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Das alternde Kindermädchen auf Willhofsgave, Mamsell Vidde, hatte trockene Augen, während alle anderen in Tränen ausbrachen, als ein hinzugerufener Professor aus Århus an einem der ersten Märztage des Jahres 1890 auf wissenschaftlicher Grundlage das bekräftigte, was Madame Johannesen bei ihrer obligatorischen Visite am fünften Tag nach der Geburt bereits bekannt gegeben hatte und was der Hofjägermeister und die Hofjägermeisterin – genau wie alle anderen, die den Neugeborenen gesehen hatten – bereits ahnten, wenn nicht wussten: Der Junge war missgestaltet.

Der Erbhof hatte, im Stile eines Fürstenhauses der Renaissance, seinen eigenen Zwerg hervorgebracht.

Obwohl sie der Familie enger verbunden war als jeder andere – abgesehen von denen, die alle Dinge des Hofs, ob tot oder lebendig, aus verständlichen Gründen als ihr Eigentum betrachteten –, vergoss Vidde über das Kind keine Tränen. Fürsorglich und ohne Umschweife nahm sie sich seiner an.

Als der lebhafte und zufriedene Neugeborene im Alter von drei Wochen seine Signale änderte und anfing, aus vollem Hals zu brüllen, sobald er nicht schlief oder trank, trug Vidde ihn, seine Breitseite ihrem Busen zugewandt, stundenlang spazieren, zuerst im Gebärzimmer, dann auch in anderen Räumen und schließlich durchs ganze Haus. Bei allen übrigen Kindern hatte man die Anweisung Professor Meyers befolgt: Man legte sie hin, nachdem sie trocken und satt waren, schloss die Tür und ließ sie schreien. Nach ein paar Tagen hörte das Schreien auf, genau wie Professor Meyer, Leiter des Geburtsstifts in Kopenhagen, es beobachtet hatte – eine Methode, die alle aufgeklärten Mütter und Kindermädchen seitdem mit Erfolg angewandt haben.

Da aber das Erscheinen des Kindes nach den ersten euphorischen Tagen die Mauern des Erbhofes von Weinen und Jammern widerhallen ließ, meinte Vidde, es sei für alle von Vorteil, in diesem Fall eine Ausnahme von Professor Meyers Prinzipien zu machen und die Tränen zu stillen, die unmittelbar zu stillen waren. Außerdem sei es sinnlos, den Jungen für ein Leben zu stählen, das, dem Professor zufolge, nur wenige Jahre dauern würde.

Was Vidde gestählt hatte, bevor sie zu uns kam, bleibt ein Geheimnis; niemand hat sie jemals weinen gesehen. Ich frage mich, ob Tränen nicht ohnehin die Eigenheit haben, sich im Verborgenen anzusammeln, um bei späteren Gelegenheiten umso reichlicher zu fließen.

Abgesehen vom Säuglingsalter, habe ich in meinem Leben nur sehr wenig geweint. Schon bevor ich mit Sicherheit wusste, dass ich anders war als die anderen, war ich mir doch über meine Andersartigkeit im Klaren gewesen. Meine Defizite konnte ich nicht wegweinen. Andere erlernen vielleicht die Kunst, ihre Tränen zu beherrschen; ich bin damit zur Welt gekommen. Wie Vidde es erlernt hat, weiß ich nicht. Erst als wir meine Schwestern verloren, fiel mir auf, dass mein altes Kindermädchen und ich die Gemeinsamkeit haben, die Tränen nicht einfach so fließen zu lassen, wie der Regen fällt. Das sagt nichts über unsere Fähigkeit aus, Trauer zu empfinden.

Trauer hat viele Gesichter, die meisten habe ich gesehen, und ich zweifele nicht daran, dass Vidde den Verlust von Edith und Charlotte aufrichtig betrauerte.

Charlotte erkrankte an der Spanischen Grippe und starb im Laufe weniger Tage, nur einen Monat, nachdem sie das Denkmal «Gefallener Soldat», das den Toten des Ersten Weltkriegs gewidmet ist, enthüllt hatte. Sie war 21, als sie, zwei Jahre nach Edith, die Akademie als Bildhauerin verließ. Das Denkmal war ihre erste bedeutende Arbeit, mit der sich große Zukunftserwartungen verbanden.

Schon vor Charlottes Ende hatte meine Trauer ein neues Gesicht bekommen, weil Ediths Tod im Frühsommer 1919 von meinen Eltern und Schwestern sehr rasch ausschließlich als Sinnbild für den Niedergang des Erbhofs betrachtet wurde. Sie sorgten sich um die Gefährdung des Gutes, während Edith krank war, und selbst, als sie schon auf dem Sterbebett lag, sprachen sie nur vom Erbhof und nicht davon, dass Edith uns verlassen würde. Am Tage des Begräbnisses redeten sie von Willhofsgave, nicht von Edith. Ich möchte so weit gehen zu behaupten, die bürokratische Umstrukturierung der Eigentumsverhältnisse auf Wilhofsgave hat sie stärker erschüttert als der Tod von Edith und Charlotte.

Seitdem wurde viel über die Beendigung der Erbfolge, vor allem aber über den Fortbestand von Willhofsgave gesprochen und fast nie von meinen Schwestern. Nur Vidde und ich haben sie, nach altem jüdischen Brauch, «zu Tode geredet», wenn ich einmal zu Hause war und wir ein paar Stunden allein im Garten und später auf ihrem Zimmer verbrachten.

Es wundert mich nicht, dass der Schmerz über den Verlust von Charlotte und Edith meine Eltern in diesen Tagen überfällt, wie Gudrun schreibt. So verhält es sich mit der Trauer; sie läuft einem nach, wie der Verfolger in einem Alptraum, und bleibt so lange eine offene Wunde, bis man stehen bleibt, sich umdreht und sie beim richtigen Namen nennt. Die Wunde, die die Abschaffung des Lehnswesens schlug, kann nicht unmittelbar geheilt werden, darum ist der Verlust meiner Schwestern auch bei ihnen eine offene Wunde geblieben.

Aber was weiß ich schon von der Trauer anderer Leute? Edith lebt in mir als ein Teil meiner Persönlichkeit weiter. Ohne Edith wäre ich nicht der geworden, der ich bin. Ihre Fürsorge war nicht die Folge eines Vorsatzes. Sie war, wie niemand sonst außer Vidde, in meinem Leben gegenwärtig. Ihre Zuwendung mir gegenüber blieb völlig unbeeinträchtigt, als das Urteil fiel.

Während der Professor und der Vater des Kindes sich abgewandt hatten und Latein sprachen, waren die größeren Mädchen tief bewegt und wollten für sich allein sein. Sie hatten ihren Vater weinen gesehen und würden diesen Anblick niemals vergessen. Andrea war siebzehn und empfindsam, Ellinor vierzehn und pragmatisch, die Zwillinge Ebba und Charlotte verwirrt und ängstlich. Die jüngsten, Franciska und Gudrun, fünf und sieben Jahre alt, liefen weinend und in Todesangst in die Küche hinunter, wo viele Frauen bereitstanden, um mit den Schürzenzipfeln ihre Augen zu trocknen und ihnen ganze Hände voll Plätzchen zu geben – als Belohnung dafür, dass sie die Neuigkeit, welche die schlimmsten Ahnungen bestätigte, auch in die untersten Regionen des Hauses getragen hatten.

Als sich der Hofjägermeister und der Professor ins Herrenzimmer zurückzogen, blieb außer Vidde mit dem Kind und der Mutter, die sich hingelegt hatte, auch Edith – eine Zehnjährige auf dem Gipfel der Vernunft zwischen kindlicher Intuition und keimender Reife – im Gebärzimmer zurück. Sie stand so dicht am Bett, dass die Mutter sie mit der Hand erreichen, trösten und zwischendurch Ediths Tränen wegwischen konnte, wenn sie nicht gerade ihre eigenen trocknete.

Vidde saß mit leicht gespreizten Beinen auf einem Stuhl, während sie das schreiende Kind in ihrem Schoß wickelte, kleidete und in die Wiege ihrer Röcke einschlug, die sich zwischen ihren breiten Schenkeln befand.

Als sie gerade aufstehen wollte, um ein bisschen mit ihm spazieren zu gehen, damit Frau Willhof-Holm zu ihrem dringend benötigten Mittagsschlaf kam, machte das kleine Mädchen auf sich aufmerksam und gab ihr ein Zeichen, sie solle das Kind doch zur Mutter legen. Mit den Augen fragte Vidde – die immer für alle ein offenes Ohr hatte – die Wöchnerin, ob sie damit einverstanden sei. Diese nickte ergeben und zeigte den Anflug eines Lächelns ... wenn Edith es sich wünschte.

Sobald Vidde das Kind hingelegt hatte, hörte es auf zu schreien. Unmittelbar darauf krabbelte Edith ins Bett und schmiegte sich ganz dicht an ihre Mutter und den Kleinen. Vidde, der zum Protest keine Zeit blieb, stand abwartend da und sah, wie die Wöchnerin das Bündel mit dem Säugling und das Mädchen vertrauensvoll in den Arm nahm.

Sie beobachtete, wie Edith sich auf eine Weise an ihre Mutter schmiegte, die unmissverständlich ihre hingebungsvolle Dankbarkeit zum Ausdruck brachte, einen so wunderbaren kleinen Bruder bekommen zu haben.

Ein Blick auf die Mutter genügte Vidde, um zu verstehen, dass sie sich jetzt zurückziehen konnte, und sie tat es mit dem Gefühl großer Erleichterung. Jetzt sind wir zwei, dachte sie, die ihn so nehmen, wie er ist.

Tanz der Zwerge

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