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ОглавлениеWölkchen sucht Wolke
Von Kaspar Schwärzli aus Lichtenau
Wie du weißt, gibt es am Himmel viele Wolken, ein ganzes Volk. Verschieden, wie die Menschen auf Erden: weiße, graue, rote, die im Abendrot besonders schön leuchten. Und ganz schwarze, die kriegerisch sind und vollgeladen mit Strom. Die einen haben Minus-Strom, die anderen Plus-Strom – und wenn die aneinandergeraten, dann blitzt und donnert es. Aber wie auf Erden gibt es viele gute, die sind weiß. Große und kleine Familien. Die Schäfchenwolken sind besonders viele und gern in Herden. Denn sie sind gesellige, verspielte und lustige Wolken.
So eine war Familie Wolke, die hatte ein Kind, das sie Wölkchen nannte. Die Familie erkundete die Welt. So schwebten die drei Wolken über den blauen Himmel von Amerika. Die Familie genoss die Aussicht auf das Land. Unten sahen die Wolken den Colorado River, die Rocky Mountains, die Prärie in der Abendsonne – das Leben war schön. Doch es blieb nicht so.
Amerika ist bekannt für seine Stürme. So kam frühmorgens, als alle schliefen, ein Tornado herangebraust. Zweihundert Stundenkilometer hatte er drauf und zerstörte alles, was ihm im Weg stand. Selbst die friedlichen Wolken wurden zerrissen, hin und her geschleudert und in alle Richtungen vertrieben. Wölkchen wusste nicht, wie ihm geschah. Erst wurde ihm schwindelig, dann wurde es mitgerissen und flog mit hoher Geschwindigkeit übers Meer. Als es zum Halten kam, sah es sich um. Alles weiß und blau: Das musste Bayern sein, von dem schönen Land hatten seine Eltern schon viel erzählt. Da lebten auch gesellige, gutmütige und verspielte Leute – „Menschen wie die Schäfchenwolken“, hatte Papa Wolke gesagt. Einigermaßen erleichtert und sehr müde schwebte Wölkchen tiefer und sah einen großen Nussbaum im Garten. „Da lass ich mich nieder und ruhe eine Weile aus“, dachte es sich.
Der Kindergartenopa Karl staunte nicht schlecht, als er morgens aufstand und es vor seinem Haus etwas dunkel war. Ja, ein kleiner Nebel, ein Wölkchen saß auf seinem Nussbaum. Du weißt ja, dass Wolken, die tief schweben, zu Nebel werden, weil sie sich ausweiten. Je höher sie kommen, desto dichter werden sie. Hoch oben schauen sie viel kleiner aus. Opa Karl ging raus, um das Ding genauer zu beobachten. Da er mit den Blumen und den Bäumen normal redete, sie immer fragte, wie es ihnen ging, sprach er auch mit dem Wölkchen. „Warum bist du so traurig? Du weinst ja.“ Ein paar Tropfen fielen auf den Boden. „Und wo kommst du her?“, fragte Opa Karl weiter. Wölkchen war erstaunt, dass jemand mit ihm sprach und erkannt hatte, dass es Kummer hatte. Die kleine Wolke erzählte alles, an das es sich erinnern konnte und dass es traurig war. Es wollte unbedingt seine Eltern suchen.
„Ja, ja“, meinte Opa Karl, „ich hab’s im Fernsehen gesehen, wie der Tornado gewütet hat und übers Meer weitergezogen ist. Hier in Europa haben wir nichts mehr davon gespürt. Deine Eltern sind wohl entweder im Landesinneren der USA oder in einem Nachbarland zu finden. Wir müssen von Florida ausgehen, da war der Tornado.“ „Wie komme ich dahin?“, fragte Wölkchen. Opa meinte: „Es gibt viele Winde, die immer dieselbe Strecke wehen. Ich werde dir einen Fahrplan erstellen. Ich bin nämlich Windexperte und kenne alle Winde, die dich nach Amerika zurückbringen“, meinte Opa Karl und erzählte weiter: „Ich habe jedes Jahr ein paar Vögel in meinem Garten zu Gast, auch ein Schwalbenpaar unter dem Dach. Die treffen auch andere Wandervögel. Da wollen wir mal nach deinen Eltern fragen.“ „Au fein“, meinte Wölkchen, „ich fühl mich auch wieder gut. Ich steige auf, der Himmel ist blau. Oben treffe ich viele Zugvögel. Vielleicht erfahre ich etwas über meine Eltern.“
So geschah es, dass Wölkchen über Bayern schwebte und unser schönes Land kennenlernte. Es sprach mit einigen Vögeln. Ein Geier meinte: „Ich habe keine Grenzen überschritten. Mir geht es gut hier. Ich weiß nichts von einem Tornado. Der alte Steinadler auf der Zugspitze, der weiß und hört viel. Ja, der könnte dir helfen.“ So schwebte Wölkchen dem großen Berg entgegen.
Unten, auf einer großen Wiese, war ein Häschen in arger Not. Es wurde von einem Fuchs gejagt. Schon wollte der zuschnappen, doch der Hase machte einen Linkshaken und hatte jetzt einen kleinen Vorsprung. Der Fuchs bekam nicht so schnell die Kurve. Aber beim nächsten Anlauf sah es schlecht für den Hasen aus. Da reagierte Wölkchen schnell und ließ sich auf die Tiere nieder. Im dichten Nebel schlug Häschen einen Haken nach rechts, während der Fuchs geradeaus lief. Er landete im Wald, das Häschen auf dem Feld. Wölkchen stieg auf und freute sich, dem Fuchs ein Schnippchen geschlagen zu haben.
Wölkchen war noch aufgeregt und stieß mit einer anderen Wolke zusammen. „Oh, entschuldige bitte, ich habe dich nicht gesehen. Wo kommst du her?“, sagte die Wolke. „Von unten, ich war zu schnell und habe dich nicht gesehen“, antwortete Wölkchen. „Ich komme über den Ozean aus Amerika“, sagte Wolkelino. Aufgeregt fragte Wölkchen: „Hast du was von meinen Eltern gehört, von Familie Wolke?“ „Nein, nein, wir sind schon länger hier und schauen uns Europa an. Wir wollen mit dem Südwind jetzt nach Griechenland“, antwortete Wolkelino und schwebte seinen Eltern hinterher.
Wölkchen stieg höher und näherte sich der Zugspitze. Da sah es den alten Steinadler, der weise war und schon lange dort lebte. Er kannte viele Tiere und Wolken, die bei ihm in über 2000 Metern Höhe vorbeikamen. Er stand auf einem Felsvorsprung und sah ins tiefe Tal. Wölkchen hängte sich an die Felswand neben ihm. „Guten Tag Adi, wie geht es dir?“, fragte es. „Hallo Wölkchen, wo kommst du her?“, fragte der Steinadler. „Jetzt aus Lichtenau, sonst aus Amerika“, sagte Wölkchen und erzählte, was passiert war. „Kannst du mir helfen, meine Eltern wieder zu finden?“ Adi dachte nach, es kamen viele Zugvögel bei ihm vorbei. Auch Wolken von überall her. Da waren letzte Woche Schichtwolken aus Russland, Regenwolken aus der Türkei, Gewitterwolken aus England. Er wolle sich umhören, sagte Adi. „Ich muss zurück zu Opa Karl nach Lichtenau, der weiß jetzt bestimmt, welche Winde mich zurück nach Amerika bringen“, dachte es sich und flog wieder los. Der Frankenwind trug Wölkchen. Über die Lichterstadt München, dann nach Ingolstadt, das auch schön leuchtete bei Nacht, und dann ging es links ab nach Lichtenau. Müde von der Reise und dem kleinen Abenteuer schlief Wölkchen auf dem Nussbaum ein.
Opa Karl war vormittags im Kindergarten gewesen und hatte den Kleinen ein Märchen erzählt. Am Nachmittag brütete er über dem Globus und suchte für Wölkchen einen günstigen Weg nach Amerika. Über Russland, dann nach Alaska, das schon zu Amerika gehört, nach Kanada und dann wäre Wölkchen schon zu Hause. Ganz einfach, aber doch ein langer Weg. Die Winde wären günstig, aber auch gefährlich. Der eiskalte Polarwind zum Beispiel ist bis zu 60 Grad kalt, Wölkchen könnte zu Eisklumpen gefrieren und ins Meer stürzen. Vielleicht lieber den längeren Weg nach Süden. Da gibt es die Bora von Italien nach Slowenien über Kroatien, Dalmatien, Montenegro bis Griechenland. Aber die Bora ist auch gefährlich und einer der stärksten Winde der Welt. Sie ist unberechenbar, also lieber nicht. Die meisten Winde, die schnell über viele Länder hinfliegen, sind gefährliche Stürme, die ausarten können in Hurrikane, Taifune, Tornados oder Orkane. Also nichts für Wölkchen. Am besten sind doch die Landeswinde, die etwas langsamer von Land zu Land wehen aber sicher sind. Mit dieser Erkenntnis ging Opa Karl ins Bett.
Am nächsten Tag waren Opa Karl und Wölkchen gleichzeitig wach. „Was hast du alles erfahren, Wölkchen“, fragte er. „Nicht allzu viel“, antwortete Wölkchen, „es war klarer blauer Himmel, fast keine andere Wolke unterwegs. Und der Steinadler Adi ist alt und vergesslich, heute will er mir was erzählen. Ein Häschen habe ich gerettet und Wolkelino kennengelernt.“ „Du musst dich vor den schwarzen Wolken in Acht nehmen. Sie sind gefährlich und räuberisch“, sagte Opa Karl, „und auch unter den Winden gibt es böse. Zum Beispiel der Solano, der ist heiß. Oder der Buran, der ist voller Sand und Nässe. Gib Acht, dass du nicht hineingerätst.“ „Ja, ja Opa Karl, ich will heute noch einmal zum Steinadler. Vielleicht kann er mir jetzt etwas von meinen Eltern erzählen“, antwortete Wölkchen und schwebte davon.
Es war schon wieder ein schöner Tag. Die Sonne brannte auf die Erde nieder und außer Wölkchen war keine Wolke unterwegs. Wölkchen schwebte gerade über München, da sah es ein kleines, schreiendes Mädchen in einem Auto. Die Mutter hatte nur schnell etwas einkaufen und ein paar Freundinnen treffen wollen – doch sie hatte ihr Kind vergessen. Nun wurde die Luft im Auto immer stickiger und heißer. Wölkchen senkte sich sofort herunter und ließ es auf das Auto regnen. So kühlte das Dach etwas ab. Dann schaute Wölkchen, wo die Sonne stand und stellte sich genau davor – sodass das Auto nun im Schatten lag. Das Kind beruhigte sich. Nun kam die Mutter angerannt und wunderte sich, als sie die Autotür öffnete, dass es trotz der Hitze draußen im Auto so kühl war. Sie sah den Schatten, der auf den Wagen fiel, und sah nach oben. Danke Wölkchen, du hast uns gerettet.
Wölkchen zog zufrieden weiter und hatte für einen Moment die eigenen Sorgen vergessen. Da kam ein leichter Fön auf und nahm Wölkchen mit in die Berge. „Grüß dich Wölkchen“, begrüßte es der alte Steinadler, der nun erholt aussah. Er plauderte einfach los. „Ich habe Zugvögel getroffen. Eine Gruppe Gänse von weither, zwei Schwalben, einen Mauersegler, die haben nichts von Amerika gehört. Das Storchenpaar hat aber einen Tornado in Florida miterlebt. Es war ganz schlimm.
Ein heilloses Wolkenwirrwar ist entstanden, es gab viele Verletzte, aber zum Glück haben die Wolken keinen großen Schaden genommen. Allerdings sind einige Wolken noch nicht aufgetaucht.“ „Gott sei dank, sie leben noch“, seufzte Wölkchen, „aber wohin sind sie getrieben?“ Auch darauf hatte Adi eine Antwort: „Gestern waren zwei Kraniche aus Kanada hier, die meinten, einige Wolken aus dem Tornado habe es hierher verschlagen. Die waren sehr ramponiert und brauchten dringen Erholung.“ Dann erzählte der Steinadler noch, dass am Wochenende ein großes Vogelkonzert stattfindet und Singvögel aus aller Welt kämen. „Da erfahre ich bestimmt noch mehr. Schau bald wieder vorbei“, krächzte er und flog davon.
Der Himmel hatte sich inzwischen verändert. Ein großer Wolkenzug kam heran. Wölkchen stieg auf und wurde sofort eingeschlossen. „Dich kenne ich doch, du bist Wölkchen“, hörte es hinter sich eine bekannte Stimme. Als es sich umdrehte, staunte es: „Hallo Onkel, wo kommt ihr denn her? Weißt du, wo Mama ist?“ „Das ist eine lange Geschichte“, sagte Wölkchens Onkel, der bekannt für seine Ausschweifungen war. „Der Tornado war einen Kilometer breit und wir waren mittendrin. Du bist mit deinen Eltern nach rechts rausgeschleudert worden. Doch plötzlich warst du nicht mehr da. Du bist wohl weg zur Meerseite geweht worden. Wir wurden die Küsten entlang mitgenommen, bis zum Ende des Tornados. Nun ziehen wir langsam und vorsichtig dahin, weil sich einige Familienmitglieder erholen müssen. Wir tanken frische Luft über den Alpen. Und über dem Mittelmeer wollen wir unsere Verletzungen ausheilen lassen.“ Wölkchen war schon ganz zappelig. „Weißt du, wo Mama und Papa sind?“, fragte es aufgeregt. Und noch ehe der Onkel antworten konnte, kamen Wölkchens Eltern um die Zugspitze geflogen. War das eine Freude. Mama und Papa stupsten Wölkchen glücklich, und die kleine Wolke plapperte sofort drauflos.
Ich habe dir ja schon erzählt, dass es auf der Welt verschiedene Wolken gibt. Sie können sich verändern, größer, kleiner, länger, runder werden, die Form verändern und sich an Verhältnisse anpassen. Die Farbe zeigt ihren Gemütszustand. Weiße Wolken sind friedlich. Wenn sie leicht grau werden, sind sie grantig oder krank. Schwarze Wolken sind zornig. Wölkchens Familie war jetzt wieder ganz weiß und rund, denn alle waren glücklich. Der Onkel meinte nach der großen Begrüßung: „Wir bleiben hier und wandern die Berge entlang und dann über das Mittelmeer zurück, immer im Kreis herum, das ist schön, die Luft ist gesund. Die schreckliche Zeit in Amerika ist vorbei, jedes Jahr diese Tornados und Hurrikane, die uns das Leben schwer gemacht haben. Wir bleiben jetzt hier. Wir haben hier Freunde gefunden und die Familie ist zusammengerückt.“