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Von Monstern, Engeln und Zaubersprüchen – die altenglische Literatur

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Geheimnisse und Rätsel finden sich in den Dichtungen der Angelsachsen, die als altenglische Literatur zusammengefasst werden und Texte vom ausgehenden 7. bis ins 11. Jahrhundert umfassen. Tolkiens „abstruses Fachgebiet“ bietet die früheste und reichste germanische Überlieferung, und sie zeichnet sich besonders aus. Denn während unter den „deutschen“ Stämmen des Frankenreichs die geistlichen Gelehrten überwiegend lateinisch schrieben und die vorchristlichen Relikte wenig achteten, griff man in England mit der letztlich im 7. Jahrhundert obsiegenden Christianisierung ohne Scheu auf alte Traditionen zurück. Dazu zählte in erster Linie der Stabreim, mittels dem die Germanen Wörter gleichen Anlauts verbanden. Die altenglische Stabreimdichtung kennt genaue Reim- und Akzentregeln und verwendet den vorchristlichen Wortschatz einschließlich reicher Umschreibungen. Dunkle Wörter hohen Alters lernte der Anglist Tolkien hier zuhauf kennen. Das bedeutete aber auch, dass man die einheimischen Sprachen durchaus würdigte und sie verschriftlichte. Bereits Caedmon, ein Mönch des northumbrischen Klosters Whitby, der als „Vater der altenglischen Dichtung“ gilt, verfasste im 7. Jahrhundert einen Hymnus in seiner Muttersprache. Beda Venerabilis, der berühmteste Gelehrte seiner Zeit, schrieb zwar überwiegend lateinisch, hatte aber vor dem Gebrauch des Altenglischen keine Scheu. Und König Alfred der Große, selbst gelehrt und des Lateinischen mächtig, ließ gegen Ende des 9. Jahrhunderts angelsächsische Texte niederschreiben oder sogar aus dem Lateinischen übersetzen. Demzufolge entstanden Bibelübersetzungen, Predigten, Hagiografien, aber auch Geschichtswerke wie die „Angelsächsische Chronik“, eine der wichtigsten historischen Quellen jener Zeit. Hinzu kamen biblische Bücher wie „Genesis“ und „Exodus“, aber auch der seltsame „Traum des Kreuzes“ (Dream of the Rood), eine Vision um das Heilige Kreuz Christi, dessen Text ungewöhnlicherweise auf dem monumentalen Steinkreuz von Ruthwell zitiert wird. Selbst in diesen Texten gehen christliche Lehre und heidnische Elemente wie Wortschatz und Motive eine Verbindung ein.

Einen besonderen Schatz der altenglischen Überlieferung stellen die einzigartigen Elegien dar, kurze Gedichte, in denen sich ein lyrisches Ich beklagt über die trostlose Gegenwart im Gegensatz zu einer glücklichen und ruhmvollen Vergangenheit. Hier treffen die Melancholie heidnischer Zeiten und christliche Klage über die Eitelkeit der Welt einen Ton, der seinesgleichen sucht und Tolkiens schwermütiges Mittelerde-Bild beeinflusst haben dürfte. So klagen Herumziehende, ein Wanderer und ein Seefahrer, über den Verlust von Freunden und Verwandten (The Wanderer, The Seafarer); eine einsame, von allen verlassene Frau sehnt sich nach dem in Verbannung lebenden Ehemann (The Wife’s Lament); und in The Ruin wird eine ganze Ruinenstadt in Verfall und Trostlosigkeit geschildert. „Deors Klage“ (Deor’s Lament) führt unmittelbar in die alte Kriegerherrlichkeit Mittelerdes zurück, denn darin klagt der Skop (Dichter) Deor, dass er als Hofsänger von einem Konkurrenten verdrängt worden sei. Betrübt sucht er Trost bei den Heroen der germanischen Heldensage, die ähnliches Ungemach erlitten, so Wieland der Schmied und Dietrich von Bern.

An die hundert überlieferte Rätsel beschreiben Aspekte des Alltagslebens, Zaubersprüche enthalten Relikte des alten magischen Denkens, Merkdichtung zählt Wissen auf, das ursprünglich im Gedächtnis behalten wurde. Bedeutend und altertümlich ist darunter Widsith („Der Weitgereiste“), das wahrscheinlich aus dem 7. Jahrhundert stammt. Darin erzählt ein germanischer Skop von seinen Reisen und führt einen Katalog von rund 140 Namen auf: von Herrschern, Stämmen und Völkern, die er angeblich als Sänger besucht hat. Sie stammen aus der Bibel, aber insbesondere aus der einheimischen Überlieferung. Dazu zählen die Namen des Ostgotenkönigs Eormanric (Ermanarich), des Langobardenherrschers Aelfwine (Alboin), von Hrothgar, Ingeld und Offa, deren Namen auch im Beowulf überliefert werden.

Solche Namen verweisen auf die Heldensagen, die unter den Germanen zwischen Oberitalien und Grönland über viele Jahrhunderte erzählt wurden. Die Überlieferung der Angelsachsen nimmt daran in einem bedeutenden Maße teil. Dazu trägt vor allem der Beowulf bei, ein langes Heldenepos, das nach seinem Protagonisten benannt ist („Bienen-Wolf“ ist eine Umschreibung des Bären) und von Tolkien außerordentlich geschätzt wurde. Dieser betonte immer wieder, wie viel an Anregungen er dem Text zu verdanken habe. Im Mittelpunkt der um 1000 niedergeschriebenen, aber wohl bereits im 8. Jahrhundert entstandenen Dichtung stehen zwei Heldentaten: Der junge Beowulf, Neffe des südschwedischen Gautenkönigs Hygelac, reist mit seinen Kriegern nach Dänemark und bietet dessen König Hrothgar seine Hilfe an. Denn die allerorten gerühmte Halle Heorot wird seit zwölf Jahren nachts von dem Moorungetüm Grendel heimgesucht, dem zahlreiche Gefolgsmänner des Herrschers zum Opfer fielen. Beowulf jedoch stellt sich dem Monster entgegen und reißt ihm nach hartem Kampf einen Arm aus, worauf Grendel tödlich verletzt die Flucht ergreift. Nach einer großen Siegesfeier taucht in der nächsten Nacht Grendels Mutter auf und tötet erneut einen Krieger. Beowulf verfolgt sie bis zum unheimlichen Grendelsee, in den er hinabtaucht und die Unholdin tötet. Reich beschenkt und geehrt kehrt der junge Gaute zu König Hygelac zurück, dessen Nachfolger er wird. Nachdem er 50 Jahre lang geherrscht hat, verheert ein Drache sein Reich. Der mittlerweile greise Beowulf stellt sich ihm entgegen und kann ihn mit der Hilfe des jungen Wiglaf töten. Der König erleidet jedoch so schwere Verwundungen, dass er wenig später stirbt. Sein Leichnam wird feierlich verbrannt und in einem Grabhügel beigesetzt.

So weit die vordergründige Handlung, der mancher Wissenschaftler eine gewisse Seichtheit unterstellte. In der Tat ist Beowulf ein mustergültiger Held, was ihn von anderen Heroen der germanischen Heldensage unterscheidet. Dort herrschen üblicherweise Verrat und Hinterhalt, Zwist unter Verwandten, Mord und Totschlag, wofür beispielhaft die Geschicke Siegfrieds und der Nibelungen stehen. Wahrscheinlich hat ein Kleriker das Epos in der überlieferten Form verfasst. Den zerrissenen heidnischen Vorzeithelden stellte er einen guten, uneigennützigen Kämpfer gegenüber, der auf die christlichen Ideale verweist. Aber Beowulf bietet noch viel mehr: Die Handlung enthält nämlich zahlreiche Abschweifungen, die als Vor- oder Rückschau bzw. Andeutungen eingehen auf andere Personen, Motive respektive Ereignisse aus Beowulfs Leben und aus weiteren germanischen Heldensagen; etwa auf König Hygelacs Heerzug nach Friesland, wo er den Tod findet, auf den Schmied Wieland und den Drachentöter Sigmund. Dadurch entsteht eine Tiefe voller Geschichten, wie sie Tolkien schätzte und bekanntlich in seinen Werken anwandte. Auffallenderweise spielt sich die Handlung des englischen „Nationalepos“ (so eine später beliebte Einschätzung) im südlichen Skandinavien ab, auf der dänischen Insel Seeland und in Südschweden. Eine zufriedenstellende Erklärung dafür hat sich bislang nicht gefunden. Aber womöglich hatte dies mit dem Wissen darum zu tun, dass die angelsächsischen Vorfahren aus Norddeutschland und Jütland kamen und somit aus der Nähe des Sagenortes. Den Vorwurf der Oberflächlichkeit des Beowulf, der sein Hauptaugenmerk auf Monster und Drachen richte, hat Tolkien übrigens zurückgewiesen. In seinen vielbeachteten Ausführungen „Beowulf: Die Ungeheuer und ihre Kritiker“ verwies er auf die poetischen Qualitäten des Epos, das mehr sei als eine fade Zusammenstellung alter Sagen.

Welcher Reiz von diesen Relikten ausgeht, zeigen die Fragmente des Liedes vom „Kampf in der Finnsburg“, die unter anderem im Beowulf wiedergegeben werden. Ihnen zufolge ist der Friesenkönig Finn mit der dänischen Prinzessin Hildeburg verheiratet. Als ihr Bruder König Hnaef sie mit seinen Gefolgsmännern besucht, werden sie nachts von den Friesen angegriffen. Sie verteidigen sich fünf Tage lang in der Königshalle, wobei die Friesen große Verluste erleiden. Während der blutigen Kämpfe fallen Hnaef sowie Finns Sohn. Schließlich vereinbart man Frieden, und während des Winters teilen sich Dänen und Friesen die Halle. Zu Frühlingsbeginn brechen jedoch die Kämpfe wieder aus; Finn fällt dabei und die Friesen unterliegen. Die Dänen kehren mit den erbeuteten Schätzen und Hildeburg in die Heimat zurück. Geschichten um Heroen und Krieger hörte man offensichtlich gern: Der nur auf zwei Pergamentblättern als Fragment erhaltene Waldere erzählt die auch andernorts überlieferte Geschichte Walthers von Aquitanien. Während dort auf eine ferne Vergangenheit verwiesen wird, ist die „Schlacht von Maldon“ ein unmittelbares Zeitgedicht über ein blutiges Zusammentreffen von Angelsachsen und Wikingern im Jahr 991.

Die reiche Überlieferung blieb in vier Manuskripten erhalten, die um das Jahr 1000 geschrieben wurden: Der Nowell-Codex, als einzige Handschrift des Beowulf im Britischen Museum in London, die Caedmon-Handschrift in Oxford, das Exeter-Buch und das Manuskript in der Dombibliothek des norditalienischen Vercelli enthalten den größten Teil der altenglischen Literatur. Die Ausgaben dieser Werke boten Tolkien Zugang zur wirklichen Mittelerde des Frühen Mittelalters.

Die wirkliche Mittelerde

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