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Der Bücherschrank des Elbenfreundes Der wirkliche Earendel und die schriftliche Überlieferung

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Für die Erschließung der historischen Mittelerde ist man auf archäologische Funde angewiesen wie das Schiffsgrab von Sutton Hoo oder die Wikingerschiffe von Oseberg und Gokstad. Diese haben allerdings einen Nachteil: Weder erzählen sie Geschichten noch überliefern sie Namen. Dazu bedarf es schriftlicher Überlieferungen. Sie waren die Quellen des Philologen Tolkien; er griff nicht zum Spaten, sondern zum Buch. Diesen Weg wollen wir im Folgenden auch beschreiten und uns in eine virtuelle Bibliothek begeben. Darunter soll nicht der persönliche Bücherschrank des Oxford-Professors verstanden werden. Hier interessiert die schriftliche Überlieferung, die den Zugang zur wirklichen Mittelerde erschließen hilft – das meiste davon kannte Tolkien ohnehin.

Eine Schwierigkeit tut sich allerdings dabei auf: Die Germanen und Kelten kannten mit ihren Runen und den Ogam-Zeichen durchaus eine Schrift, die sie für kurze Inschriften verwendeten. Ansonsten lebten sie jedoch in oralen Kulturen, in denen alles mündlich überliefert wurde. Dazu gehörten Heldenlieder, Preislieder und Zaubersprüche, aber auch Erzählungen von den Vorfahren, Genealogien der Herrscherfamilien und Welterklärungen. Die Gedächtnisleistungen schriftloser Gesellschaften sind beachtlich und können Jahrhunderte überdauern. Gleichwohl wüsste man wenig von Mittelerde, wenn die christlichen Missionare nicht ihr lateinisches Alphabet und das Buch in den Norden gebracht hätten: Nach Irland dürfte die Schrift bereits um 500 gekommen sein, in Skandinavien setzte sich das Buch erst 600 Jahre später durch. Wer schrieb, war also Christ und zumeist gelehrter Kleriker. Das teure Pergament aus Tierhäuten verwendete man demzufolge, um biblische Texte, Predigten und gelehrte Schriften niederzuschreiben. Manchmal grenzt es ans Wunderbare, dass die frommen Klosterbrüder trotzdem Vorchristliches hinzusetzten, wie etwa die „Merseburger Zaubersprüche“ oder das Heldenlied von Hildebrand. In England schrieb ein Geistlicher das umfangreiche Heldenepos des Beowulf, in dem er in Anspielungen und Zitaten auf die verloren gegangene Welt der barbarischen Heroen verwies. Man rechtfertigte dies durch eine Verchristlichung bzw. Anpassung der traditionellen Überlieferungen. Ein Beispiel: Im 9. Jahrhundert schrieb ein bairischer Mönch ein Gedicht nieder, das vom Jüngsten Gericht handelt. Um den Untergang der Welt zu verdeutlichen, griff er auf das Wort Muspille zurück, mit dem die Germanen ihre Vorstellungen eines großen Weltenbrandes bezeichneten. Der christliche Kontext bewahrte also ein altes Wort, das sonst vergessen worden wäre.

Derartige Phänomene faszinierten Tolkien, sodass er sich ihnen als Wissenschaftler, aber auch als Mythenerfinder und Schriftsteller widmete. Dies zeigt sich bei Earendel, der den mutmaßlichen Anfang von Tolkiens Mythenwelt darstellt. Er stieß auf diesen Namen in einem christlichen altenglischen Gedicht, das im 10. Jahrhundert aufgezeichnet worden war. Das Gedicht erhielt später den Titel Christ I or The Advent Lyrics, weil darin die Propheten und Patriarchen vor der Ankunft Christi in der Hölle einen Gesandten erflehen, der sie vor dem „dunklen Schatten des Todes“ retten soll. Sie begrüßen Earendel als hellsten der Engel, den Menschen über Mittelerde (middangeard) gesandt. Damit war der Morgenstern gemeint, hier in Verbindung mit der Hoffnung auf Erlösung. Tolkien war klar, dass diese Bezeichnung nicht aus dem christlichen Umfeld stammte, sondern einheimischer Herkunft war. Und in der Tat findet sich der Ausdruck auch in anderen germanischen Sprachen, so bei den Langobarden Norditaliens als Personenname Auriwandalo und später als althochdeutsch Orentil. In den Jahrzehnten um 1200 taucht er sogar mehrmals auf. Bei dem dänischen Gelehrten Saxo Grammaticus in der lateinischen Form Horwendillus als Vater des Amlethus (aus dem Shakespeare später Hamlet machte). Sein jüngerer isländischer Zeitgenosse Snorri Sturluson erzählt von Aurvandill immerhin eine kurze Episode. Ihrzufolge war er der Mann einer Seherin Groa, den der Asengott Thor einstmals in einem Korb auf seinem Rücken aus dem Riesenheim im Norden trug. Dort oben in der eisigen Kälte fror Aurvandill ein herausragender Zeh ab, woraufhin ihn Thor nahm, in den Himmel warf und daraus einen Stern machte. Weit entfernt von Island findet sich wenige Jahrzehnte vorher der Name an der Mosel. Dort hatte der Erzbischof von Trier die wertvolle Reliquie des Heiligen Rockes Jesu in den Dom überführen lassen. Deswegen schrieb ein unbekannter Dichter eine Legende um den „Grauen Rock von Trier“. Ihre Hauptfigur ist Orendel – so die mittelhochdeutsche Form von Earendel –, ein Trierer Königssohn, der sich auf die weite Fahrt ins Heilige Land begibt, um eine Braut zu werben. Dabei stößt er im Bauch eines Wals auf den grauen Wunderrock, den er schließlich sogar selbst trägt. So weit die abenteuerliche Dichtung aus dem Moselland.

Was haben all diese Geschichten um den Namen Earendel miteinander zu tun, was steht dahinter? Eine Frage, die Tolkien mit seiner eigenen Mythologie beantwortete. Die Wissenschaft tut sich damit schwerer. Bereits über die Herkunft und Bedeutung des Namens herrschte Unklarheit, so brachte man etwa „Gold“, „Schlamm“ und „Licht“ ins Spiel. Bei Letzterem blieb es dann, sodass man das altnordische Aurvandill am ehesten als „Lichtstrahl“ verstehen möchte. Immerhin: In England und auf Island verband man den Namen mit einem Stern, wovon der Moseldichter nichts mehr wusste. Oder drückt das Tragen des Heiligen Rockes eine gewisse Nähe zum Erlöser aus?

Bereits Jacob Grimm, der Altmeister der Germanistik, gab sich in seiner „Deutschen Mythologie“ ziemlich ratlos. Er sprach in solchen Fällen gern von „alten dunklen Namen“, was Tolkien aus dem Herzen gesprochen sein dürfte. Was bleibt, ist ein alter Sternenname, der zurückführt in jene Zeit, als Mittelerde Wirklichkeit war. Die Literatur ist voll von solchen geheimnisvollen Geschichten.

Die wirkliche Mittelerde

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