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Auf der Insel, 1. Januar 2015

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Lech schlief noch, als ich aufwachte, auch als ich seinen Fuß mit meinem berührte. Aus der Küche waren Geräusche zu hören. Das musste Anselm sein, unser alter Freund, der mit uns Silvester gefeiert hatte. Er wird gewöhnlich früh wach, selbst wenn er spät ins Bett gegangen ist.

Ich dachte an das, was Anselm gestern erzählt hatte. Nach dem Essen hatten wir auf den Sofas Platz genommen, Lech und ich auf dem mit dem Wolfspelz und Anselm auf dem anderen. Lech sagte, jeder Jahreswechsel mache ihm zu schaffen, sie hätten etwas von Memento mori an sich. Während ich sagte, jedes Jahr könne ein Annus mirabilis werden, ein Jahr der Wunder. Da hatte Anselm uns von einem Wunder erzählt.

Eigentlich jedoch sei es die Geschichte einer Besessenheit, sagte er. Arnold Schultze, 1875 in Köln geboren, war Offizier geworden, vielleicht in erster Linie, um in die Kolonien zu gelangen. Denn in den Kolonien gab es das, wovon er besessen war, Pflanzen und Schmetterlinge, die noch niemand beschrieben hatte. Er nahm an der deutsch-englischen Grenzexpedition im nördlichen Kamerun teil, bei der er jede freie Minute darauf verwandte, Schmetterlinge zu sammeln. Dann aber wurde er krank, so krank, dass er das Militär verlassen musste. Das war das Beste, was ihm hatte passieren können. Denn jetzt konnte er sich seiner Besessenheit hundertprozentig widmen. Vielleicht war es ja sogar so, dass ihn diese Besessenheit wieder gesunden ließ.

Er nahm an Herzog Adolf Friedrich zu Mecklenburgs zweiter deutscher Expedition nach Zentralafrika teil. Fuhr nach Kolumbien, wo er sich in den 1920er-Jahren acht Jahre lang aufhielt und eine Arbeit nach der anderen über seine Schmetterlingsfunde verfasste. Und über die Zerstörung des Regenwaldes, vor der er bereits damals warnte. Später dann, nach Abstechern in den Kongo und auf die Balearen, war er zu einer neuen großen Expedition bereit. Und brach mit Hertha, seiner zweiten Frau, nach Ecuador auf. Dort wollte er die Schmetterlinge und Pflanzen erfassen, insbesondere die des Regenwaldes. All das, was dort emporrankte und flatterte, war von so überwältigender Schönheit. Und am wundervollsten war es, all das zusammen mit Hertha zu sehen.

Sie verbrachten fünf Jahre in Ecuador. Fünf Jahre im Paradies, mit einem erstaunlichen Fund nach dem anderen. Dann fuhren Hertha und er heim, zusammen mit einer phänomenalen Sammlung seltener Pflanzen und Schmetterlinge. Am 25. August 1939 gingen sie an Bord des deutschen Handelsschiffes Inn, das nach Hamburg zurückkehren sollte, beladen mit Holz, zweihundertfünfzig Tonnen Gummi und fünfhundert Tierhäuten. Und mit Schultzes Sammlung, die ihn berühmt machen sollte.

Doch hatten sie nicht mit der Weltgeschichte gerechnet. Am 3. September 1939 erklärten Großbritannien und Frankreich Nazideutschland den Krieg. Und die Alliierten verhängten eine Blockade über den Atlantik. Am 5. September wurde die Inn von einem britischen Kriegsschiff gestoppt. Alle an Bord durften das Schiff verlassen, bevor die Briten zwölf Kanonenschüsse auf die Inn abgaben. Und Schultze und seine Frau sahen, wie das Schiff unwiderruflich sank, mit der Sammlung und allem, was sie besaßen.

Nach kurzem Aufenthalt in einem Internierungslager in Dakar – auf Intervention eines französischen Anthropologen ließ man sie frei – landeten sie in Funchal auf Madeira, wo sie den Rest ihres Lebens verbrachten. Ein besessener Mensch aber gibt nicht auf. Wenn Schultze seine Funde schon nicht vorzeigen konnte, musste er über sie schreiben und sie malen. Denn an das, was einen begeistert hat, erinnert man sich in allen Details. Er setzte sich an die Arbeit, mit der gleichen Besessenheit wie immer. Und starb mitten in seiner Besessenheit, mitten im Schreiben und Malen, nicht älter als dreiundsiebzig Jahre.

Damit könnte die Geschichte zu Ende sein, sagte Anselm. Dann aber gab es den Autor Hannes Zischler und die Illustratorin Hanna Zeckau, die planten, ein Buch über eine Kongo-Expedition zu schreiben. Als sie im Berliner Museum für Naturkunde den Fundus durchgingen, stießen sie auf einen alten verstaubten Koffer – das Objekt 1939-08-12/1 –, von dem niemand etwas wusste. Als sie ihn öffneten, verschlug es ihnen die Sprache.

Der Koffer war bis zum Rand mit Zigarrenkästen gefüllt. Und in den Zigarrenkästen lagen kleine, adrette Päckchen: alles in allem achtzehntausend Regenwaldschmetterlinge, eingeschlagen in Zeitungsausschnitte, Hotelrechnungen, herausgerissene Buchseiten und zerschnittene Briefe. Es war einer von Schultzes Koffern, der, wie sich herausstellte, mit einem anderen Schiff verschickt worden war. Ein Teil der Sammlung war auf wunderbare Weise gerettet worden. Und Arnold Schultze, den man vergessen hatte, gelangte ins Rampenlicht. Denn Zischler und Zeckau ließen das Buch über die Kongo-Expedition sausen. Und schrieben stattdessen über den großen Schmetterlingsforscher.

Ich spürte plötzlich eine Hand, die meine Hüfte streichelte. Lech war aufgewacht. Als ich mich ihm zuwandte, sagte er, ihm sei gerade ein Gedanke gekommen. Wenn man seine Frau nur Tag für Tag und Nacht für Nacht streicheln kann, dann werde jedes Jahr ein Annus mirabilis.

Goodbye, Bukarest

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