Читать книгу Der deutsche Napoleon-Mythos - Barbara Beßlich - Страница 8
Einleitung
ОглавлениеHeinrich Heine nannte ihn den „weltlichen Heiland“, Johann Wolfgang von Goethe pries ihn als „Kompendium der Welt“. Friedrich Hebbel begegnete ihm oft im Traum als Kammerdiener, Friedrich Nietzsche sah in ihm die „Synthesis von Unmensch und Übermensch“, und Hugo von Hofmannsthal titulierte ihn als „eine der größten Verwirklichungen des Individuums im okzidentalen Sinn“.1 Daß Napoleon für die politische und gesellschaftliche Realität in Deutschland im 19. Jahrhundert von nicht zu überschätzender Bedeutung war, ist beinahe müßig festzustellen und wird vielleicht besonders sinnfällig in dem Satz, mit dem Thomas Nipperdey seine Deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts beginnen läßt: „Am Anfang war Napoleon.“2 Daß diese Wirkung Napoleons sich aber nicht in der staatlichen Modernisierung Deutschlands und dem Nationalismus der Befreiungskriege erschöpfte, sondern sich im kollektiven Gedächtnis der Deutschen weit über 1848 hinaus festschrieb, ist in Deutschland nach 1945 nur noch selten betont worden.
Wenn nach 1945 Deutsche auf den deutschen Napoleon-Mythos zu sprechen kamen, so beschränkten sie sich zumeist entweder auf die liberale Napoleon-Legende des Vormärz oder sie deuteten vage an, daß hier etwas nicht ganz Geheures thematisiert werde. Golo Mann erinnerte 1955 nur noch allgemein daran, „der Napoleon-Mythos habe nachmals in Deutschland kräftiger geblüht und wirksamere Folgen [gehabt] als in Frankreich selber.“3 Friedrich Sieburg verglich 1956 das englische und französische Napoleon-Bild mit dem der Deutschen und wurde etwas deutlicher:
Von ganz anderen Kräften ist das deutsche Napoleon-Bild bestimmt. Es ist für unser eigenes Wesen bezeichnender als für das des Eroberers. Nirgendwo hat er eine so unausgeglichene und hitzige Bewunderung gefunden wie in unserer Literatur. […] Aber wer auch die Feder führen, wer auch die Stimme erheben mag, ein gelassenes Verhältnis zu Napoleon bringt kein Deutscher auf. Die besondere Art seiner Größe rührt in uns Saiten an, deren Schwingungen keine Harmonie ergibt.4
Diese Zitate deuten an, daß Napoleon in der historischen Mythologie der Deutschen bis 1945 eine erhebliche Rolle gespielt hatte. Friedrich Stählin fühlte sich 1952 bemüßigt, seine Studie über Napoleons Glanz und Fall im deutschen Urteil mit der unmittelbaren deutschen Vergangenheit in Verbindung zu bringen und sprach blümerant über ein „geschichtliches Gleichnis“, das die Deutschen für ihre eigene Situation 1945 in der Betrachtung von Napoleons Schicksal finden könnten.5
In diesen Zitaten klingt ein zugleich identifikatorisches und problematisches Verhältnis ‚der Deutschen‘ zu Napoleon an, das freilich nie ganz exakt bestimmt, sondern lediglich raunend als prekär auratisiert wird. Was die deutsche Literatur zwischen 1800 und 1945 immer wieder und in unterschiedlicher, aber eben doch auffallend „unausgeglichener“ Weise dazu veranlaßte, sich mit Napoleons kometenhaftem Aufstieg aus dem Nichts zum Herrscher über Europa, mit seinem widerspruchsvollen Verhältnis zur Revolution und seinem schroffen Untergang auseinanderzusetzen, ist bisher lediglich unzureichend erörtert worden.
Vorliegende Studie möchte an unterschiedlichen Konfigurationen des Napoleon-Mythos in der deutschen Literatur von 1800 bis 1945 eine Entwicklung kultureller Deutungsmuster über die Epochenschwelle von 1848 hinaus nachzeichnen, die Napoleon nicht mehr als Nationalfeind der Befreiungskriege darstellen, sondern sukzessive identifikatorisch auf Deutschland beziehen. Diese nationale Identifikation wird, wie zu zeigen sein wird, durch einen identifikatorischen Dichter-Mythos vorbereitet. Die Dichter begreifen Napoleon bereits nach 1821 als schöpferisches Genie und vergleichen seine Tätigkeit mit der eigenen eines Künstlers, der alte Regeln zerbricht und sich neue autonom nach Bedarf setzt. Damit ist Napoleon nicht mehr der feindliche Eroberer und die fremde unbegriffene Macht, sondern wird metaphorisch Teil der eigenen Welt. Gleichermaßen bedeutet dies eine frühe Politisierung des Genie-Gedankens und eine Ästhetisierung Napoleons. Als Genie der Dichter lebt Napoleon vermittelt über die Literatur im kulturellen Gedächtnis der Deutschen zwischen 1848 und 1870 fort, in einer Zeit, in der die deutsche Historiographie und die Politik eher napoleonkritisch eingestellt sind.
Nach 1890 hingegen wird der Napoleon-Mythos schließlich über die Literatur hinaus mehr und mehr national identifikatorisch auf Deutschland bezogen. Die historische Person Napoleons wird mit der deutschen Nation rhetorisch verglichen, indem Deutschland als personifiziertes Subjekt der Geschichte verstanden wird, dem ein napoleonischer Charakter und Willen zugesprochen wird. Die antienglische Stimmung im wilhelminischen Deutschland trägt zu solchen Vergleichen bei. Bei den 100-Jahr-Feiern der Befreiungskriege 1913 wird Napoleon auffällig als symbolischer Gegner ausgespart und gleichzeitig in eine nationale Mythologie der Deutschen eingebunden, so daß sich ein wackerer Bismarck-Verehrer und Napoleon-Gegner empört:
Diese Verherrlichung Napoleons ist nicht eine vorübergehende Erscheinung, sondern ist ein seit Jahren immer mehr sich verbreitender Unfug. In den Schaufenstern trifft man ständig Büsten, Bilder und Bücher, die für Napoleon begeistern, und so mancher Deutscher hat über seinem Schreibtisch statt eines Bildes des Schmiedes der deutschen Einheit oder des Kaisers ein Napoleonbildnis hängen und ist stolz darauf.6
Dieses Echauffement verdeutlicht, wie die Erinnerung an Napoleon zusehends einen Platz einnimmt, der traditionellerweise in einer historischen Mythologie des zweiten deutschen Reichs eigentlich preußischdeutschen Figuren zugedacht ist. Auch der Erste Weltkrieg ändert nichts an der napoleonischen Konjunktur, im Gegenteil: Die Deutschen vergleichen sich explizit mit Napoleon im Kampf gegen England und den Rest der Welt,7 und analogisieren nach 1918 das postrevolutionäre Deutschland mit Frankreich 1799, das auf einen Retter aus der demokratischen Krise wartet. Der identifikatorische Napoleon-Mythos grassiert in den 1920er Jahren derart intensiv in Deutschland, daß 1926 die (heute erstaunlich anmutende) Aussage von der „Wesensgleiche zwischen Napoleon und den Deutschen“ gemacht werden konnte8 und die Satire sich bereits mit „Napoleon I. als Nationalhelden der Deutschen“ auseinandersetzte.9
Nur eine kurze Spanne über galt Napoleon den Deutschen in der Zeit der Befreiungskriege als Nationalfeind. Aber schon bevor die Publizistik der Befreiungskriege Napoleon zum Antichristen dämonisierte, hatten die deutschen Schriftsteller den General der Italienfeldzüge zum Halbgott verklärt. Die Verteufelungen Napoleons zum „Höllensohn“ reagierten bereits auf deutsche Divinisierungen Napoleons seit 1797. Zwischen 1815 und 1821 rückten die Schriftsteller schnell ab von ihren politischen Invektiven und verklärten den nach St. Helena Verbannten zum Märtyrer. St. Helena wurde zum romantischen Nebelreich ästhetisiert und gegen ein prosaisches Europa abgesetzt. Die Literatur inszenierte Napoleons Tod am 5. Mai 1821 als Epochenschwelle. Das literarische Epigonentum in Deutschland definierte sich nicht erst in Auseinandersetzung mit dem Tod Hegels und Goethes, sondern entstand bereits in der Reflexion auf den ennui und das Nachgeborensein nach dem Tod Napoleons.
Napoleon avancierte dann zur Symbolfigur des Liberalismus im Vormärz. Mit Napoleon machte Heine gegen die Restauration mobil. Aber der Bezug auf Napoleon erschöpfte sich zwischen 1821 und 1848 fast nie in politischer Agitation, sondern transportierte immer auch eine beinahe apathische Zerrissenheit und melancholische Erinnerung an vergangene Größe. Napoleon wurde im 19. Jahrhundert zur poetologischen Sonde, mit der die Dichter selbstkritisch ihre subjektiv empfundene Winzigkeit reflektierten. Jakob Burckhardts Diktum, „Größe ist, was wir nicht sind“10, ließe sich als Motto der deutschen Napoleon-Literatur des 19. Jahrhunderts begreifen. Je mehr die Gegenwart Größe vermissen ließ, desto intensiver (und zum Teil in flagellanter Manier) wurde die vergangene Größe Napoleons beschworen. Napoleon wurde so zum Stellvertreter für die mangelnde Genialität der Zeitgenossen.
Mit Nietzsche veränderte sich der Tonfall der deutschen Napoleon-Literatur: Alles Kontemplative, das noch den Napoleon-Texten von Immermann, Gaudy und Zedlitz zu eigen war, scheint verschwunden. Mit größtem Pathos und identifikatorischem Ernst schreibt Nietzsche seinen Napoleon zur atavistischen Symbolfigur um, die gegen Rousseau einen Geistesaristokratismus antiken Zuschnitts verkörpert und als wahrer Retour à la nature jenseits von Gut und Böse stilisiert wird. Nietzsche verkehrt die napoleonischen Stilisierungen des Vormärz ins Gegenteil. Nietzsches Napoleon steht nicht mehr für Liberalismus und bürgerliche Freiheiten, sondern wird zum Inbegriff des Anti-Bürgers, dessen Leben auf Kampf eingestellt und gegen Kapitalismus und Besitzstandsdenken ausgerichtet ist. Dieser Napoleon ist gegen die nivellierende Massengesellschaft der unzeitgemäße Beweis von Größe. Daß Nietzsches Napoleon einen Feind jeglichen Nationalismus darstellt, hat die vulgarisierende, rechte Nietzsche-Rezeption im frühen 20. Jahrhundert hingegen oft vernachlässigt oder ignoriert.