Читать книгу Goodbye, Bukarest - Astrid Seeberger - Страница 10
Auf der Insel, 16. November 2014
ОглавлениеLech wurde heute entlassen oder, wie er es ausdrückte, freigelassen. Er bat mich, langsam zu fahren, damit er alles eingehend betrachten konnte, während seine Hand auf meinem rechten Knie lag. Als wir zu Hause angekommen waren, machte er eine Runde durch all unsere Zimmer. »Gut, dass es sie noch gibt«, sagte er.
»Das Beste ist, dass es dich gibt«, sagte ich.
»Dass es uns gibt«, sagte Lech und nahm mich in seine Arme.
Am Nachmittag unternahmen wir einen kurzen Spaziergang, ganz langsam, nur die Allee vor und zurück. Von einer der alten Linden hatte sich ein Stück Rinde gelöst und das nackte Holz war sichtbar geworden. Lech fragte, ob ich mich an die Nelly-Sachs-Ausstellung im Jüdischen Museum erinnerte. War mir das Rindenstück von einer Platane im Gedächtnis geblieben, das dort in einer Vitrine lag? Paul Celan hatte es Nelly Sachs geschickt, als sie krank wurde. Sie solle die Rinde zwischen Daumen und Zeigefinger halten, schrieb er, und gleichzeitig an etwas Schönes denken. War es aus dem Grund, weil die Platane, selbst wenn sie schutzlos ist, nicht eingeht? Sie verliert ihre Rinde im Winter, gerade dann, wenn die eisigen Winde an allem zerren und sie diese am meisten benötigt.
Ich erwiderte, dass ich mich auch an etwas anderes erinnerte. In einer weiteren Vitrine lag ein Konvulsator der Marke Siemens, einer der Art, mit dem Nelly Sachs mehr als ein Dutzend Elektroschockbehandlungen erhielt. Bekommt man Elektroschocks, sagte ich, wird man in Narkose versetzt und erhält ein Mittel zur Muskelentspannung. Sodass man, wenn der elektrische Strom durchs Gehirn gejagt wird und man einen epileptischen Anfall erleidet, nichts in seiner Hand halten kann, nicht einmal ein kleines Stück Platanenrinde. »Hauptsache, das Rindenstück lag noch auf ihrem Nachttisch«, sagte Lech, »wenn sie von der Behandlung zurückkam.«
Als wir zu unserem Haus zurückgingen, sagte Lech, es sei merkwürdig, dass Nelly Sachs am selben Tag starb, an dem Paul Celan in Paris beerdigt wurde. Als sei ihr kein anderer Ausweg geblieben, als es ihn nicht länger gab. Vor vielen Jahren hatte er selbst in Thiais an Celans Grab gestanden. Er hatte die kleinen Steine gesehen, die Menschen als eine Art Bitte um Schutz aufs Grab gelegt hatten. Auch er hatte einen kleinen schwarzen Stein hinzugefügt. »Vielleicht könnten wir hinfahren und nachsehen, ob er noch daliegt. Und auch ein Steinchen von unserer Insel mitnehmen. Irgendwann im Frühjahr. Wenn die Platanen in Paris ihre neue Rinde bekommen haben.«