Читать книгу Staatsjugendorganisationen – Ein Traum der Herrschenden - Anne Neunzig - Страница 6

Оглавление

1. Herausbildung der Jugendverbände vor 1933

1.1 Jugendverbände im Kaiserreich

Die historische Entwicklung der Jugendverbände und Jugendbewegung reicht weit in die Geschichte des 19. Jahrhunderts zurück und damit in eine Zeit, als auf Grund veränderter Arbeits- und Lebensbedingungen erstmals überhaupt die Lebensphasen von 'Kindheit' und 'Jugend' ins gesellschaftliche Bewusstsein gerückt waren. 1839 wurde per Gesetz in Preußen die Arbeitszeit für Jugendliche unter 16 Jahren auf 10 Stunden begrenzt, Kinderarbeit unter 9 Jahren gänzlich verboten. Damit erhielten Kinder und Jugendliche erstmals einen gewissen Freiraum, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur verstärkten pädagogischen Wahrnehmung dieser entscheidenden Lebensphase führte und „[…] entsprechende Institutionalisierungsformen nach sich zog.“3

Neben der amtlichen 'Jugendpflege', deren Anliegen darin bestand, die Jugend zu „einer frohen, körperlich leistungsfähigen, sittlich tüchtigen, von Gemeinsinn und Gottesfurcht, Heimat- und Vaterlandsliebe erfüllten“4 Generation zu erziehen, entwickelten sich in kurzer Zeit im Wilhelminischen Kaiserreich eine Vielzahl an Jugendverbänden, die sich in drei Bereiche unterscheiden lassen: christlich geprägte Vereinigungen, bürgerlich-nationale Jugendgruppen und Arbeiterjugendvereine.5 Daneben entwickelte sich als Antwort auf die zunehmende Industrialisierung des beginnenden 20. Jahrhunderts, die einherging mit einer rasanten Verstädterung und „Modernisierung des Lebens“6, eine eigenständige Jugendbewegung. Besonders in bürgerlichen Kreisen lehnten sich die Jugendlichen vermehrt gegen Gehorsam und Drill und somit gegen verkrusteten autoritäre Strukturen in Elternhaus und Schule auf und nutzen die Chancen der Umbruchszeit für das Aufbrechen überkommener Erziehungsmethoden. Studenten und Gymnasiasten fanden in Gruppen zusammen und wanderten gemeinsam an den Wochenenden in die Natur hinaus. Das romantisierende Naturerlebnis, die Rückkehr zum einfachen, asketischen Leben unterwegs auf dem Lande, orientiert an den Wanderungen zunftständiger Handwerksburschen, stand dabei bewusst einer zunehmenden Einbindung des Menschen in das Räderwerk einer die Umwelt dominierenden Industrialisierung entgegen.

Aus dieser anfänglich sporadischen Wanderbewegung gründete sich 1901 in Berlin – Steglitz der erste Wandervogelverein, der sich vor dem ersten Weltkrieg in ganz Deutschland ausbreitete und in viele verschiedene Gruppierungen aufsplitterte.7 Ab 1907 etablierten sich neben dem Wandervogel weitere, meist studentische Gruppierungen wie die Studentischen Akademischen Freischaren und die Akademische Freideutsche Jugend.8

Ein Novum dieser studentischen Jugendbewegungen war ihr struktureller Aufbau aus eigenen Reihen. Die einzelnen Gruppierungen kamen meistens ohne erwachsene Leitungspersonen aus und blieben weitgehend unpolitisch. Auf dem 'Ersten Freideutschen Jugendtag' – einem Treffen verschiedener Bünde am Hohen Meißner bei Kassel im Oktober 1913 - wollten die verschiedenen Gruppierungen eine gemeinsame „Plattform und organisatorische Formen der Zusammenarbeit“9 schaffen. Doch diese Pläne gelangten durch den Ausbruch des 1. Weltkrieges nicht mehr zur Umsetzung.

Unter den offiziellen Verbänden stellten in der Vorkriegszeit die christlichen Vereinigungen, schon auf Grund ihrer hohen Mitgliederzahlen, die gewichtigsten Bündnisse dar. 1912 existierten „katholische Jünglingsvereine, Gesellenvereine, Burschenvereine und Jungfrauen-Kongregationen“10, daneben Evangelische Jünglingsvereine sowie Christliche Vereine junger Männer. In den folgenden Jahren entstanden auch christliche Vereinigungen, die unabhängiger von kirchlichen Institutionen arbeiteten als die erwähnten.

Im bürgerlich-nationalen Spektrum lag ein deutlicher Schwerpunkt auf der körperlichen Ertüchtigung der jungen, wehrfähigen männlichen Jugend, so dass sich hier zahlreiche wehrsportliche Gruppierungen zusammenfanden, die ab 1899 durch den „Ausschuss zur Förderung der Wehrkraft durch Erziehung“11 vertreten wurden. Zu den vom „wilhelminischen Militarismus“12 geprägten Verbänden gehörten die Deutsche Turnerschaft, die Berliner Jugendwehr und das Deutsche Späherkorps. Auch die in Deutschland nach Baden Powells Vorbild 1911 gegründeten Pfadfinderbünde wurden oft von Offizieren geleitet.

Neben diesen wehrsportlichen Gruppierungen zählten aber auch autonome, sogenannte 'wilde' Jugendvereine zu den bürgerlichen Jugendgruppen, ebenso Vereine mit nationaler und patriotischer oder sozialer Gesinnung, wie beispielsweise der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband und der Deutsche Verband der Jugendgruppen und Gruppen für soziale Hilfsarbeit.13

Ab 1903 etablierten sich in Deutschland erstmals Arbeiterjugendvereine. 1906 gründete sich der Verband junger Arbeiter Deutschlands.14 Weitere proletarische Jugendvereine entstanden mit dem Vorsatz des „Arbeitsschutz[es] und [der] Weiterbildung“15 ihrer Mitglieder. Anfangs distanziert, begannen die Sozialdemokraten um 1908 ihr Interesse an den proletarischen Jugendorganisationen zu bekunden, die sich infolge dessen größtenteils auflösten und mit den Parteien kooperierten. Während die bürgerlichen Jugendorganisationen vom Staat finanziell unterstützt wurden, erhielten die proletarischen Vereine keine diesbezüglichen Subventionen.

1.2 Jugendverbände in der Weimarer Republik

In der Weimarer Republik hielt der Jugendmythos Einzug in die Gesellschaft. Durch ihren neuen sozialen Status nach dem Krieg erhielt die junge Generation die „rechtlichen und materiellen Möglichkeiten, ihre Interessen und Bedürfnisse öffentlich zu definieren und Organisationsformen dafür zu suchen“16. Der Jugendpflege-Erlass des Jahres 1919 anerkannte alle Jugendverbände gleichwertig und rief sie zur Zusammenarbeit auf.17 „Niemals zuvor (und auch später nie wieder, wenn man von der Zwangsmitgliedschaft der Hitler-Jugend absieht) konnten Jugendverbände einen so hohen Organisationsgrad der Jugendlichen verbuchen wie in der Weimarer Zeit: Fast die Hälfte aller Jugendlichen (ca. 40 %) waren Mitglieder einer Jugendorganisation.“18

Zeitgleich prägte aber gerade in jenen Jahren zunehmend eine große Unsicherheit und Aussichtslosigkeit die heranwachsende Generation, was auf eine rapide Zunahme der Arbeitslosigkeit zurückzuführen war.19

Infolge der politischen Polarisierung dieser Zeit zerbrach um 1923 der Freideutsche Bund. Er hatte sich vor dem ersten Weltkrieg gegründet und bestand aus ehemaligen Mitgliedern der Wandervogelbewegung und anderer Jugendbünde.20 Auch der Wandervogel hatte in seiner ursprünglichen Form keinen weiteren Bestand. Es etablierten sich in der Folgezeit vermehrt bündische Jugendgruppen, die sich an bestimmten völkischen Werten und Normen orientierten. Wie schon zu Beginn der Jugendbewegung waren ihre Mitglieder größtenteils Gymnasiasten und Studenten. Die Mitgliederzahlen schwankten zwischen 12 bis 60.000 Jugendlichen.21 Bünde, die schon vor dem ersten Weltkrieg bestanden, hatten meistens jugendliche Führer oder kamen ohne Führungsposition aus. Die in der Weimarer Republik neu etablierten Bünde standen hingegen oftmals unter der Führung ehemaliger Wandervogelmitglieder, wodurch sich schnell ein Führer-Gefolgschafts-Gefälle ergab. Viele hatten eine antidemokratische Grundhaltung, basierend auf dem Wunsch nach einer „ständig organisierten Volksgemeinschaft“22. Auch eine als rechtsradikal zuzuordnende Einstellung war bei vielen der Bünde zu finden, so bei den 1924 gegründeten Artamanen, „[…] eine Bewegung junger Männer und Frauen, die sich entschlossen, eine vaterländische Pflicht zu erfüllen […] nach den Grundsätzen von 'Blut und Boden'.“23 Ihnen war später das Interesse der Nationalsozialisten sicher.

Neben den vielen bestehenden Jugendverbänden, die bereits seit dem Kaiserreich existierten, entstanden in der Weimarer Republik erstmals auch innerhalb der Parteien Jugendgruppen. Dabei ging es vorrangig um eine Rekrutierung des Nachwuchses, zugleich aber auch um den frühestmöglichen Aufbau einer festen Wählerschaft. Zu den neu gegründeten Gruppierungen zählten unter anderem „die Hindenburgjugend der BVP […], Bismarckbund der DNVP […], kommunistischer Jugendverband […], Hitlerjugend […], Windhorstbünde des Zentrums […]“24 sowie die Jungsozialisten. Gerade gegen Ende der Weimarer Republik kam es zu einer „massenhaften Politisierung“25 der Jugend, mit einer starken Polarisierung nach 'rechts' oder 'links'. Viele der Jugendvereine der Weimarer Republik befanden sich im 'Reichsausschuss der deutschen Jugendverbände', der 1926 ins Leben gerufen wurde.

Die Etablierung einer neuen nationalistisch geprägten Ideologie im 'Dritten Reich', gekoppelt an totalitäre staatliche Strukturen, bereitete der pluralistischen Entwicklung der Jugendverbände ein abruptes Ende. Das Menschenbild der Nationalsozialisten samt deren Bildungsideologie und ihr absoluter Herrschaftsanspruch ließen sich nicht mit den vielfältigen Anschauungen innerhalb der Jugendbewegung vereinbaren. Fortan wurde Konformität propagiert und die bloße Erfüllung ideologischer Vorgaben eingefordert.

Staatsjugendorganisationen – Ein Traum der Herrschenden

Подняться наверх