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Ein honorabler Professor und sein Spleen Der Barde des Angelsächsischen

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In Bibliotheken des Vereinigten Königreichs und anderer Länder steht ein Buch, dessen angestaubter Zustand zweierlei verdeutlicht: Es hat bereits etliche Jahrzehnte auf dem Rücken und wird selten ausgeliehen. Dies sollte verwundern, denn auf besagtem Buchrücken findet sich der Name J. R. R. Tolkien. Und gemäß der Inhaltsangabe geht es um Könige, die in den Krieg ziehen, „Schlange“ heißende Gelehrte, um Götter, Menschen, Monster und Magie. Also ein vergessenes Frühwerk des millionenfach gelesenen Fantasy-Autors Tolkien?

Mitnichten: Seine 340 Seiten verweisen auf die andere Seite des englischen Schriftstellers, der im bürgerlichen Leben Professor in Oxford war. Philologe nämlich, der sich als Sprach- und Literaturwissenschaftler mit der Überlieferung des mittelalterlichen Englisch beschäftigte. Ihm wurde im vorgerückten Alter das zuteil, was bei geachteten Forschern gang und gäbe ist: eine Festschrift, für die Kollegen Aufsätze beisteuerten. Unspektakulär und nüchtern war ihr Titel English and Medieval Studies („Englische und Mittelalter-Studien“), Presented to J. R. R. Tolkien on the Occasion of his Seventieth Birthday („Dargebracht J. R. R. Tolkien anlässlich seines 70. Geburtstags“). Das war 1962, als sich laut Tolkien in einem Brief an seinen Sohn Michael 22 Anglisten hinter seinem Rücken verschworen, um ihn zu ehren. Ganz genau genommen hat er es bei dieser Angabe nicht, denn unter den Schreibern befanden sich auch Skandinavisten, deren Fachgebiet das Altisländische war.

Wie auch immer – der respektable Forscherkreis widmete sich solchen Themen wie „König Alfreds letztem Krieg“, dem altnordischen Götterlied von Skirnir, ferner einer englischen Bibelauslegung des 12. Jahrhunderts, die ein Mönch namens Orm („Schlange“) niederschrieb, Magie auf einem angelsächsischen Friedhof sowie den Monstervorstellungen des Schiffsgrabes von Sutton Hoo.

Als Einleitung dieser Essays diente ein Gedicht des Lyrikers W. H. Auden, geborener Engländer, naturalisierter Amerikaner, der seit Langem mit Tolkien befreundet war und eine mehrjährige Professur für Dichtung in Oxford wahrgenommen hatte: A Short Ode to a Philologist („Kurze Ode an einen Philologen“). Diese Wissenschaft sei ihrer aller Königin und der Geehrte habe sich als Barde des Angelsächsischen erwiesen, also der altenglischen Sprache und Literatur. Wer weiß, ob er bei diesen Worten nicht noch etwas ganz anderes im Sinn hatte. Als wahrer Poet hatte sich Tolkien nämlich weniger in der Wissenschaft denn in seinen Romanen erwiesen, denen es zudem an Gedichten nicht mangelt. Auden kannte und schätzte den „Hobbit“ ebenso wie den „Herr der Ringe“. Eine Fotografie zeigt ihn im „Hobbit“ blätternd und in den letzten Seiten lesend. Dort vielleicht, wo Bilbo Beutlin schon lange wieder zu Hause ist und seine Memoiren schreibt, als ihn der Zauberer Gandalf und der Zwerg Balin besuchen. Abseits der „22 Anglisten“ würdigte Auden es womöglich als Einziger: In Tolkiens Gedankenwelt bildeten Wissenschaft und Fantasy eine Einheit, trafen sich Zauberer und Zwerge mit den Ungeheuern von Sutton Hoo.

Die wirkliche Mittelerde

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