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Mittelerde: Herr Beutlin stolpert in eine Mythologie

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Dies alles sind kuriose Geschichten, an die sich heute niemand mehr erinnern würde. Bis hierhin wäre Professor J. R. R. Tolkien der Vertreter eines eben doch abseitigen Faches, in dem sich nur wenige Spezialisten zusammenfinden, deren Themen sonst kaum wahrgenommen werden. Tolkien gelangte hingegen zu immerwährendem Ruhm als Autor von Fantasy, sogar als Gründungsvater dieser Literaturgattung, in deren Mittelpunkt ferne archaische und barbarische Welten stehen, in denen Gewalt, Magie und Zauber herrschen und folglich Krieger und Zauberer das Sagen haben. Tolkiens Ruhm begründen zwei recht unterschiedliche Romane, die 1937 und Mitte der 50er-Jahre erschienen: The Hobbit, or: There and Back Again („Der Hobbit oder Hin und zurück“, je nach deutscher Übersetzung auch „Der kleine Hobbit“) und die umfangreiche Trilogie The Lord of the Rings („Der Herr der Ringe“) mit ihren Teilbänden The Fellowship of the Ring („Die Gefährten“), The Two Towers („Die zwei Türme“) und The Return of the King („Die Rückkehr des Königs“).

Den „Hobbit“ hatte Tolkien als Kinderbuch geschrieben, auch wenn es von Anfang an nicht wenige erwachsene Leser fand. Einer der ersten war allerdings der 10-jährige Sohn des Verlegers Stanley Unwin, den sein Vater um ein Gutachten über das eingereichte Manuskript bat. Rayner schrieb: „Bilbo Baggins war ein Hobbit, der in seiner Hobbit-Höhle lebte und nie auf Abenteuer ging, bis endlich der Zauberer Gandalf und seine Zwerge ihn überredeten, doch zu gehen. Er hatte sehr aufregende Erlebnisse im Kampf mit Orks und Wölfen. Zuletzt kamen sie zum einsamen Berg; Smaug, der Drache, der den Schatz bewacht, wird getötet, und nach einer großen Schlacht mit den Orks kehrt er heim – als reicher Mann! Dieses Buch braucht wegen der Karten keine Abbildungen, es ist gut und müsste allen Kindern zwischen 5 und 9 Jahren gefallen.“ (Carpenter, S. 207)

Tolkien selbst erzählte, wie er auf den Hobbit kam: Eines Tages korrigierte er eine Aufnahmeprüfung, für ihn eine äußerst ungeliebte Tätigkeit. Auf eine leere Seite schrieb er den Satz In a hole in the ground there lived a hobbit („In einer Höhle in der Erde lebte ein Hobbit.“). Gemäß dieses Mythos vom ersten Satz – wir wollen ihn Tolkien gern glauben – hatte er keine Ahnung, was das für ein Wesen war. Wenig später fand er es offensichtlich heraus: Hobbits sind kleine Leute von halber Menschengröße, neigen zu einer gewissen Korpulenz, tragen gern Grün und Gelb und verzichten auf Schuhe, weil sie an den Füßen natürliche Ledersohlen und dichten Haarwuchs haben. Sie sind untereinander gesellig und lieben die Gemütlichkeit ihrer gepflegten Wohnhöhlen. Mit diesem friedfertigen und gemächlichen Volk identifiziert man sich gern. Auch Tolkien tat dies, bekannte er doch einmal, er selbst sei ein Hobbit (nur viel größer natürlich) und habe bei ihrer Darstellung an das ländliche England und seine Bewohner gedacht. Wie er allerdings auf das Wort „Hobbit“ gekommen ist, darüber konnte oder wollte er nie Auskunft geben.

Jedenfalls verschlägt es die Hauptfigur des Romans, den Hobbit Bilbo Beutlin (engl. Baggins), in ein turbulentes Abenteuer, das der junge Rayner Unwin oben ziemlich genau wiedergegeben hat. Bilbo wird aus einer behüteten und geruhsamen Welt gerissen und gerät in ein gefährliches Universum, das nordeuropäischen Sagen und Mythen entsprungen zu sein scheint. Folgerichtig bekommt er es mit Zauberern, Zwergen, Elben, bösartigen Goblins (später nannte Tolkien sie Orks), Riesenspinnen, Gestaltwandlern und einem ausgewachsenen Drachen zu tun. Er stolpert gewissermaßen in eine Mythenwelt, die den Leser an Märchen und Sagen erinnert. Spannung, Lokalkolorit, Witz und Humor machen das Buch zu einem der gelungensten Kinderbücher überhaupt – mit einer wohl komponierten Geschichte, in der alles stimmig zusammenfindet.

Den aufmerksamen Lesern fiel aber manches Detail auf, das ihre Neugier weckte. Als der Zauberer und bisherige Führer Gandalf sich am Rand des bedrohlichen Düsterwaldes von den 13 Zwergen und Bilbo Beutlin verabschiedet, spricht er deutliche Warnungen aus: vor den Orks, vor dem Drachen Smaug (dessen Schatz zurückgewonnen werden soll) und überhaupt davor, den Pfad zu verlassen. Außerdem sollen sie sich im Süden vor dem dunklen Turm des Nekromanten hüten. Mehr erfährt man nicht von diesem „Schwarzkünstler“. Ein anderes Beispiel: Nachdem es Gandalf gelungen ist, drei bösartige, aber tollpatschige Trolle im Sonnenlicht in Stein verwandeln zu lassen, erbeutet die Reisegruppe in deren Höhle mehrere Schwerter. Später klärt der Elbenfreund Elrond sie auf: Alte Schwerter der Hochelben seien das, einst geschmiedet in der legendären Stadt Gondolin, die später von Drachen und Orks zerstört wurde. Überhaupt scheinen von den Elben ganze Sippen und Völker zu existieren, ohne dass man Näheres darüber erfährt: Wald-, Hoch-, Licht-, Tief-, Meerelben usw. Der Roman ist voll von alten Geschichten und die wenigsten werden erzählt. Auch manches Detail wird noch nicht so richtig ernst genommen: Der junge Verlegersohn erwähnt etwa nichts von dem Ring, den Bilbo tief unten im Nebelgebirge findet und mit dem er vor dessen Besitzer, dem unheimlichen Gollum, Reißaus nimmt. Dieser Ring macht seinen Träger unsichtbar; mit seiner Hilfe bringt der Hobbit die ganze Geschichte zu einem Happy End. Derartige Zauberringe kommen zuhauf in Mythen, Märchen und Sagen vor. Sie sind als Motiv sehr hilfreich, und Tolkien mag sich nicht mehr dabei gedacht haben.

Das sollte sich bald ändern, denn der „Hobbit“ wurde wider Erwarten ein erfolgreiches Buch. Die Leser wünschten Antworten auf die offenen Fragen und auch der Verleger Stanley Unwin drängte auf eine Fortsetzung. Tolkien ließ sich nicht lange bitten und griff bereits 1937 den Stoff wieder auf. Damals ahnte er noch nicht, wie ihn die Geschichte in ihren Bann ziehen sollte, bis er schließlich 12 Jahre später endlich fertig wurde und darüber ein Buch von mehr als 1000 Seiten geschrieben hatte. Und dann sollte noch einmal ein halbes Jahrzehnt vergehen, bis 1954 und 1955 die drei Teile des Lord of the Rings erscheinen konnten.

Bereits 1939 hatte er seinen Verlag gewarnt: „Die jungen und alten Leser, die darauf gedrängt haben, „mehr über den Nekromanten zu erfahren“, sind selber schuld, denn der N. ist kein Kinderspiel.“ Aus dem abseitigen Bösewicht war nämlich Sauron geworden, der „Abscheuliche“, ein ursprünglich höheres Wesen aus den Tiefen mythischer Zeit, der sich „Mittelerde“ unterwerfen will – hier taucht das Wort Middle-Earth zum ersten Mal auf. Seinen Körper hatte er verloren, stattdessen fand er einen Ausdruck in einem bedrohlichen flammenden Auge. Dieses Auge sucht ununterbrochen und schickt seine abscheulichen Heerscharen aus. Schon frühzeitig wusste Tolkien um die Bedeutung Saurons, nach dem er sein entstehendes Monumentalwerk benannte: Sauron ist der „Herr der Ringe“ und er ist auf der Suche nach dem Einen Ring, der ihm die Herrschaft bringt. So heißt es im Gedicht, das Tolkien gleichsam als Motto voranstellte, drei Ringe hätten die Elbenkönige erhalten, sieben die Zwergenherrscher und neun die sterblichen Menschen. Den mächtigsten Zauberring hat sich Sauron erschaffen, „der Dunkle Herr auf dunklem Thron“: „Ein Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden, ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden, im Lande Mordor, wo die Schatten drohn.“

Und dieser Eine verhängnisvolle Ring ist ausgerechnet jener, den Bilbo Beutlin damals im Nebelgebirge an sich nahm und der sich seit seiner Rückkehr in seinem gemütlichen Heim im Auenland befindet (wie mittlerweile das Hobbitland heißt, engl. Shire). Der Idylle droht die Entdeckung durch die furchtbaren schwarzen Reiter und andere Schergen Saurons, und damit ihr Ende und der Untergang der freien Völker von Mittelerde.

Mit diesem Kunstgriff verknüpft Tolkien seine beiden Romane; Bilbos angeblich harmloser Zauberring entpuppt sich als bedrohliches Machtinstrument, das dem Ringträger seinen Willen aufzwingt – und der befiehlt: Bring mich zurück zu meinem Schöpfer, dem Dunklen Herrn, damit er die Herrschaft über die Welt erringe. 60 Jahre nach Bilbos Abenteuer – Hobbits sind langlebiger als Menschen – nimmt Tolkien den Faden mit einer fulminanten Geburtstagsfeier wieder auf. Noch einmal wendet der alte Hobbit seinen Ring an und verschwindet auf Nimmerwiedersehen aus dem Auenland, um bei den Elben seine „Memoiren“ zu schreiben. Sein Nachfolger und Erbe wird Frodo Beutlin, ein junger entfernter Verwandter, den Bilbo adoptiert hatte. Doch Frodo erbt nicht nur den Anteil am Drachenschatz, sondern auch den Ring – auf Drängen des Zauberers Gandalf. Dieser findet die wahre Bedeutung des Schmuckstücks heraus: Nach vielen Jahren muss Frodo seine Heimat verlassen und eine Reise quer durch Mittelerde antreten. Sein Ziel ist Mordor, das „Schwarze Land“, wo Sauron in seiner Festung Baraddûr herrscht. Nur in den Feuern des nahen Vulkanbergs Orodruin kann der Eine Ring zerstört werden, gewissermaßen in der Höhle des Löwen. Davon erzählt „Der Herr der Ringe“ und von der Gemeinschaft, die Frodo begleitet (Gandalf, drei Hobbits, zwei Menschen, ein Elb und ein Zwerg), von deren Zerfall, vom großen Ringkrieg gegen Sauron und von der Zerstörung des Rings.

Herbst ist es, als Frodo zu der so gut wie hoffnungslosen Fahrt aufbricht, durch verödete Länder und Wildnisse mit unbekannten Gefahren. Eine düster-elegische Stimmung durchzieht die Trilogie und macht aus ihr mehr als einen oberflächlichen Action-Fantasy-Roman. Tolkiens Werk ist durchaus anspruchsvolle Literatur, wenn auch sui generis „der eigenen Art“. Das Urteil darüber blieb daher zuerst verhalten. Was sollte man mit diesem seltsamen „Leseschinken“ anfangen? Der große Durchbruch kam mit der Verbreitung des Werks in den USA in den 1960er-Jahren. Weder die ersten illegalen Raubdrucke noch die Begeisterung der studentischen Hippie-Bewegung stimmten den alten konservativen Engländer Tolkien fröhlich. Doch was sollte er machen? Ein Damm war gebrochen und die Abenteuer in Mittelerde wurden nun auch in andere Sprachen übersetzt, so erschien 1969/70 die erste deutsche Übersetzung – der „Hobbit“ kam bereits 1956 als „Der kleine Hobbit“ in der Aufmachung eines Kinderbuchs auf den deutschsprachigen Buchmarkt.

„Der Herr der Ringe“ bot erheblich mehr als bloße aktionsreiche Handlung. Seine Geschichte wird sogar ausgesprochen langsam erzählt, und aufs Neue schwirren uralte Sagen, Legenden, Gerüchte und Rätsel durch Mittelerde. Um ein Beispiel zu nennen: Da führt der geheimnisvolle Streicher Frodo und die drei anderen Hobbits die Große Oststraße entlang, Gefahr und tödliche Bedrohung liegen geradezu in der Luft. Gleichwohl erzählt er die Geschichte der Wetterspitze, die einst ein Wachtturm des Nördlichen Königreichs bekrönte. Von dort soll Elendil nach Gilgalad Ausschau gehalten haben, in den Tagen des Letzten Bündnisses hoffte ein Mensch auf die Ankunft des verbündeten Elbenherrschers. Als Streicher davon nicht weiter erzählen will, gibt er in „leisem Singsang“ die Liebesgeschichte von Tinúviel wieder, eine „schöne Geschichte, obwohl traurig wie alle Geschichten aus Mittelerde“. Was aber sind das alles für Geschichten, und wohin führen sie die Leser?

Die wirkliche Mittelerde

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