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Eddas und Sagas – die Dichtungen Skandinaviens

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Aber Tolkien schätzte auch die schriftliche Überlieferung Skandinaviens, die vor allem auf Island erhalten blieb. Als Hochschuldozent gründete er Zirkel wie den Viking Club, auf dessen Sitzungen altnordische Sagas gelesen wurden. Die Völsungasaga soll er bereits als Schüler verschlungen haben, doch dazu unten mehr. Obwohl die Schrift erst spät in den Norden gekommen war, breitete sie sich seit dem 12. Jahrhundert rasch aus. Dabei spielten die Isländer eine besondere Rolle. Ihre Insel besiedelten um 900 Einwanderer aus Norwegen und Irland, die ein Jahrhundert später auf dem Allthing, der Versammlung der freien Männer, die Annahme des Christentums beschlossen. In den folgenden 200 Jahren wurden im Nordatlantik zwei Bischofssitze und etliche Klöster gegründet, außerdem entwickelten sich die Höfe einzelner Häuptlinge zu regelrechten Bildungszentren. Dort beherrschten auch Laien die Schrift und die lateinische Sprache. Etwas Ungewöhnliches kam hinzu: Schon bald schrieb man nämlich in der Muttersprache, die heute als altisländisch oder altnordisch bezeichnet wird. Zuerst biblische Texte und Übersetzungen, es folgten Gesetze und Geschichtswerke über die Landnahme und Einwanderung. Dann entsann man sich der noch immer gepflegten mündlichen Überlieferungen, die zurück bis in die Welt Mittelerdes führten. Dazu gehörten Gedichte und Strophen der Skalden, also von Meisterdichtern, deren Kunst nur noch auf Island gepflegt wurde. Heldenlieder erzählten von alten Sagenstoffen, wie sie auch die Angelsachsen kannten. Wiederum eine isländische Besonderheit stellten Lieder und Erzählungen über die vorchristlichen Gottheiten dar. Denn man hatte vor ihnen keine Scheu, sondern sah sie als Teil seines Erbes an. Hinzu kamen Geschichten, aus denen man in schriftlicher Form die Isländersagas und anderes verfasste. Dies alles gehörte zum isländischen Erbe, ohne das man nichts von den Mythen der Germanen wüsste – und damit von der wirklichen Mittelerde.

Im Mittelpunkt dieser Überlieferung steht eine Pergamenthandschrift von etwa 1270, die erst 1643 irgendwo auf Island wiederentdeckt wurde. Klein und unansehnlich ist dieser Codex, der wegen seiner Zugehörigkeit zur Königlichen Bibliothek in Kopenhagen bis heute Codex Regius (Königliche Handschrift) genannt wird, auch wenn er sich seit 1971 im Isländischen Handschrifteninstitut in Reykjavík befindet. Dem Inhalt nach ist er ein wahrer Schatz, denn der unbekannte Schreiber versammelte hier Götter- und Heldenlieder, die alte Mythen und Sagen enthalten. Am berühmtesten ist die „Weissagung der Seherin“ (Völuspá), in der eine Seherin dem Gott Odin vom Entstehen, Werden und Vergehen der Mythenwelt erzählt. In den folgenden Götterliedern stehen dessen und insbesondere Thors Abenteuer mit Riesen im Mittelpunkt. Mit den Helgiliedern beginnen die Heldenlieder, die skandinavische Erzählungen mit dem aus dem Süden stammenden Nibelungenstoff verbinden. Im Norden entstammen dessen Helden dem Geschlecht der Wölsungen, dessen berühmtester Sohn Sigurd (Siegfried) ist. Von seinen legendären Jugendabenteuern erzählen das „Reginn-“, „Fafnir-“ und „Sigrdrifalied“. Zudem enthalten die isländischen Lieder die Sage, wie sie auch aus dem mittelhochdeutschen „Nibelungenlied“ bekannt ist: Von Sigurds Vermählung mit Gudrun (Kriemhild), der Eifersucht Brynhilds, dem Komplott von Gudruns Brüdern und der Ermordung Sigurds. Im Norden erzählte man ebenso vom Burgundenuntergang, nur dass dort König Atli (Etzel) hinter dem Schatz seiner Schwäger Gunnar (Gunther) und Högni (Hagen) her ist. Die „Götter- und Heldenlieder der Älteren Edda“ sind unterschiedlichen Alters und teilweise sogar erst im 13. Jahrhundert gedichtet worden. Einige, wie das „Alte Atli-“, das „Alte Hamdir-“ sowie das „Wölundlied“, entstanden womöglich bereits im 9. Jahrhundert. Jedenfalls überliefern sie Mythen und Sagen, die bis ins 5. Jahrhundert zurückreichen.

Manche dieser Lieder kannte bereits Snorri Sturluson (1179–1241), der bedeutendste Gelehrte Islands im Mittelalter. Aus dem mächtigen Geschlecht der Sturlungen stammend, wuchs er auf dem südisländischen Hof Oddi auf und erfuhr dort eine grundlegende Bildung. Ihm werden mehrere literarische Werke zugeschrieben, so die Heimskringla, eine Geschichte der norwegischen Könige, und die „Saga von Egill Skallagrimsson“, Islands berühmtestem Skalden, den Snorri zu seinen Vorfahren zählte. Am bedeutendsten ist jedoch die Edda, eine altnordische Bezeichnung ungewisser Bedeutung (vielleicht „Urgroßmutter“), deren Name erst viel später auf die oben beschriebenen Götter- und Heldenlieder übertragen wurde. Snorris Edda (Snorra Edda, auch „Jüngere oder Prosa-Edda“) wurde kurz nach 1220 verfasst und blieb in vier Haupthandschriften überliefert, deren älteste um 1300 datiert wird. Snorri schrieb das Werk als Poetik, als Dichtungslehrbuch für Skalden, deren Überlieferung er erhalten, pflegen und weitervermitteln wollte. Der erste Hauptteil „Gylfis Täuschung“ (Gylfaginning) ist eine Mythografie der vorchristlichen Götter, deren Mythen, Namen und Motive für die Skalden von Bedeutung waren, etwa für die Kenninge, ihre komplizierten poetischen Umschreibungen. Snorri kleidet dies in die Form eines Dialogs, den der schwedische König Gylfi mit den nach Norden eingewanderten Asen führt. Diese spiegeln ihm jedoch eine Scheinwelt vor, in der er mehr von den heidnischen Mythen erfährt, so von der Entstehung der Welt und der göttlichen Asen und Wanen, der Riesen, Zwerge und Menschen. Des Weiteren von der Weltesche Yggdrasill, den Wohnsitzen der Götter und wie Odin die gefallenen Krieger in Walhall versammelt, um sie auf die Ragnarök vorzubereiten, das „Endschicksal der Götter“, bei dem die alte Welt untergeht und eine neue entsteht. Mit der „Sprache der Dichtkunst“ (Skáldskaparmál) schließt sich ein zweiter Hauptteil an, der als Stillehre dient und mit zahlreichen Strophenzitaten Beispiele für Synonyme und komplizierte Umschreibungen bringt. Dabei werden etliche Episoden aus Mythen und Heldensagen erzählt: der Skaldenmetmythos, der Raub der Göttin Idun, Thors Kämpfe mit Riesen, Lokis üble Streiche, Sigurds Jugendtaten, die Ermanarichsage, Sagen um die dänischen Könige Frodi und Hrolf kraki.

Obwohl die beiden Eddas die wichtigsten Zeugnisse vorchristlicher Überlieferungen darstellen, finden sich auch andernorts Reste davon. Tolkien schätzte insbesondere die erst nach der Mitte des 13. Jahrhunderts entstandene Völsunga saga, die ausführlich die Heldensagen von den Nibelungen erzählt, namentlich die Geschichte der Wölsungen. Über den Ahn Völsung wird die Sippe bis auf den Gott Odin zurückgeführt, der immer wieder in ihre Geschicke eingreift.

Eine andere dieser Vorzeitsagas (Fornaldarsögur), die in einer sagenhaften Zeit vor der Besiedlung Islands spielen, ist die „Saga von Herwör und König Heidrek“ (Hervarar saga ok Heiđreks konungs). Obwohl sie vielleicht erst im 14. Jahrhundert verfasst wurde, zitiert sie doch erheblich ältere Heldenlieder, die wie das „Hunnenschlachtlied“ bis in die Völkerwanderungszeit des 5. Jahrhunderts zurückreichen. Die Handlung spielt irgendwo in einem fabulösen Osten und findet ihr zentrales Motiv in dem fluchbeladenen Schwert Tyrfingr, das Agantyr von seinem Vater erbt. Als er im Kampf gemeinsam mit seinen Brüdern fällt, wird es ihm mit ins Grab gegeben. Seine Tochter erweckt den Toten, erhält das Schwert und schenkt es ihrem Sohn Heidrek. Dieser tötet damit seinen Bruder Agantyr und geht in die Fremde. Mit einer Königstochter hat er einen wiederum Agantyr heißenden Sohn. Nachdem er seinen Schwiegervater tötet und seine Frau Selbstmord begeht, unterliegt Heidrek dem unerkannten Odin in einem Wissenswettstreit. Nach seinem Tod kämpfen die Stiefbrüder Agantyr und Hlöd um das Erbe. Insofern übt das Schwert seinen Fluch über mehrere Generationen aus. Dieser abenteuerlichen Geschichte entnahm Tolkien viele Anregungen, und sein Sohn Christopher folgte diesem Interesse, indem er die Saga herausgab.

An den Heldensagen als Teil des Vermächtnisses von Mittelerde hat auch Norwegen Anteil. Denn im dortigen Bergen entstand um 1250 mit der „Saga Thidreks von Bern“ die umfangreichste Sammlung germanischer Heldensagen. Dafür greift sie auf niederdeutsche Erzählungen zurück, die westfälische Händler aus Münster und Soest nach Skandinavien brachten. Der Kern der Saga ist eine Biografie des ursprünglich süddeutschen Sagenhelden Dietrich von Bern, mit dem als Verwandte und Gefolgsleute zahlreiche Heldenfiguren einschließlich der Nibelungen verbunden werden. Man verknüpfte deren Sagen mit der von Wieland dem Schmied, denen des dänischen Helden Thetleif, mit Walther von Aquitanien und anderen. Diese Episoden werden angereichert durch Abenteuermotive wie Kämpfe gegen Riesen, Drachen, dämonische Wesen und Zwerge.

Die wirkliche Mittelerde

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