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Texte aus der Anderwelt – die Dichtungen der Iren und Waliser

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Mittelerde wäre ohne die Kelten schwerlich denkbar, obwohl sie eine andere Geschichte und Kultur als die Germanen hatten. Im westlichen und südlichen Europa gehörten sie zu den Verlierern, die trotz ihrer entwickelten Zivilisation unterworfen, vertrieben oder assimiliert wurden. Übrig blieben um die Mitte des 1. Jahrtausends die Inselkelten, deren größte Völker die Iren, Schotten, Waliser sowie Bretonen stellten, Letztere übrigens aus England auf der Flucht vor den Angelsachsen in die Bretagne ausgewandert. Gern sagt man der keltischen Mentalität Melancholie nach, Weltabgewandtheit, Uneinigkeit und Abstrusität. Solcherart Geist würde gut zu Tolkiens Mittelerde passen, und grundsätzlich hat er dies auch nicht abgelehnt. Aber obwohl er die kymrische Sprache des benachbarten Wales überaus schätzte und gern nach Irland reiste, die keltische Welt war nicht seine ureigenste; dafür fühlte er zu sehr als Angelsachse … und deren Stämme befehdeten und vertrieben die Kelten der Britischen Inseln.

Aber insbesondere in Irland lebte ihre Kultur fort, niemals von Römern unterworfen und erst im 9. Jahrhundert von den Wikingern ernsthaft bedroht. Dort herrschten noch Verhältnisse wie Jahrhunderte früher auf dem Kontinent. Das irische Wesen veränderte sich selbst dann nicht grundlegend, als die Insel im 5. Jahrhundert christlich wurde. Seitdem übernahmen die Geistlichen viele Aufgaben der Druiden, die mündliche Dichtkunst wurde weiterhin von den Poeten der filid gepflegt. Zur Überlieferung gehörten Gesetze, magische Beschwörungen nebst Flüchen, Herrscherlob, Schmähstrophen und Texte, die Wissenswertes erhielten und weitergaben. Die umfangreichsten Dichtungsgattungen stellten Götter- und Heldensagen, denen man teilweise ein hohes Alter bescheinigt. Seit etwa 700 scheinen derartige Texte aufgezeichnet worden zu sein, aber erhalten blieb davon nichts. Hunderte von Prosageschichten kannte man, übrig blieben letztlich etwa 130. Aus der Zeit um 1100 stammen die ersten Sammelhandschriften, so das „Buch der dunklen Kuh“ (Lebor na hUidre), Irlands älteste Sagenhandschrift mit dem Heldenroman „Der Rinderraub von Cooley“ (Táin Bó Cuailnge). Etwa 60 Jahre später entstand die umfangreichste Handschrift von Helden und Mythen, das „Buch von Leinster“ (Lebor Laignech). Darin werden unter anderem die Geschichten des Helden Finn mac Cumaill und eine Historie Irlands von Noah bis 1150 überliefert, das „Buch von der Landnahme Irlands“ (Lebor Gabála Érenn). Letzteres enthält Mythenreste, in denen es von Dämonen und Feen nur so wimmelt, wo aber keine heidnischen Gottheiten wie in der Edda auftreten. Diese Verfremdung machte es christlichen Schreibern möglich, die alten Sagen niederzuschreiben.

In der Folgezeit entstand eine Vielzahl von Codices mit Sammlungen. Deren Überlieferung ist so verwirrend, dass man sie in vier Zyklen zusammenfasst: Der „Mythologische Zyklus“ um das „Buch von der Landnahme Irlands“ gilt als wichtigste Quelle der keltischen Mythologie. Sein geistlicher Verfasser folgt dem christlichen Weltbild: Sechs große Einwanderungswellen prägen demnach die Geschichte der Insel, darunter die einer Tochter Noahs, von dämonischen Monstern, den Vorfahren der Feen und schließlich der Kelten. Der „Ulster-Zyklus“ schließt chronologisch an die mythische Vorzeit an und schildert die Kämpfe zwischen den irischen Königreichen in der Zeit um Christi Geburt. Im Mittelpunkt steht die Geschichte des „Rinderraubs von Cooley“ (Táin Bó Cuailnge): Ailill und Medb, das Königspaar von Connacht, raubt Donn, den berühmtesten und unvergleichlichen Stier der Nachbarprovinz Ulster. Deren König Conchobar setzt jedoch mit seinem Heer nach und erringt einen überwältigenden Sieg. Dabei steht ihm mit seinem Neffen Cú Chulainn der größte Held Irlands zur Seite. Der „Finn-Zyklus“ handelt mehr als 200 Jahre später überwiegend im Süden Irlands. Sein Held Finn mac Cumaill ist der Anführer einer verschworenen Kriegerschar. Wenn sie nicht im Auftrag ihres Königs Cormac Kriege führen, leben sie in der freien Natur und erleben Liebeshändel oder Jagdabenteuer. Der abschließende „Königszyklus“ hat die Herrscher der Vorzeit bis ins 11. Jahrhundert zum Thema.

Auch im keltischen Wales pflegte man alte Traditionen. Barden des frühen Mittelalters genossen so großen Ruhm, dass ihre Gedichte und Abenteuer mündlich erzählt wurden. Noch später hörte man von den Hofpoeten an den Fürstensitzen von Wales. Selbst nach der englischen Eroberung gegen 1300 traten die kleinen Grundherren auf ihren Burgen als Förderer einheimischer Dichtkunst auf. Keltische Erzählungen blieben allerdings nicht in großer Zahl erhalten. Das Wissen um sie ist zwei Sammelhandschriften zu verdanken: dem „Weißen Buch des Rhydderch“ (Llyfr Gwyn Rhydderch), das um 1350 zusammengestellt wurde sowie dem „Roten Buch des Hergest“ (Llyfr Coch Hergest), etwa 50 Jahre später als umfangreichste Handschrift entstanden. Beide enthalten als Wichtigstes 11 bis dahin mündlich überlieferte Erzählungen, darunter „Die Vier Zweige des Mabinogi“ (Pedair Cainc y Mabinogi) mit Abenteuern im alten Britannien, bevor die Römer und die christlichen Missionare kamen. Ähnlich wie in Irland wird eine Welt adliger Krieger geschildert, in der heroische Tugenden zählen und die Helden Zugang zur Anderwelt der Feen haben. Folglich sind die Erzählungen voll von ihnen, von übernatürlichen Tieren, von Magie und geheimnisvollen Geschehnissen, von Gestaltwechseln und Motiven wie Zauberkesseln und abgeschlagenen Köpfen. Diesen Abenteuergeschichten glaubt man alte keltische Motive und vereinzelte Mythenelemente entnehmen zu können. Aber wie in Irland schrieben auch die walisischen Dichter des 14. Jahrhunderts keine Mythen nieder. Götter kommen bei ihnen nicht vor – allenfalls überirdische Bewohner einer parallelen Anderwelt oder Figuren, hinter denen alte Gottheiten vage hindurchschimmern. Das Ganze spielt sich in einer höfischen Welt ab, in der zeitgenössische Elemente mit märchenhaften Motiven sowie archaischen Relikten vermischt sind. Daraus entsteht das Bild einer fantastischen Welt des Mittelalters, wozu sich übrigens auch Texte um den sagenhaften König Arthur und seine Krieger gesellten. Dessen Abenteuer samt der Suche nach dem heiligen Gral genossen im hohen Mittelalter überall große Beliebtheit. Der Text „Sir Gawain und der grüne Ritter“ erweckte bekanntlich die Aufmerksamkeit des Anglisten Tolkien, der in der skurrilen Ritterromanze um abgeschlagene Köpfe die Relikte alter Überlieferungen erkennen wollte.

Die wirkliche Mittelerde

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