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„Und dann geschah eigentlich nichts mehr“ – ein Professorenleben

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Nicht dass die ersten drei Lebensjahrzehnte des 1892 im südafrikanischen Bloemfontein geborenen John Ronald Reuel Tolkien entbehrungsfrei und ereignisarm gewesen wären. Da war der frühe Tod seines Vaters, der als Bankangestellter nach Südafrika gegangen war, die wirtschaftlichen Nöte der Witwe, die schließlich selbst 1904 starb und J. R. R. sowie dessen ein Jahr jüngeren Bruder zurückließ. Dann schließlich die furchtbaren Erlebnisse des Weltkrieges, die Tolkien 1916 auf den nordfranzösischen Schlachtfeldern hatte. Das Schicksal vieler Freunde – der Tod im Krieg – blieb ihm erspart: Wegen „Grabenfiebers“ kehrte er nach England zurück.

In England knüpfte er an das an, was man eine wissenschaftliche Karriere nennen kann. Denn 1911 hatte er in Oxford mit dem Studium der klassischen Sprachen Griechisch und Latein begonnen, wechselte zwei Jahre später zur englischen Philologie und schloss deren Studium 1915 erfolgreich ab. Nach Fronteinsatz und langwieriger Erkrankung widmete er sich wieder seinen wissenschaftlichen Interessen. Seit 1918 konnte er seinen Lebensunterhalt als Mitarbeiter am größten englischen Wörterbuch verdienen, dem Oxford English Dictionary. Und dann ging es eigentlich Schlag auf Schlag: Zwei Jahre später erhielt er eine Dozentenstelle an der Universität der nordenglischen Industriestadt Leeds, wo er 1924 Professor für englische Sprache wurde. Ein Jahr später folgte er einem Ruf nach Oxford, wo er 34 Jahre als Professor lehrte, zuerst als Hochschullehrer für Anglo-Saxon Studies, das Altenglische also, und seit 1945 für englische Sprache und Literatur. 1959 wurde er pensioniert.

Das war’s. Treffender als Tolkiens Biograf Humphrey Carpenter kann man dieses akademische Leben kaum beschreiben: „Und dann, so könnte man sagen, geschah eigentlich nichts mehr. Tolkien kam wieder nach Oxford, war dort zwanzig Jahre lang Rawlinson- und Bosworth-Professor für Angelsächsisch, wurde dann zum Merton-Professor für englische Sprache und Literatur gewählt, ließ sich in irgendeinem Oxforder Vorort nieder, wo er die ersten Jahre nach seiner Pensionierung lebte, zog dann in ein Seebad, über das auch nichts zu sagen ist, kehrte nach dem Tod seiner Frau nach Oxford zurück und starb dort im Alter von 81 Jahren eines friedlichen Todes. Es war ein normales, belangloses Leben, gleich dem zahlloser anderer Gelehrter, gewiss mit akademischen Ehren, doch nur in einem sehr engen Fachgebiet, das für den Laien eigentlich kaum von Interesse ist.“ (Carpenter, S. 133)

Sein Privatleben blieb von Skandalen und Katastrophen verschont. Tolkien heiratete 1916 seine große Liebe Edith, die er bereits acht Jahre vorher kennengelernt hatte. Gegen alle Widerstände setzte sich das junge Paar durch, und seine Ehe hatte bis zu Ediths Tod 1971 Bestand. Von den drei Söhnen und der einen Tochter gewann später insbesondere der 1924 geborene Christopher Reuel für die Arbeit seines Vaters große Bedeutung. Nicht nur, dass auch er Professor für Altenglisch – und Altnordisch – wurde; nach dem Tod seines Vaters 1973 nahm er sich dessen umfangreichen Werkes an und wurde gleichsam dessen literarischer Nachlassverwalter.

Tolkiens Alltag füllten Familien- und Berufsleben reichlich aus. Das Letztere wurde vom Unterricht geprägt, aber auch von Gremiensitzungen und hochschulpolitischen Diskussionen. Den akademischen Prüfungen und Korrekturen folgten nicht selten Korrekturen von Abiturabschlussarbeiten, die er übernahm, um sein Professorensalär aufzustocken. Dem Laien mag Tolkiens grundsätzliches Engagement für sein Fach nicht immer nachvollziehbar sein. Er nahm die Beschäftigung mit dem Alt- und Mittelenglischen sehr ernst, was insbesondere für das ältere Angelsächsisch galt, die Sprachen der germanischen Angeln und Sachsen also. Diese wanderten seit dem 5. Jahrhundert auf der britischen Hauptinsel ein und gaben später deren größtem Teil den Namen England (Land der Angeln). Der Oxforder Gelehrte identifizierte sich geradezu mit dieser Epoche der englischen Geschichte, die 1066 mit der Invasion des normannischen Heeres unter Wilhelm dem Eroberer ihr Ende fand. Dessen französische Sprache wurde über Jahrhunderte die Sprache der Oberschicht – kein Wunder also, dass Tolkien ihr wenig Sympathie entgegenbrachte und noch im Mittelenglischen die Spuren der angelsächsischen Vergangenheit suchte.

Tolkien verstand sich als Philologe mit Haut und Haaren, wobei er seine Wissenschaft zuallererst als Sprachgeschichte verstand. Natürlich beschäftigte er sich auch mit der Literatur, am wichtigsten war ihm allerdings das Studium der Sprachen. Deshalb sollten seine Studenten gründlich das Alt- und Mittelenglische üben. Er gab es gerne zu: Sein Faible für Sprachen ging weit über das Angelsächsische hinaus, auch das Altnordische schätzte er, und eine besondere Zuneigung brachte er dem Finnischen, dem walisischen Kymrisch und dem längst ausgestorbenen Gotisch entgegen. Wenn er in der letztgenannten Sprache eigene Texte schrieb, zeigt dies, wie ernsthaft und gleichzeitig spielerisch er sie nahm. Von dort war es an sich nur noch ein kleiner Schritt zur Erfindung eigener Sprachen. Auch hierbei wusste übrigens W. H. Auden in besagter Festschrift den Jubilar richtig einzuschätzen. Stellte er doch seiner Ode einen Aphorismus des Wiener Publizisten Karl Kraus voran: „Die Sprache ist die Mutter, nicht die Magd des Gedankens.“

Tolkien war ein geachteter Wissenschaftler und geschätzter Kollege, den allerdings sein Perfektionismus und sein Hang, sich wortwörtlich zu verzetteln, charakterisierten: Trotz seines profunden Wissens musste er manche Vorlesungsreihe vorzeitig abbrechen, weil er mit der Vorbereitung nicht fertig wurde. Ebenso erging es seinen Publikationen; Aufsätze und sogar ganze Bücher blieben über Jahrzehnte liegen oder erschienen nie. Was zur Folge hatte, dass der Umfang seiner Fachpublikationen recht überschaubar blieb. Darunter befinden sich aber Veröffentlichungen, die es in sich haben, so der 1936 erschienene Aufsatz Beowulf: The Monsters and The Critics („Beowulf: Die Monster und die Kritiker“). Das altenglische Beowulf-Epos war nämlich sein Parade-Text, dessen Einschätzung er in neue Bahnen lenkte. Hochgeschätzt wurde er auch als Herausgeber der gegen 1400 entstandenen mittelenglischen Ritterromanze Sir Gawain and the Green Knight („Sir Gawain und der grüne Ritter“), deren Handlung im Umkreis König Arthurs spielt. Typisch für Tolkien, dass er sein Augenmerk auf die sprachlichen Spuren der Vergangenheit richtet, die er hier zu finden glaubt. Bei aller Wissenschaftlichkeit scheint ihn auch Persönliches anzutreiben, versucht er doch in einigen Texten, die alte Sprache der westlichen Midlands ausfindig zu machen, wo er seine Jugend verbracht hatte.

Das Studium der alten englischen Sprache und ihrer Dialekte war für Tolkien insofern keine akademische Belanglosigkeit. Für ihn hatte dies viel zu tun mit der Identität seiner Heimat England. Energisch wehrte er sich gegen die Verharmlosung und Herabsetzung seines Fachs. Es ärgerte ihn außerordentlich, als er auf dem Klappentext des 1937 erschienenen „Hobbits“ lesen musste, „ein Professor aus einem abstrusen Fachgebiet mache sich ans Spielen“. Und seinem Verlag Allen & Unwin schrieb er, Wirtschaftsspanisch sei für ihn noch abstruser als Altenglisch.

Aber dem Spielen war Tolkien nicht abgeneigt. Bevor wir vom größten Spiel seines Lebens hören, mögen ihn einige glaubwürdige Anekdoten als spleenigen Engländer kennzeichnen: Am liebsten sah er sich als konservativen Landbewohner, den es vor den großen Städten grauste – in England erheblich weniger exzentrisch als die Tatsache, dass er gläubiger Katholik war. Demzufolge sah er seine nichtwissenschaftlichen Werke durchaus als christlich, um nicht zu sagen katholisch inspiriert und geprägt an. Nichts Ungewöhnliches lag darin, den Professor mit seinen Kindern in aller Öffentlichkeit herumtollen zu sehen (in seiner Zeit keine Selbstverständlichkeit!). Und bei Silvesterfeiern verkleidete er sich standesgemäß als angelsächsischer Krieger und stürmte mit einer Streitaxt durch die Nachbarschaft oder hängte sich einen Kaminvorleger um. Klassisch geworden ist die Geschichte, wie er in vorgerücktem Alter Kassiererinnen mit dem Geld sein Gebiss in die Hand drückte. Er selbst sprach von seinem „einfachen Sinn für Humor (den sogar meine wohlwollenden Kritiker als störend empfinden)“. Dieser Humor zeigte sich auch in seinen Vorlesungen, wenn er mit dröhnendem Hwaet! (altenglisch „fürwahr, wahrlich“) den Hörsaal betrat. Mit diesem Zitat erinnerte er an den Anfang des Beowulfs, wo ein Sänger von den Taten der Vorzeit kündet und von ruhmreichen Königen und Helden. Kein Wunder also, dass sich einer seiner Studenten daran erinnert: Tolkien konnte den Saal gleichsam in eine Methalle verwandeln, mit sich selbst als Barden und den Studenten als schmausenden Gästen.

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