Читать книгу Tödliche Option - Annette Meyers - Страница 16

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New York City zeigte sich im Sommer frühmorgens von seiner besten Seite, taufrisch. Die Luft war sauber, mild und ein wenig feucht. Das Junilicht sickerte durch einen leichten Dunstschleier, den die Sonne bis zur Mitte des Vormittags wegbrennen würde.

Unterdessen war etwas fast Kleinstädtisches an den leeren Straßen, den wenigen verschlafenen Joggern, dem spärlichen Verkehr.

Wetzon fühlte sich zu elegant angezogen in dem Jackenkleid aus lavendelfarbenem Leinen, obwohl es ganz leicht und weniger förmlich als ihre übliche Geschäftskleidung war.

Der Bahnsteig der U-Bahn an der 86. und Broadway war entsetzlich heiß und nicht abgekühlt vom Vortag. Wahrscheinlich würde er bis zum Herbst nicht abkühlen. Aber der »I«-Zug kam rasch, und Wetzon stieg in den Wagen, dessen Klimaanlage so gut funktionierte, daß die Schweißtröpfchen auf ihrem Gesicht kondensierten wie ein kalter, nasser Schlag.

Der Wagen war kaum besetzt, wie um Viertel vor sieben an einem Samstagmorgen zu erwarten war. Sie setzte sich und schlug die Times auf der Wirtschaftsseite auf, indem sie sie automatisch auf das schmale New Yorker U-Bahn-Format faltete, um lesen zu können, ohne beim Umblättern jemandem zu nahe zu kommen. Am anderen Ende des Wagens zeterte eine Frau in einem leuchtendgelben Strandkleid auf Spanisch laut mit zwei Kindern, die um eine der Haltestangen in der Mitte Fangen spielten. Sie war von Gepäckstücken umgeben, von denen eines eine riesige rote Kühltasche war. Vielleicht wollten sie nach Coney Island.

An der 79. Street stieg eine Gruppe von sportlich aussehenden, braungebrannten Teenagern ein. Sie sprachen Deutsch, und Mädchen wie Jungen hatten Shorts an und trugen Rucksäcke. Wetzon konzentrierte sich wieder auf die Zeitung und las gerade über Probleme bei Shearson, als sich die Jugendlichen plötzlich über sie beugten. Sie merkte, daß sie unter dem U-Bahn-Plan saß. Sie lächelte sie an und rutschte auf einen anderen Sitz.

»Wohin möchtet ihr fahren?« fragte sie.

»Fulton Fish Market«, antwortete ein sehr blonder junger Mann.

»Ihr seid ein bißchen spät dran. Jetzt gibt es nichts mehr zu sehen. Ihr müßt wirklich so um fünf hinkommen.« Sie mußte über die enttäuschten Gesichter lachen. »Ihr könnt es versuchen. Steigt an der Chambers Street in die 2 oder 3 um. Ich glaube, Fulton ist die zweite Station. Oder ihr könnt mit diesem Zug zur Endstation fahren, das ist South Ferry, und mit der Fähre nach Staten Island oder am Wasser entlang zum South Street Seaport spazieren und den Fischmarkt für einen anderen Tag aufheben.«

Sie setzten sich in der Mitte des Wagens hin, um es zu besprechen, und Wetzon hob wieder die Zeitung.

Es war einer der neueren Züge, und die Kühle und die wenigen Menschen machten die Fahrt fast zu einem Vergnügen. Aber sie war müde. Und sie ärgerte sich darüber, früh aufstehen und an ihrem Samstag hinunterfahren zu müssen, um jemanden zu beschwichtigen, der nicht einmal ein Kunde war. Andererseits war sie wirklich neugierig auf Ashs geheimen Bericht. Was könnte so streng geheim sein, daß es die Branche erschüttern würde?

Zum Glück hatte sie keine Fragen nach ihrer Verabredung beantworten müssen, denn am Abend vorher hatte Silvestris seinen Pokerabend gehabt, und da er selbst als Gastgeber an der Reihe war, spielten sie in seiner Wohnung in Chelsea, und er hatte dort geschlafen.

Der Zug raste die fünf oder sechs Meilen zwischen der 86. Street und Cortlandt Street, der Station des World Trade Centers, wobei er alle acht oder neun Straßen hielt, um Passagiere aufzunehmen oder abzusetzen. Selbst in der Stoßzeit dauerte die Fahrt nur eine halbe Stunde. Heute, ohne das Gedränge der ein- und aussteigenden Passagiere, waren es nur zwanzig Minuten gewesen.

Wetzon stieg rasch die steilen Stufen der nicht funktionierenden Rolltreppe zu dem an ein Einkaufszentrum erinnernden Erdgeschoß des gewaltigen World Trade Center hoch. Von einigen wenigen Imbißstuben und Cafès abgesehen, waren die meisten Geschäfte in dem riesigen Komplex geschlossen. Sie staunte, wie viele Tische in dem größten Café besetzt waren. Ihr Blick huschte darüber, und sie wäre gern auf einen eiskalten Koffeinfreien eingekehrt. Aber es war schon Viertel nach sieben, und sie würde zu spät kommen, wenn sie sich nachgäbe.

Später am Morgen würden Touristen die Gegend überschwemmen, und die Geschäfte und Restaurants würden öffnen. Ein Tag – fast, aber nicht ganz – wie jeder andere Tag im Finanzdistrikt, natürlich mit der Ausnahme, daß die hektischen, unter Hochspannung stehende Hauptpersonen, die Verkäufer und Händler, fehlten.

In der Wall Street – bildlich, nicht buchstäblich, weil sehr wenige Börsenmaklerfirmen tatsächlich in der Wall Street zu Hause waren – kamen die Geschäftemacher sogar an Samstagen und Sonntagen im Sommer kurz zur Arbeit. Manchmal schaute ein besonders ehrgeiziger Makler in zwangloser Kleidung bei seinem Büro vorbei, um ein paar Anrufe zu erledigen und Papierkram aufzuarbeiten, aber das Tempo war entschieden gemächlicher.

Und hin und wieder kam ein Makler (oder wie die Firmen sie inzwischen meist nannten, ein Finanzberater) an einem Wochenende vor seinem Ausscheiden und Wechsel zu einer anderen Firma vorbei, um sein »Buch« zu kopieren, das wertvolle Auszüge von Kundenkonten enthielt.

Inoffiziell wußten die Firmen, daß Makler das taten, und ärgerten sich darüber, begriffen aber, daß sie einen Kunden nicht daran hindern konnten, ihnen sein Konto zu entziehen. Die Zeit vor dem Ausscheiden war besonders gefährlich, denn wenn ein Makler ertappt wurde, wie er sein Buch kopierte, wurde er fristlos gefeuert und seine Papiere wurden einbehalten. Das bedeutete allerdings nicht, daß die neue Firma ihn nicht nehmen würde. Sie wollte ihn immer noch, nur würde die Übergangszeit schwerer und länger.

Offiziell bekämpften die Firmen, besonders Merrill, die Übertragung von Konten mit Zähnen und Klauen, In einigen Staaten waren die Firmen dazu übergegangen, dem Makler bei einem Wechsel eine befristete Einschränkung aufzuerlegen, um ihn daran zu hindern, seine alten Kunden zu seiner neuen Firma zu locken. Aber es funktionierte nie über längere Zeit. Es wurde nur erreicht, daß der Makler aus dem Tritt kam, und das war der Grund, warum sie es taten. Wenn der Makler aus dem Tritt war und nicht arbeiten konnte, blieb das Konto vielleicht bei der ursprünglichen Firma. Manche Firmen waren auch dazu übergegangen, den Konten des Maklers eine Prämie zuzuschlagen, das heißt, den im Büro verbleibenden Maklern hohe Provisionen zu geben – siebzig Prozent oder mehr –, damit sie sich um die Konten des ausgeschiedenen Maklers bemühten, und den Kunden bei den ersten Geschäften hohe Abschläge von den Vermittlungsgebühren anzubieten. Es konnte boshaft werden. Eine große Firma hatte tatsächlich über die Lautsprecheranlage bekanntgegeben, wie viele Konten die Firma gehalten hatte, nachdem ein Makler weggegangen war. Es war eine Form von Psychoterror, um die Makler bei der Stange zu halten.

Wetzon verließ das World Trade Center durch den Eingang zum Tower One, überquerte die Straße und ging über den überdachten Fußweg zum Luwisher Tower Building.

Sie blieb einen Moment in der riesigen, eleganten Halle mit ihren Boutiquen stehen. Wo hatte Dr. Ash – oder der fette Arsch, wie Ellie ihn genannt hatte – sie treffen wollen? Bei den Aufzügen. Im Erdgeschoß? Nein, oben. Die Halle war leer bis auf einen uniformierten Aufseher, der aus einem Styroporbecher Kaffee trank. Er sah sie an und nickte verschlafen. Sie hatte längst gelernt, daß einen niemand aufhielt, wenn man selbstbewußt auftrat und wußte, wohin man wollte, oder wenigstens so tat. Sie stieg im siebenundsechzigsten Stock aus dem Aufzug und stieß direkt mit Chris Gorham zusammen, der angerannt kam, um einzusteigen. Sie prallten so heftig aufeinander, daß beide zurücktaumelten. Er faßte sich zuerst und drängte in den Aufzug, indem er Wetzon grob wieder hineinschob, als sich auch schon die Türen schlossen. Die programmierte Stimme erfüllte den Wagen, während Chris auf den Knopf zur Halle drückte, ohne sie loszulassen.

»He«, rief sie wütend, als sie sich gefaßt hatte. »Lassen Sie los.« Sie versuchte, ihn wegzuschieben. »Was dagegen? Was machen Sie denn da?«

»Was machen Sie denn da, Wetzon, verflucht noch mal?« Chris ließ sie los und lehnte sich schwer atmend an die Wand des Aufzugs. Sein Gesicht war gerötet. Er trug perfekt gebügelte Khakihosen, ein blaues La-Coste-Hemd, Turnschuhe ohne Socken und hatte einen Tennisschläger in einer weiß und blau gestreiften Segeltuchtasche.

»Es handelt sich um eine private Sache, Chris.«

»Eine private Sache«, äffte er sie nach. »Jede Wette.« Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. »Na ja, vergiß es. Es ist vorbei.« Er sackte zusammen, schien zu schrumpfen wie ein Ballon, aus dem jemand die Luft herausgelassen hatte.

»Geht es um Abby? Das tut mir wirklich leid, Chris.« Er wirkte enttäuscht. Mitfühlend streckte Wetzon die Hand aus und berührte seinen sonnengebräunten, muskulösen Unterarm.

»Wer? Ach so. Abby. Richtig.« Er blickte auf ihre Hand auf seinem Arm. »Kommen Sie, trinken Sie eine Tasse Kaffee mit mir.«

Sie schüttelte den Kopf. »Es geht nicht. Ich komme sowieso zu spät.« Er tat ihr leid, aber sie wollte sich nicht in ein kaputtes Privatleben ziehen lassen.

Die Türen öffneten sich zur Halle, und Chris stieg aus. Er drehte sich um. »Fahren Sie nicht hinauf, Wetzon.«

»Was reden Sie da? Ich muß.« Sie drückte auf siebenundsechzig. Der Aufzug verkündete seinen Morgengruß.

»Machen Sie, was Sie wollen.« Er zuckte die Achseln und kehrte ihr den Rücken, als sich die Türen schlossen.

Was für ein sonderbares Benehmen, dachte die, während sie gähnte und wegen des Drucks auf den Ohren durch die schnelle Fahrt des Aufzugs den Unterkiefer kreisen ließ. Irgend etwas an Chris wirkte falsch. Als wäre er verkleidet, ein Junge, der einen Erwachsenen imitiert.

Sie trat im siebenundsechzigsten Stock aus dem Aufzug in eine fast totale Stille. Kein Carlton Ash. Niemand. Sie ging an dem leeren Schreibtisch vorbei in den Empfangsbereich. Sonnenlicht strömte durch das Oberlicht und malte verwirrende Muster auf die Wände, Teppiche und Möbel. Es war wunderschön.

»Hallo?« rief sie zaghaft. »Dr. Ash?« Wo hatte er sie treffen wollen? Sie war sicher, daß er gesagt hatte, vor den Aufzügen. Sie sah auf die Uhr, Sieben Uhr vierzig. Die Stille und Leere waren unheimlich, als wäre sie das einzige menschliche Wesen, das auf der Welt übrig war, nachdem man die Wasserstoffbombe abgeworfen hatte.

Sie schauderte. Was für ein trübseliger Gedanke an so einem herrlichen Tag. Sie ging auf die Marmortreppe zu. Vielleicht wartete Ash im Konferenzzimmer auf sie. Drei Stufen vor ihr glitzerte etwas in der Sonne. Sie bückte sich, um es aus der Nähe zu betrachten. Es war ein Uhrenkristall, in einem Stück, aber beschädigt. Er war klein und eigenartig geformt. Eine Damenuhr. Jede konnte sie verloren haben. Zwar gab es nur wenige Maklerinnen, aber die Firma war voller Frauen in untergeordneten Positionen. Sie ging die Treppe hinunter und legte den Kristall auf den Empfangstisch. Dann stieg Sie langsam wieder hinauf. Ihre Absätze klapperten auf dem Marmor, ansonsten herrschte absolute Stille. Oben angekommen, rief sie noch einmal: »Dr. Ash?«

Keine Antwort.

Sie öffnete die Tür zum Konferenzzimmer. Es war leer. Drei Styroporbecher standen auf dem Konferenztisch. Der Aschenbecher war voller Zigarettenkippen und Asche. Sie ging in das Zimmer.

Hinter ihr schlug die Tür mit einem Knall zu. Vor Schreck fuhr sie zusammen und stieß dabei an den Tisch. Kaffee schwappte aus einem der Becher. Reiß dich zusammen, Wetzon, es war nur die verflixte Tür, sagte sie sich. Weswegen sollte sie nervös sein? Ein Luftzug kann eine Tür zufliegen lassen. Sie ging zur Tür zurück und drehte den Knauf, um aufzumachen. Sie war verschlossen.

Tödliche Option

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