eindruck, dass sich die Jagd – wenn ich so sagen darf – auf einige wenige Male in der Saison beschränkte. Ellinor ist da die große Ausnahme, auch außerhalb der Jagdsaison. Andrea hat sicher niemals das Verlangen eines Mannes geweckt, und schon die Vorstellung, sie könne sich vor einem Begehrenden auf der Flucht befinden, amüsiert mich. Die Zwillinge, Ebba und Charlotte, haben in meiner Vorstellung des Waldes ebenfalls keinen Platz; ich finde darin weder Jäger noch Mädchen.

Und die anderen? Was die Männer in einem Augenblick erreicht zu haben glauben, verblasst kurz darauf im Sternennebel, und auf längere Sicht kenne ich die Antwort: nichts.

Mir reichten sie ihre Hände, mich küssten sie und zogen mich in ihr Leben hinein. Dennoch blieb der impressionistische Eindruck einer hoch über mir schwebenden Ansammlung leuchtender Sterne. Wenn ich mich in ihrer Reichweite befinde, strahlt mich ihr Licht an, doch man kann es nicht erreichen, zu fassen bekommen und festhalten. Als Erwachsener habe ich begriffen, dass ich das Los all derer teile, die ihnen zu nahe kommen, und habe erkannt, dass der Weg von hier zu den Sternen stets unendlich weit ist, ob man nun ein oder zwei Meter groß ist. Der Panzer des Käfers auf dem Sockel der Freiheitsgöttin kann vom Sternenschein genauso erhellt werden wie der höchste Punkt ihres Scheitels. Will er mehr erreichen, kann er sich fortbewegen, was der Sockel, der Scheitel und die gesamte Göttin nicht können. Meine Möglichkeiten sind nicht geringer als die anderer, um «der weiblichen Sterne schmale Wolkenbahn» zu erreichen, als welche Manilius die Plejaden im 1. Jahrhundert vor Christus bezeichnete.

In einem Buch über Astronomie habe ich gelesen: «Wir können offene Sternenhaufen nicht als Phänomene von Dauer betrachten. Ihre Sterne haben vermutlich denselben Ursprung, sind aber nur lose miteinander verbunden und werden sicherlich von der Anziehungskraft benachbarter Sterne beeinflusst, die dem Verbund nicht angehören. Außerdem könnte ein Stern des Haufens eine ausreichend hohe Geschwindigkeit entwickeln, um aus dem Verbund auszubrechen und sich von diesem zu lösen.»

So eine hohe Geschwindigkeit hat keine meiner Schwestern je erreicht, was ich merkwürdig finde – ihr glänzendes Aussehen, die wohlgestalteten Glieder, Talent und Ausbildung sowie ihre Lieblichkeit in Betracht gezogen.

Von den Umständen und Begebenheiten animiert, die meine Familie in den letzten Jahren geprägt haben, stimuliert von der Wahl, die ich selbst getroffen habe, und von den begrabenen Hoffnungen, richte ich mein bestes Prismenfernrohr auf meine Schwestern, in der Hoffnung, etwas zu sehen, was ich mit bloßem Auge nicht erkennen kann.

Wenn ich ganz genau hinschaue, sehe ich mehr als einen Grund, warum es ihnen niemals wirklich gelungen ist, ihr gesamtes Potential an Hingabe auf einen einzigen Menschen des anderen Geschlechts zu richten. Ich erkenne ein Bündel von Ursachen dafür, dass sie ihre guten Eigenschaften niemals der Liebe in ihrer einfachsten und zugleich kompliziertesten Form widmen konnten. Dass sich Ellinor, deren Kopenhagener Wohnung sich ganz in der Nähe meiner Unterkunft befindet, zur Zeit an der Seite eines Herrn blicken lässt, kann ich als Gegenbeweis nicht ernst nehmen.

Mehr als sonderbar kommt es mir vor, dass ich als einziges der neun Geschwister meinen ledigen Familienstand zutiefst bedaure. Ich allein scheine darauf zu brennen, die Anziehungskraft benachbarter Sterne zu spüren. Hätte ich nur ein Schneewittchen, würde ich ihm jeden Wunsch siebenfach von den Augen ablesen.

Trotz der Abwesenheit roter Riesen bei den Plejaden gibt es doch einige sehr schwache rote Sterne, die man für echte «Sternenkinder» hält und die sich durch die Nebelstoffe ständig verdichten, aber die nuklearen «Feuer» sind immer noch nicht entzündet worden. Außerdem halten die Astronomen es für möglich, dass Zwerggestirne eines solaren Typus existieren, von denen man heute noch nichts weiß.

Abgesehen von den undefinierbaren Gemeinsamkeiten, die womöglich auch die eigentlichen Charakterzüge meiner Schwestern enthalten und es nach wie vor geboten erscheinen lassen, sie als leuchtenden Sternenhaufen zu bezeichnen, sind sie äußerst verschieden.

Von Kindheit an habe ich sie folgendermaßen wahrgenommen: Andrea, die Älteste, steht im Schatten der Zweitältesten: Ellinor. Die Zwillinge Ebba und Charlotte, Nummer drei und vier, sind wechselseitig von der Tatsache geprägt, dass Ebba zuerst geboren wurde. Edith, meine Lieblingsschwester, kam nach den Zwillingen zur Welt und ist ein Fall für sich. Franciska dominiert Gudrun, die Jüngste, auf raffinierte und liebevolle Weise.

Als sich mir die musikalischen Bezeichnungen für Charakter und Tempo nach und nach einprägten – so, wie sie auf den Notenblättern meiner allerersten, kleinen Sonaten, die mein Vater mir gab, verzeichnet waren –, begann ich, meine Schwestern nach derselben Art zu klassifizieren. Lesen konnte ich sie nicht, lernte aber rasch, mir Aussehen und Bedeutung der Bezeichnungen einzuprägen, nachdem mein Vater mir diese erläutert hatte. Es sind die italienischen, die auch in Deutschland und im Norden benutzt werden. Sie haben mich also auch während meiner Studienzeit in Leipzig und auf dem Konservatorium der Schwedischen Musikakademie begleitet. Nur Frankreich benutzt eigene Bezeichnungen.

Wenn es «grave» hieß, dann dachte ich daran, dass Andrea stets etwas schwermütig und ernst gewesen war, also spielte ich Andrea. Schnell, munter und lebhaft, das ist Ellinor, also «allegro». Sowohl Ebba als auch Charlotte strahlen Milde und Frieden aus; sie entsprechen «andantino» und «andante», denn Ebba ist ein bisschen aufgeweckter. Verlangt der Ausdruck Liebreiz und Anmut, dann spiele ich Edith oder auch «gentile» und «amoroso». Mein «marcato» wird genauso nachdrücklich, wie ich es brauche, wenn ich an Franciska denke, die in der Familie, als sie noch klein war, Franz gerufen wurde. Gudrun ist und bleibt «sordino».

Wenn ich spiele, macht es keinen Unterschied, dass wir Charlotte und Edith verloren haben; in mir sind alle sieben gleich lebendig.

Tanz der Zwerge

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