Читать книгу Die wirkliche Mittelerde - Arnulf Krause - Страница 10

„Mittelerde ist keine imaginäre Welt.“ – Tolkien und die wirkliche Mittelerde

Оглавление

Irgendwann 1956 schrieb der Autor des mittlerweile endlich erschienenen „Herr der Ringe“ einen längeren Kommentar nieder (Brief 183), offenbar nur für sich selbst bestimmt anlässlich einer positiven Buchkritik W. H. Audens in der New York Times Book Review. Dabei betont Tolkien, Mittelerde sei keine erfundene Welt. Der Name sei eine alte Benennung für das, was die Griechen als Ökumene bezeichneten, den Aufenthaltsort der Menschen, „die objektiv wirkliche Welt“, die den Vorstellungen imaginärer Welten wie der der Feen oder unsichtbarer wie Himmel oder Hölle geradezu entgegengesetzt sei. Und er fährt fort: „Schauplatz meiner Erzählung ist diese Erde, dieselbe, auf der nun wir leben, aber die historische Periode ist imaginär. Die Grundzüge dieses Aufenthaltsortes sind alle vorhanden (jedenfalls für die Einwohner von Nordwesteuropa), darum wirkt es naturgemäß vertraut, wenn auch ein wenig verklärt durch den Zauber der zeitlichen Ferne.“

Unter dem Nordwesten Europas verstand Tolkien die Britischen Inseln mit England als Herzstück, aber auch Skandinavien und die ganze Nordsee-Welt. Das war die Welt der Angelsachsen und Wikinger, also germanischer Stämme und Völker. Ebenso gehörten die keltischen Kulturen der Iren und Waliser dazu, obwohl ihnen der Anglist nicht so zugetan war. Den Mythen des Nordens, seinen Sagen und Legenden, den Sprachen, Kulturen und Überlieferungen fühlte sich Tolkien verbunden. Anderes wie die Antike der Griechen und Römer, aber auch die Welt der Slawen blieb außen vor – mit Ausnahme der finnischen Sprache und Finnlands Nationalepos des Kalevala, von dessen allerdings erst im 19. Jahrhundert niedergeschriebenen Sagen er sich inspirieren ließ.

Darum fühlt sich der mehr oder weniger kundige Tolkien-Leser niemals in einer völlig fremden Welt: In Mittelerde finden sich altnordische Zwergennamen aus der isländischen Völuspá, angelsächsische Runen, Bräuche und Vorstellungen der germanischen Heldensagen und immer wieder Gestalten und Motive, die aus den Mythen des nördlichen Europa bekannt sind: Zwerge, Elben, Trolle, todesmutige Reiterkrieger, Zauberer, verwunschene Ringe, Schätze und Drachenkämpfe. All diese Einflüsse gab Tolkien unumwunden zu.

Darüber hinaus stößt man auf konkrete Anknüpfungen seiner unmittelbaren englischen Lebenswelt. Bereits 1937 schrieb er seinem Verleger Unwin, Tom Bombadil sei „der Geist der (verschwindenden) Landschaft von Oxford- und Berkshire“. In den westlichen Midlands und dort insbesondere in Worcestershire darf man wohl das Vorbild für das Auenland (The Shire) sehen. Etliche Lokalisierungen dieser Art lassen sich vornehmen, und sie mögen den ortskundigen Kennern einen Zugang zu Tolkiens Welt ermöglichen, aber diese reicht doch weit darüber hinaus – so weit, dass sie in der Verfilmung Peter Jacksons selbst am anderen Ende der Welt, in Neuseeland, eine kongeniale Landschaft fand.

Der Professor aus Oxford war kein „Heimatdichter“, ihn trieb ein verwegener Wunsch: Er wollte eine Mythologie für England schaffen, dessen alte Überlieferungen er verloren sah: „Es hatte keinen Eigenbesitz an (auf seinem Boden und in seiner Sprache heimischen) Geschichten, zumindest keine von dem Charakter, den ich suchte und den ich (als Beimischung) in den Sagen anderer Länder auch fand. Es gab Griechisches, Keltisches, Romanisches, Germanisches, Skandinavisches und Finnisches (das mich tief berührte), aber nichts Englisches, bis auf heruntergekommenes Zeug in den Volksbüchern. Natürlich gab es und gibt es die ganze Welt der Artussage, aber sie, so stark sie auch ist, ist doch nur unvollkommen eingebürgert; sie hat auf britischem Boden, doch nicht im Englischen Fuß gefasst und kann nicht ersetzen, was ich vermisste.“ (So in einem Brief von 1951; Brief 131). Um seinem Ziel nahe zu kommen, verband Tolkien Erfundenes und historisch Überliefertes, verknüpfte er seine Mittelerde-Welt mit der englischen Geschichte. Beispiele dafür reichen bis in die Zeit des 1. Weltkrieges, als von Middle-Earth noch keine Rede war. Damals – so dokumentiert es Christopher Tolkien im „Buch der verschollenen Geschichten“ – kreierte sein Vater einen Seefahrer Eriol (auch Ælfwine genannt, „Elbenfreund“), der zur einsamen Insel Tol Eressëa kam, wo er auf Elben stieß. Dieses Eiland stand schließlich für das vorgermanische England, in das die Angeln und Sachsen mit ihren Schiffen kamen. Eriol wurde zum Vater der Brüder Hengist und Horsa, die um 450 n. Chr. entsprechend der historischen Überlieferung die ersten Landnehmer angeführt haben sollen.

So weit Tolkiens Überlegungen, die letztendlich Folgendes enthüllen: Hinter seinen höchst komplexen Entwürfen einer privaten Mythenwelt, die sich in vielerlei Hinsicht mit der realen Geschichte verknüpfen lässt, entfaltet sich eine weitere Welt. Sie existierte völlig unabhängig von seinen Schöpfungen, inspirierte sie aber zutiefst und nachhaltig. Die wirkliche Mittelerde existierte vor anderthalbtausend Jahren im Norden Europas als Welt der Germanen und Kelten, der insbesondere die Ersten während der Völkerwanderungszeit ihren Stempel aufdrückten. Sie lebten in einem Zeitalter des Umbruchs, in einer Welt der Schamanen und Mönche, in der Elben, Zwerge und Drachen zu Hause waren … und Earendel, der Sternenschiffer.

Die wirkliche Mittelerde

Подняться наверх