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Rehsi, Rehnald und der Wichtel

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Von Angelika Hofer aus Mertingen

Es war einmal ein Reh, das lebte mit vielen anderen Rehen in einer Herde in einem großen dunklen Wald, fernab von den Menschen. Eines Tages im Frühjahr gebar es Zwillinge. Es nannte sie Rehsi und Rehnald. Die beiden waren einfach entzückend: mit ihren hellen Tupfen auf dem Rücken und den langen, staksigen Beinen, auf denen sie versuchten, ihre Welt zu erkunden. Wackelig und ängstlich machten sie ein paar Schritte vorwärts, um danach erschöpft ins weiche Moos zu sinken und sich auszuruhen. Zwischendurch, wenn sie hungrig wurden, tranken sie gierig an den Zitzen ihrer Mutter und wurden so von Tag zu Tag kräftiger. Es dauerte nicht lange, bis sie sicher und frech umhersprangen. Die beiden waren unzertrennlich.

So zog der Sommer ins Land und sie begannen Gras zu fressen. Die zwei suchten sich die besten Plätze mit dem frischesten, saftigsten Gras und entfernten sich dabei immer wieder ein ganzes Stück von der Herde, verloren sie aber nie ganz aus den Augen. Ihre Mutter mahnte sie stets, sich nicht so weit zu entfernen. Aber wie es auch bei Menschenkindern der Fall ist, so waren Rehsi und Rehnald oft in ihr Spiel vertieft, dass sie die Welt um sich herum vergaßen. So kam es, dass sie eines Tages bei der Suche nach noch zarterem Gras einen seltsam aussehenden alten Baumstumpf fanden und rings um diesen Stumpf genüsslich fraßen.


Plötzlich stand ein kleines Wichtelmännchen vor ihren kleinen Schnäuzchen. Es war lustig anzusehen mit seinem langen, weißen Bart und der roten Zipfelmütze. Hinter ihm, in einer Tür im Baumstumpf, standen auch noch eine Wichtelfrau und zwei Wichtelkinder. Neugierig kamen Rehsi und Rehnald ganz nah an das Männchen heran, um es zu beschnüffeln. In diesem Augenblick aber fing das Männchen zu schimpfen an: „Schert euch gefälligst weg und grast woanders, nicht gerade in meinem Garten. Außerdem zertrampelt ihr mir hier alles mit euren Hufen, und überhaupt grenzt dies ja schon an Hausfriedensbruch“, wetterte er und drohte dabei mit seinen Fäusten.

Rehsi und Rehnald schauten sich verdutzt an, denn sie hatten noch nie einen Wichtelmann gesehen. Und dass ein so kleines Wesen so laut brüllen konnte, war schon erstaunlich. Weniger erschreckt als verwundert schüttelten sie nur ihre Köpfe und trollten sich davon. Und während sie sich im Weiterlaufen noch über das seltsame Benehmen des Wichtels wunderten, merkte Rehsi auf einmal, dass ihre Mutter gar nicht mehr zu sehen war. Und auch der Rest der Herde war verschwunden. „Hab keine Angst“, beruhigte sie Rehnald, „wir gehen einfach in die Richtung zurück, aus der wir gekommen sind. Und dann sind wir alle wieder zusammen.“


Rehnald stolzierte hocherhobenen Hauptes voraus, vorbei am Haus des Wichtels und immer weiter. Aber wer sich schon einmal in einem Wald verlaufen hat, versteht, wie schwer es ist, sich eine bestimmte Richtung zu merken: Ein Baum sieht aus wie der andere, und eine Wurzel wie die nächste. Läuft man dann eine gewisse Zeit, merkt man, dass man genau an der einen oder anderen Stelle schon einmal war und im Kreis gelaufen ist. Genau so erging es den beiden Rehen. Sie waren noch jung und hatten keinerlei Erfahrung. Außerdem waren sie noch nie allein gewesen in ihrem jungen Leben.

Rehsi bekam es jetzt richtig mit der Angst zu tun, denn es begann dunkel zu werden. Und im Dunkeln hatte sie immer schon Angst. „Ich möchte jetzt auf der Stelle zu meiner Mami“, wimmerte sie. „Rehnald, hör auf mit dem Quatsch und führ uns jetzt endlich zurück.“ Rehnald aber war ganz und gar nicht mehr sicher, dass alles so einfach ist, und antwortete zerknirscht: „Rehsi, wir haben uns verlaufen. Ich habe keine Ahnung, wo wir sind.“ Rehsi fing bitterlich zu weinen an. Erschöpft vom vielen Laufen ließ sie sich ins Moos fallen und schluchzte und jammerte, dass es weithin zu hören war. Rehnald stand mit hängendem Kopf daneben.

Plötzlich sah er ein kleines Licht, einige Zentimeter vom Boden entfernt, auf ihn zukommen. Jetzt bekam auch er es richtig mit der Angst zu tun. Wandelnde Lichter hatte er noch nie gesehen, und das war ganz schön unheimlich in der abendlichen Dämmerung. „Rehsi“, flüsterte er, „R e h s i schau doch mal!“ Sie aber hörte nichts in ihrem Wehklagen. Indessen kam das Licht immer näher. Und als es schon ziemlich nah war, entdeckte Rehnald, dass das Licht eine kleine Laterne war, die vom dem Wichtelmännchen getragen wurde. Erleichtert sprach er: „Rehsi, nun heul doch nicht, hier kommt jemand, der uns helfen kann.“

Das Wichtelmännchen hob seine Laterne und schimpfte gleich wieder los: „Zuerst wird einem der Garten ruiniert, und kaum will man sich nach einem anstrengendem Tag zur Ruhe legen, wird man von diesem schrecklichen Geheule aufgeschreckt. Was soll denn dieser Lärm?“ „Ach bitte“, sprach jetzt Rehsi mutig, „schimpf doch nicht mit uns. Deinen Garten haben wir bestimmt nicht mit Absicht zerstört und deine Ruhe wollen wir dir wirklich gönnen. Aber wir haben uns verlaufen und wissen den Weg nicht mehr zum Nachtquartier unserer Herde. Du kennst dich hier gewiss gut aus und kannst uns vielleicht helfen.“ „Auskennen? Pah! Mein ganzes Leben habe ich hier im Wald verbracht, jeden Baum, jeden einzelnen Stein kenne ich in- und auswendig. Aber helfen? Wieso sollte ich euch helfen? Nichts wie Ärger hat man mit euch. Und außerdem: Was habe ich denn davon?“, schnaubte er immer noch zornig. Rehsi sah verzweifelt zu Rehnald, und der konnte seine Enttäuschung auch nicht verbergen. „Ach, liebes Wichtelmännchen“, sprach nun er: „Bitte verzeih uns, wir wollten dir bestimmt nichts Böses und gerne würden wir dir deine Mühe auch lohnen, aber sieh’ uns an, wir haben ja selbst nichts. Was könnten wir dir schon geben?“ Das Wichtelmännchen sah die beiden nachdenklich an. Er legte seine Hand an sein Kinn und rieb hin und her, dabei ging er auf und ab. „Mal sehen“, sagte er. „Ihr wollt mir also etwas dafür geben?“ „Gewiss“, sprach Rehnald, und Rehsi nickte hoffnungsvoll dazu.

Der Wichtelmann nickte und sprach: „Nun gut, ich wüsste da schon etwas: die Tupfen auf eurem Fell!“ Die beiden Rehkinder sahen sich an. „Wie soll das gehen?“, fragte Rehnald verwundert. „Das muss euch nicht interessieren. Wollt ihr nun nach Hause zu eurer Mutter oder nicht?“, polterte er und fügte dann hinzu: „Ach, was mache ich denn eigentlich hier, ihr stehlt mir ja nur meine Zeit“, packte seine Laterne, die er abgestellt hatte, und schickte sich an zu gehen. „Bitte“, flehte Rehsi, „geh nicht!“


Das Wichtelmännchen drehte sich um, sah beide fragend an. Voller Verzweiflung nickten sie. „Nun gut, ich habe euer Wort, so soll es geschehen!“, brummte der Wichtelmann in seinen Bart. Er griff in seine Hosentasche und zog seine Hand als Faust wieder heraus. „Hier drin“, sprach er, „ist ein Glühwürmchen. Es wird euch den Weg zeigen.“ „Wir danken dir von ganzem Herzen“, sprach Rehsi, „es ist wirklich sehr freundlich von dir, uns zu helfen.“ „Freundlich? Pah! Ihr bezahlt mich doch! Ein Geschäft ist das, nichts weiter als ein gutes Geschäft. Macht, dass ihr weiter kommt, und passt das nächste Mal besser auf“, schimpfte der schlecht gelaunte Wichtelmann. „Danke“, sagte Rehnald noch. Aber da hatte das Wichtelmännchen die Faust schon geöffnet und das Glühwürmchen flog davon, vorbei am Baumstumpfhaus und immer weiter.

„Schnell“, sagte Rehnald zu Rehsi, „komm schon, sonst ist es verschwunden.“ Flink war Rehsi auf den Beinen und beide eilten geschwind dem Lichtchen hinterher, ohne sich noch einmal umzudrehen. Als sie aber auf Höhe des Baumstumpfes waren, fielen ihre Tupfen vom Fell ab und verwandelten sich in Silbermünzen, die auf dem weichen Waldmoos zu liegen kamen. Die beiden bemerkten es nicht einmal, so sanft und lautlos ging das vonstatten.

Es dauerte gar nicht lange, da sahen sie im trüben Mondlicht auf einer Lichtung ihre Herde stehen, und da war auch ihre Mutter, die sich schon solche Sorgen gemacht hatte. „Ach, wie bin ich froh, dass euch nichts zugestoßen ist“, sprach sie erleichtert und liebkoste eines ihrer Kinder nach dem anderen. Aber als sie ihren Kopf an ihren Kinder rieb, stutzte sie: „Ja Kinder, was ist denn mit eurem Fell geschehen?“ Die zwei besahen sich etwas verwundert, stellten aber fest, dass sie jetzt viel erwachsener aussahen. Da zuckten beide nur mit den Schultern und schauten ganz unschuldig drein. „Nun ja, was soll’s, ich hab euch wieder, das ist das Wichtigste“, sprach die Mutter. So begab sich die ganze Herde zu ihrem Schlafplatz und alle lebten glücklich bis an ihr Lebensende.

Und so kam es, dass auch heute noch alle Rehkitze ab einem bestimmten Alter ihre Tupfen verlieren, und wer ganz genau hinsieht, kann vielleicht einmal ein Wichtelmännchen im Wald beobachten, wie es mit einem Sack auf dem Rücken die herabgefallenen Silbermünzen vom Waldboden aufsammelt.

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