Читать книгу Die wirkliche Mittelerde - Arnulf Krause - Страница 9

Heil Earendel, über Mittelerde den Menschen gesandt – die Welt dahinter

Оглавление

Diese Abschweifungen könnte man getrost als literarischen Trick bezeichnen, mit dessen Hilfe die Illusion von Vergangenheit und Tiefe hervorgerufen wird. Die Kunst der Andeutung wäre für Tolkien nichts Neues, sie gehört zum klassischen Repertoire der Weltliteratur und findet sich in der römischen Aeneis ebenso wie im altenglischen Beowulf, in dem neben der Haupthandlung zahlreiche Heldensagen erwähnt werden. Den besonderen Reiz solcher Andeutungen spricht er im Januar 1945 in einem Brief an den Sohn Christopher an. Es sei der „Ausblick auf endlose nicht erzählte Geschichten“, auf Berge in der Ferne, die man nie besteigt, auf ferne Bäume, denen man niemals näherkommt. Darin drückt sich ein Gefühl der Sehnsucht aus, die letztlich unerfüllt bleiben muss, um richtig „genossen“ zu werden. Darum verleihen die Geheimnisse von Mittelerde dem „Herrn der Ringe“ eine ganz eigene Faszination.

Der wachsenden Leserschar blieb um 1970 nichts anderes übrig, als sich von diesem Zauber gefangen nehmen zu lassen. Denn was dies für „endlose nicht erzählte Geschichten“ waren, wusste sie nicht. Für die Wissenden oder Ahnenden verbargen sie sich hinter einem Zauberwort: Silmarillion. Bereits 1938 fand es sich in Tolkiens Antwort auf einen Leserbrief an die Tageszeitung Observer. Als seine Quellen für den „Hobbit“ nennt er „Epen, Mythen und Märchen“, aber auch den Beowulf als eine seiner liebsten Quellen. Seine Erzählung stütze sich bewusst auf kein Buch, außer einem, das von ihm geschrieben und unveröffentlicht sei: „das Silmarillion, eine Geschichte der Elben, auf das oft angespielt wird“. Dieses Buch versuchte Tolkien immer wieder seinem Verleger Stanley Unwin schmackhaft zu machen, aber umsonst. Die prüfenden Lektoren rieten von der Unübersichtlichkeit und Unverständlichkeit des mit fremdsprachigen Namen angefüllten Manuskripts ab. Und so blieb Tolkiens Herzenswunsch bis zum Ende seines Lebens unerfüllt. Erst 1977 veröffentlichte Christopher Tolkien das Silmarillion. Sein Vater hatte nämlich bergeweise Manuskripte hinterlassen, Arbeiten, Entwürfe, Varianten und Notizen einer eigenen Fantasiewelt, von der Mittelerde nur ein Teil ist. Jahrzehntelang hatte er daran gefeilt, Mythen, Sprachen, Völkerlisten und Geschichten entwickelt und irgendwann regelrecht „gefunden“, wie er betonte. Das Silmarillion („Von den drei Edelsteinen der Silmarilli“) bietet gewissermaßen die Vorgeschichte zum „Hobbit“ und dem „Herr der Ringe“: etwa die Erschaffung Eas, des Universums, durch Ilúvatar, dem allmächtigen Gott, der mit den engelhaften Ainur höhere Wesen schuf. Von ihnen gingen die Valar und die Maiar nach Ea, um weiter die Schöpfung zu erfüllen. Später erweckten sie Zwerge, Elben und Menschen zum Leben. Das sogenannte Erste Zeitalter wird von den Elben bestimmt, von deren Wanderungen, Reichsgründungen und Kriegen gegen den bösen Melkor, Saurons Lehrmeister. Der Elbenvölker gab es viele, weniger entwickelte wie die Waldelben, wissbegierige und kunstfertige wie die Noldor, die sich im Lauf der Jahrtausende immer mehr von Mittelerde ins westliche Segensreich Valinor zurückzogen, und Elben, die bereits frühzeitig der Einladung der Valar nach Valinor gefolgt waren. Im Zweiten Zeitalter erlebte das Menschenreich Númenor weit draußen im Meer seine Blütezeit, das sich ehrgeizig gegen die Elben erhob und schließlich wie Atlantis unterging – Tolkien sprach von seinem Atlantis-Spuk. Die Lande im Westen konnten daraufhin nur noch über den „krummen Weg“ erreicht werden, der Menschen unzugänglich blieb, der einstige gerade Weg wurde der „verschollene Weg“.

In Mittelerde tobten derweil die Kämpfe der verbliebenen Elben und Menschen gegen Melkor und Sauron. Es war eine Zeit von Tapferkeit und Hinterhalt, von Verrat, Ehre und großer Liebe, eine Zeit, die im Laufe des Dritten Zeitalters zum Vordringen des Bösen führte, zum Untergang oder der Schwächung der Menschenreiche und zur Abwanderung der Hochelben, bis schließlich Galadriel die letzte Noldorfürstin in Mittelerde war. An diesem Universum feilte Tolkien seit jungen Jahren, sein Erbe Christopher machte daraus das Silmarillion und gab Folgebände mit Varianten heraus, wie sie in den Unfinished Tales of Númenor and Middle-Earth (1981, „Nachrichten aus Mittelerde“ 1983), The Book of Lost Tales (1983/84, „Buch der verschollenen Geschichten“ 1986/87) oder in der einzelnen Erzählung der Children of Húrin (2007, „Die Kinder Húrins“ 2007) vorliegen. Zusammengefasst wurde daraus die zwölfbändige History of Middle-Earth (1983–96, „Geschichte Mittelerdes“).

In der Tiefe des „Hobbits“ und des „Herr der Ringe“ verbarg sich also eine über Jahrzehnte gewachsene Mythenwelt. Tolkien erzählte und schrieb seinen Kindern gerne Geschichten, und irgendwann stolperte die eher kindlich-friedliche Figur des kleinen Hobbits Bilbo Beutlin in das Tolkien’sche Universum. Einem Leser schreibt Tolkien im Juli 1964, eigentlich sollte der Hobbit überhaupt nichts mit dieser „Geschichte der Älteren Tage“ zu tun haben. Er „hatte nicht notwendig einen Zusammenhang mit der Mythologie, wurde aber naturgemäß zu dieser meine Gedanken beherrschenden Konstruktion hingezogen, was die Geschichte in ihrem Fortgang weitläufiger und heroischer werden ließ.“ (Brief 257). „Der Herr der Ringe“ knüpfte bekanntermaßen daran an und nahm noch mehr von der mythischen Vorwelt auf. Tolkiens Mittelerde-Chronologie verdeutlicht die Kürze des Geschehens seiner Romane trotz ihres Umfangs. Danach begab sich Bilbo mit Gandalf und den Zwergen im Jahr 2941 des Dritten Zeitalters auf seine Abenteuerreise und kehrte im folgenden Jahr als gemachter Mann zurück. Knapp 60 Jahre später, 3001, verschwand er, und Frodo musste sich seinerseits 17 Jahre danach auf den Weg nach Mordor machen. Der Ringkrieg um das Schicksal von Mittelerde spielte sich innerhalb eines halben Jahres 3018/19 ab. Das späte Erscheinen der Hobbits gleicht somit einem Wimpernschlag in den Zeitaltern Mittelerdes, die nur einige Elben und uralte Wesen wie Tom Bombadil und der Baumhirte Baumbart überschauen.

Tolkien war Anfang zwanzig, als seine Mythenwelt nach eigenem Bekunden ihren Anfang nahm. Ihn inspirierte das Gedicht Crist des altenglischen Dichters Cynewulf, wo es an einer Stelle heißt: Eala Earendel, engla Beorhtast – ofer middangeard monnum sended. (“Heil Earendel, Strahlendster der Engel, über Mittelerde den Menschen gesandt.”). Er war ganz und gar begeistert – um nicht zu sagen bezaubert – von der Schönheit des Wortes Earendel. Er glaubte darin einen angelsächsischen Namen zu erkennen, der einen Stern bezeichnete, nämlich den Ankündiger der Morgendämmerung, also Venus: „Ich spürte einen merkwürdigen Schauder, als hätte sich etwas in mir geregt und wäre halb aus dem Schlaf erwacht. Etwas sehr Fernes, Fremdes und Schönes lag hinter diesen Worten, wenn ich es nur greifen konnte, weit hinter dem Altenglischen“ (Carpenter, S. 79). Aus Earendel („Lichtschein, Strahl“) wird bei ihm Earendil der Sternenschiffer, der am Morgen und Abend am Himmel erscheint. So jedenfalls findet er sich in einem Gedicht von 1914, The Voyage of Earendel the Evening Star („Die Reise von Earendel dem Abendstern“). In der Silmarillion-Welt macht Tolkien aus ihm einen Halbelben, der mit seinem Schiff über die Meere fährt und von den Valar auf die Reise über den Himmel geschickt wird.

In dieser Zeit arbeitete er auch an seinem „Unfug mit der Feensprache“ (my nonsense fairy language), wie er sein „höchst verrücktes Hobby“ selbst nennt. Allerdings in einem Brief an seine Braut Edith, in dem er sich womöglich übertrieben selbstkritisch gab. In Wahrheit schuf er eifrig eigene Kunstsprachen wie die Elbensprachen Gnomisch (später Sindarin) und Quenya, die dem Walisischen und Finnischen verpflichtet waren. Überhaupt bildeten derartige Sprachspielereien den Beginn seines Universums, denn nach eigenem Bekunden gehört zur Konstruktion einer Kunstsprache eine Mythologie („Die Sprache bringt eine Mythologie hervor.“). Und so entstanden lange vor den Abenteuern der Hobbits zahlreiche Geschichten, etwa von den Kindern Húrins, vom Fall der Elbenstadt Gondolin, von der Liebe des Menschen Beren und der Elbin Lúthien, von der Erschaffung der Silmarilli-Juwelen durch den kunstfertigen Elbenschmied Feanor sowie deren Raub durch Melkor. Von weit zurückreichenden, alten Geschichten erzählen die Eingeweihten im „Herr der Ringe“. Der Forscher erwies sich bereits in jungen Jahren als Poet, der, wenn irgend möglich, ein Gedicht veröffentlichte. Seit den 1920er-Jahren beteiligte er sich rege an literarischen Zirkeln in akademischen Kreisen. Zu seinen engsten Freunden gehörten etwa der Altskandinavist E. V. Gordon und der Literaturwissenschaftler C. S. Lewis, der mit den „Chroniken von Narnia“ selber Fantasy-Romane schrieb. Im Kreis der Inklinks („Tintenkleckser“) las Tolkien regelmäßig aus seinen Geschichten vor.

Die wirkliche Mittelerde

Подняться наверх