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2. Mythos und Erinnerung Fragen, Ziele und Methoden einer literaturwissenschaftlichen und kulturhistorischen Analyse der deutschen Napoleon-Literatur

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Die vorliegende Arbeit konzipiert eine Literaturgeschichte des Napoleon-Mythos von 1800 bis 1945 als deutsche Erinnerungsgeschichte und kulturelle Bedeutungsgeschichte. Das impliziert, daß es nicht primär um eine stoffgeschichtliche Sammlung von deutschen Napoleon-Texten geht, sondern um die Analyse der Deutungsmuster und kulturellen Zusammenhänge, in denen der Napoleon-Mythos relevant wird. Eine solche Untersuchung der „Kulturbedeutung“ (Max Weber) der literarischen Napoleon-Texte sei nicht verstanden als eine vollständige Auflösung in soziale Intentionen und historische Bezüge, sondern begriffen als eine kulturhistorische und wirkungsästhetische Kontextualisierung.38 Die literarischen Napoleon-Texte reflektieren niemals nur die napoleonische Vergangenheit, sondern immer auch die deutsche Gegenwart (ihrer Entstehungszeit) und wirken auch als Teil der kulturellen Sinnproduktion der deutschen Gesellschaft auf diese Gesellschaft zurück. Literatur ist hier nicht nur das Medium der Reflexion, sondern beweist ihre produktive Potenz, diese Gesellschaft deutend zu bestimmen. Die Schriftsteller erweisen sich in Deutschland im Falle Napoleons als eigentliche Mythenmacher.39 Deshalb werden die literarischen Napoleon-Texte hier als Teil der kulturellen Selbstwahrnehmung in Deutschland gelesen.40 Wie sich die deutsche Literatur im 19. Jahrhundert mit Napoleon erinnerungssüchtig aus einer als langweilig empfundenen Gegenwart herausträumt und wie die deutsche Literatur im 20. Jahrhundert einen ‚deutschen Napoleon‘ respektive einen napoleonischen Nationalcharakter konstruiert und den napoleonischen Retter messianisch beschwört beziehungsweise exorzistisch bekämpft, sagt mehr über die deutsche Kulturgeschichte als über Napoleon aus.

Es geht in diesen Texten nicht nur um das Verhältnis zur Französischen Revolution und napoleonischen Diktatur, sondern immer auch um ein nationales und kulturelles Selbstporträt, um das spannungsreiche Verhältnis zur historischen Größe, um messianische Hoffnungen, um den Bezug zu veränderten Begriffen von Politik, Staat, Macht, Charisma, Krieg und Erfolg, um den Mythos vom starken Mann und um das Genie, das sich selbst erschafft, um die Sehnsucht nach Außeralltäglichkeit, kinetischer Kraft und Heroismus. Begriffe wie ‚Schicksal‘ und ‚Dämonie‘ durchziehen die deutsche Napoleon-Literatur leitmotivisch. Dabei wird Napoleon sukzessive zum Argument im zivilisationskritischen Nachweis, daß es in einer entzauberten Welt und technisierten Massengesellschaft doch noch auf das Individuum ankommt.

Nicht der zeitgenössische literarische Vergleich von Hitler und Napoleon, der am Ende dieser Untersuchung analysiert wird, ist dabei schließlich das Erstaunliche oder überhaupt die messianische Indienstnahme Napoleons, denn mit dem Bezug auf Napoleon wurde auch andernorts immer wieder ein Ruf nach dem Retter formuliert,41 sondern vielmehr die rhetorische Zurichtung einer ganzen Nation auf einen napoleonischen Charakter. Die in den literarischen Napoleon-Texten immer wieder gestellte Frage, ob Männer oder Völker Geschichte machen, beantwortet der deutsche Napoleon-Mythos im 20. Jahrhundert, indem er im ‚napoleonischen Nationalcharakter der Deutschen‘ beide Elemente metaphorisch verbindet. Die deutsche Auseinandersetzung mit Napoleon wird im 20. Jahrhundert zur erinnerungsgeschichtlichen Schule des nationalen Heroismus. Wenn Friedrich Sieburg 1956 zerknirscht von den unharmonischen Schwingungen sprach, welche die Auseinandersetzung mit Napoleon bei den Deutschen auslöst,42 so war dies auch eine hermetische Selbstkritik. 1939 hatte Sieburg nämlich die napoleonische Wahlverwandtschaft der Deutschen (mit ähnlichen Metaphern, aber anderer Wertung) als einen dämonischen Heroismus und ein faustisches Wesen begriffen, die den Franzosen im Unterschied zu den Deutschen, so Sieburg, gänzlich fehlten:

Immer wieder geschieht es, daß der Deutsche den großen Kaiser gegen den Franzosen verteidigt. Nicht weil er uns, ohne es zu wollen, durch seine Gewalttat zu einem göttlichen Aufflammen deutschen Selbstbewußtseins verholfen hat, […] sondern weil seine dämonische Natur mit vertrauter Stimme zu uns spricht und das Heldische in ihm eine verwandte Saite in uns anrührt. Wir sind fähig, das Wirken des Weltgeistes in ihm zu spüren und gelten zu lassen. Der Trieb des Helden, über sich selbst hinauszuwachsen, ja sich zu sprengen, ist eine durchaus deutsche Möglichkeit, während es vom Franzosen als etwas Widerwärtiges, ja Gefährliches verstanden wird. Napoleons Versuch, Frankreich aus der Bahn zu reißen und über seine Wesensgrenzen hinaus zu steigern, wird auch von uns als ein schmerzhafter Eingriff angesehen, erscheint uns aber gleichzeitig als der unerläßliche Preis für wahre Größe. So liefert unser Verständnis für das heldische Streben ins Kosmische selbst die Antwort auf die Frage, was Napoleon eigentlich am Ebro und in Düsseldorf zu suchen hatte.43

Es ist die Absicht meiner Untersuchung, die Vorgeschichte einer solchen nationalen Vereinnahmung Napoleons sichtbar zu machen und den Weg des kulturellen Erinnerns vom Nationalfeind über den Dichter-Mythos zur Konstruktion eines napoleonischen Nationalcharakters der Deutschen nachzuzeichnen und zu analysieren.

Diese Arbeit spricht vom ‚Napoleon-Mythos‘, und sie tut dies in Anlehnung an Wülfings Definition der Mythisierung historischer Personen. Mit Wülfing werden unter solchen Mythen „textlich oder ikonisch fixierte[.] Narrationen verstanden, die um bestimmte Figuren der Geschichte (Aktanten) kreisen.“44 Die Mythisierung historischer Personen reduziert die historische Vielgestaltigkeit, um zu vereindeutigen, und selektiert aus der Fülle der historischen Gegebenheiten bestimmte semantische Merkmale (Mytheme), welche die historische Figur ästhetisieren und enthistorisieren.45 Diese Mytheme lassen sich auf je unterschiedliche Art neu und anders anordnen.46 Eine solche Mythisierung historischer Figuren personalisiert historische Prozesse, idealisiert (und sakralisiert nicht selten) historische Figuren und wird hier begriffen als erinnerte und in der Erinnerung ästhetisch neu- und umgedeutete, schöpferisch imaginierte Geschichte. Napoleons politisches und militärisches Handeln wird dann nicht mehr aus historischen und sozialen Bedingungen erklärt, sondern etwa zur Naturgewalt metaphorisiert, die sich schlechterdings nicht rational ableiten läßt. Mythisierte Geschichte verspricht Sinn jenseits wissenschaftlicher Falsifizierbarkeit und stiftet (oder simuliert) Notwendigkeit. Die Mythisierung Napoleons erzählt dabei im 19. und 20. Jahrhundert von der Vergangenheit, um auf die Gegenwart einzuwirken und die Zukunft zu gestalten.47

Indem ich vom Mythos als der ‚Mythisierung historischer Personen‘ spreche, blende ich bewußt einen großen Bedeutungskomplex des ‚Mythos‘-Begriffes heuristisch aus, denn es geht hier lediglich um einen Mythos, den neuzeitliche Literatur über neuzeitliche Geschichte produziert hat.48 In der Alltagskommunikation wird negativ vom bloßen Mythos als einer unwahren Geschichte gesprochen, positiv aber auch vom Mythos als einem Faszinosum. Jenseits solcher alltagssprachlichen Bedeutungen kann man in Anschluß an Aleida und Jan Assmann mehrere Mythos-Begriffe unterscheiden,49 und es ist in diesem Zusammenhang wichtig festzuhalten, daß es in der vorliegenden Untersuchung nicht um einen polemischen Mythos-Begriff gehen kann, der den Mythos als überwundenes Stadium kulturhistorischer Entwicklung (vom mythos zum logos) darstellt. Aus einer solchen mythenkritischen Perspektive gilt der Mythos als unwahr, irrational, unverbürgt. In einem ähnlichen Sinn ist heute, wie angedeutet, in der Alltagskommunikation oft vom Mythos als einer bloßen Illusion die Rede. Ein solcher polemischer Mythenbegriff hilft allerdings wenig,50 um den Napoleon-Mythos in seiner kulturellen Funktionsweise und ästhetischen Formung zu analysieren. Was nutzt es, ideologiekritisch nachzuweisen, daß Napoleon nicht der „weltliche Heiland“ war, als den ihn Heine darstellte? Aufschlußreicher ist es, Funktionsweisen und Rhetorik solcher mythischen Muster zu untersuchen und nach ihrer Kulturbedeutung zu fragen. Und da hilft wiederum der Blick auf die Rede vom Mythos als der Erzählung von Göttern und Heroen, die narrative Muster bereitstellt, die Welt zu ordnen. Mythisierung kompensiert Kontingenzerfahrung und stiftet eine symbolische Ordnung.51

Noch bevor Napoleon zu einem eigenständigen Mythos geformt wird, fallen zu Lebzeiten Napoleons in der deutschen Literatur mythische Muster auf, die in rhetorischer Überbietung hyperbolische Vergleichskataloge erstellen. Figuren des antiken Mythos (Prometheus) und antike Feldherren (Alexander, Cäsar) stehen dabei neben außereuropäischen Gewaltherrschern (Attila, Tamerlan, Dschingis Khan). Napoleon wird gleichermaßen zum neutestamentarischen „Heiland“ vergöttlicht wie zum alttestamentarischen grausamen Pharao ägyptisiert oder zum „Höllensohn“ verteufelt. Besonders die national inspirierte Lyrik der Befreiungskriege bedient sich eines mythischen Abwehrzaubers. Welche Funktion eine solche synkretistische Mythen-Inflation hat, was ein Dichten, das versucht, mythische Muster an ihre Grenzen zu treiben, bedeutet, soll genauer ermittelt werden. Eine solche vergleichende Mythisierung historischer Personen läßt sich rhetorisch als ein umgekehrter Euhemerismus beschreiben. Während der Euhemerismus eine rationalistische Mythosdeutung versuchte und die verehrende Erzählung von Göttern von einer menschlichen Herrscherverehrung ableitete, vergleicht die Mythisierung historischer Figuren umgekehrt den Menschen in auratisierender Absicht mit antiken Göttern, in diffamierender Absicht mit teuflischen Gestalten.52 Dabei zeigt sich, daß Hans Blumenbergs Befund über Goethes Arbeit am Mythos erweitert werden kann: Lange bevor für Goethe Prometheus und Napoleon diffundieren,53 hat bereits eine ganze poetische Phalanx in Europa sich vergebens bemüht, mythische Muster (auch prometheische) an ihre Grenzen zu treiben,54 um im potenzierten und vervielfältigten Mythos eine Geschichte prophetisch zu Ende erzählen zu können, von der man vor 1821 nicht ahnen konnte, wie sie enden würde. Das Dichten in mythischen Mustern kompensiert zu Lebzeiten Napoleons die Ungewißheit seines Endes.

Nach Napoleons Tod ist ein solches kompensatorisch prophetisches Zu-Ende-Erzählen im Mythos nicht mehr notwendig. Aus vorauseilender Weissagung wird nachträgliche Erklärung. Napoleons Leben wird nun zum mythischen Stoff, der vergleichbar dem Orpheus- oder Prometheus-Stoff zur literarischen Deutung auffordert. Die Mythisierung Napoleons orientiert sich nach 1821 dabei strukturell an literarischen Mythen,55 die darauf angelegt sind, ständig umgeschrieben und neu entworfen zu werden.56 So wird Napoleons Leben selbst wie eine antike Göttergeschichte immer neu rezipiert und auf die jeweilige Gegenwart bezogen. Dabei lädt die Vieldeutigkeit von Napoleon (als Vollender oder Verräter der Revolution, Katalysator oder agonaler Gegner der Moderne, pragmatischer Realist oder idealistischer Herold der Freiheit) zu einer produktiven poetischen Konkurrenz ein. Die Dichter knüpfen nicht nur immer wieder neu an den Napoleon-Stoff wie an einen antiken Mythos an, sondern sie setzen sich auch ästhetisch mit ihren Vorgängern und Konkurrenten in imitatio, variatio und aemulatio auseinander. Insofern ist die Napoleon-Literatur spätestens ab 1821 auch immer eine „littérature au second degré“, die intertextuell zu würdigen ist.57 Besonders deutlich wird dies beispielsweise an Karl Bleibtreus Napoleon-Drama Der Uebermensch (1896), das bereits mit seinem Titel signalisiert, daß es nicht nur ein Text über Napoleon, sondern auch ein Text über Nietzsches Napoleondeutung ist.

Schon 1815 mit der Verbannung nach St. Helena und endgültig 1821 wird die Dichtung über Napoleon literarische Erinnerungsarbeit. Jenseits der komparatistisch zu erfassenden europäischen Perspektive58 wird Napoleon im 19. Jahrhundert auch zu einem spezifisch deutschen „Erinnerungsort“, und als solchen haben Etienne François und Hagen Schulze in ihrem Sammelwerk Deutsche Erinnerungsorte Napoleon berücksichtigt.59 Unter ‚Erinnerungsorten‘ seien mit François und Schulze in einem metaphorischen Sinn „langlebige, Generationen überdauernde Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität [definiert], die in gesellschaftliche, kulturelle und politische Üblichkeiten eingebunden sind und die sich in dem Maße verändern, in dem sich die Weise ihrer Wahrnehmung, Aneignung und Übertragung verändert.“60

Für Napoleon als deutscher Erinnerungsort wird im 19. Jahrhundert die Literatur das eigentliche Medium61: Als ehemaliger Kriegsgegner wird Napoleon von offizieller, staatlicher Seite in Deutschland eher ignoriert und weder in öffentlichen Denkmälern repräsentiert noch in Feiertagen erinnert.62 Der deutsche Napoleon-Mythos ist im 19. Jahrhundert nach 1821 keine Angelegenheit öffentlicher politischer Rituale, sondern wird in der Literatur inszeniert.63 Während Napoleon zwischen 1848 und 1870 in der kleindeutschen Historiographie als antiabsolutistischer Unruhestifter und vormaliger Gegner Preußens kritisch beäugt wird, in der deutschen Politik teils eher in ein passives Speichergedächtnis absinkt und teils zugunsten anderer Größen und Mythen-Konkurrenzen (Königin Luise, Bismarck) ins Vergessen abgedrängt wird, bleibt Napoleon im literarischen Medium präsent und wird schöpferisch erinnert, neu imaginiert und so im Funktionsgedächtnis aktiv gehalten.64 In einer Medienkonkurrenz von Historiographie, Politik und Literatur gelingt es der Literatur, die identifikatorische Napoleon-Mythisierung gegen historiographische und politische Skepsis zu stabilisieren. Der in der Literatur transportierte positive Mythos vom Genie Napoleon ist viel zu stark, als daß sich das „Vaterland der Feinde“ nach 1821 noch in einem integrativen Nationalismus gegen den symbolischen Gegner Napoleon zusammenschließen ließe.65

Als nationale Identität durch Gegnerschaft stiftender Mythos spielt Napoleon im 19. Jahrhundert nach 1821 kaum eine Rolle. Dementsprechend bietet sich die nationale Stereotypenforschung der Imagologie auch nicht als Interpretationsansatz für den deutschen Napoleon-Mythos an.66 Napoleon wird nur für die kurze Zeit der Befreiungskriege als ‚der Franzose‘ begriffen. Schon bald nach 1821 separiert ihn die deutsche Literatur sehr bewußt als ‚Korsen‘ von der Nation, die er führte. Nationale Stereotypen spielen bei der Mythisierung Napoleons im 19. Jahrhundert kaum noch eine Rolle, oder höchstens in der Negation, die Napoleon nationaler Definitionen enthebt. Und diese Vernachlässigung nationaler Zuschreibung ermöglicht es dann auch der deutschen Literatur, nach 1890 (den national ortlos gemachten) Napoleon sukzessive national für sich zu vereinnahmen. Will man mit der Begrifflichkeit der Alteritätsforschung diese Entwicklung analysieren, kann man zeigen, wie Napoleon zwischen 1797 und 1806/07 als militärische und politische Alterität staunend wahrgenommen und durchaus positiv als fremd gesetzt wird und wie sich aus diesem politischen Fremdbild ein nationales Feindbild entwickelt, das allerdings nur eine kurze Zeit zwischen 1807 und 1815 virulent bleibt, um sich dann in ein poetisches Wunschbild des Eigenen zu transformieren, das die Grundlage bietet, um nach 1890 Napoleon national einzubürgern und so das poetisch Andere als national Eigenes zu interpretieren.67

Wie unterschiedlich sich bis 1850/60 biographisch involvierte und dann nach 1860/70 zunehmend jüngere Autoren mit Napoleon auseinandersetzen, soll mit Jan Assmanns Theorie vom kulturellen Gedächtnis analysiert werden, derzufolge sich etwa nach 40 Jahren die Erinnerung an ein Ereignis oder eine Person qualitativ verändert, weil die biographisch betroffene Generation dann aus dem öffentlichen Leben abtritt.68 Im Generationswechsel der Schriftsteller wird der deutsche Napoleon-Mythos zunehmend unabhängig von einem mündlich und familial vermittelten kommunikativen Gedächtnis und im Interregnum eines national offiziellen Napoleon-Gedächtnisses innerliterarisch präsent gehalten, bis nach 1890 der Napoleon-Mythos mehr und mehr zum integralen Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses der Deutschen und Teil einer positiv besetzten nationalen Mythologie wird.69

Wie die literarische Erinnerung an Napoleon im 19. Jahrhundert vor dieser nationalen Integration ins kulturelle Gedächtnis als poetologische Sonde genutzt wird, um das eigene Epigonentum ästhetisch zu bestimmen, soll gleichermaßen analysiert werden wie die liberale Mobilisierung des Vormärz mit Napoleon gegen die Restauration. Dabei fällt auf, daß im 19. Jahrhundert Napoleon als positive Gegengröße zur subjektiv empfundenen Unzulänglichkeit der Dichter definiert und vor allem als poetologische Kategorie begriffen wird. Das Genie Napoleon dient primär der ästhetischen Selbstdefinition. Selbst in den politisch engagiertesten Texten Heines entpuppt sich der Napoleon-Mythos als ästhetisch überformtes Erinnerungsideal, das mehr über Heines spannungsreiches Verhältnis zur Romantik als über seine politische Positionierung aussagt. An Napoleon als Gegengröße profiliert sich ein Epigonentum in der oft kontemplativen Erinnerung vergangener Größe.

Gegenüber dieser primär ästhetischen Erinnerungsarbeit wird Napoleon im 20. Jahrhundert prospektiv und politisch eingesetzt. Napoleon wird nicht mehr genutzt, um rückversichernd zu erklären und zu deuten, wie etwas geworden ist, sondern um dynamisch zu motivieren, etwas zu ändern.70 Mit dem Napoleon-Mythos wird ein oftmals schriller Ruf nach einem Retter formuliert. Wulf Wülfing hat für das 19. Jahrhundert die Beschäftigung der deutschen Literatur mit Napoleon als einen „Weg aus der Provinzialität“ beschrieben,71 und dies stimmt auch. Aber es ist ein Weg aus der Provinzialität in einen geradezu auffällig politisch-national ortlosen Kosmopolitismus, der es der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts wiederum ermöglicht, diesen national „frei schwebenden“ Napoleon zu einem ‚deutschen Napoleon‘ umzuformen.

Der deutsche Napoleon-Mythos

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