Читать книгу Der deutsche Napoleon-Mythos - Barbara Beßlich - Страница 13
1. Frühe Verehrung für den Revolutionsgeneral und Begeisterung für den Kaiser (1797–1811) Foscolo, Monti, Hölderlin, Görres, A. W. Schlegel, Wieland, Hebel, Hegel
ОглавлениеNapoleon Bonaparte wurde für die deutschen Schriftsteller mit dem Italienfeldzug 1796/97 zum ersten Mal Thema. Die Begeisterung galt dem geschickten militärischen Strategen, dem Revolutionsgeneral, der in ungeheurem Tempo, mit Intelligenz und mit Wagemut für das revolutionäre Frankreich und gegen absolutistische Monarchien europäischen Boden eroberte.7 Napoleon Bonaparte wurde nach der Belagerung von Toulon 1793 jüngster Revolutionsgeneral, schlug 1795 auf Geheiß Barras’ den Royalistenaufstand in Paris nieder und wurde dann 27jährig zum Oberbefehlshaber in Oberitalien ernannt. In enormer Geschwindigkeit eroberte Bonaparte die Lombardei. Dieser Feldzug trug ihm von allen Seiten Bewunderung ein. Gegen eine österreichische Armee von 70.000 Mann siegte Bonaparte mit 36.000 Mann. Am 10. Mai 1796 schlug Bonaparte die Österreicher in einem spektakulären Kampf an der Brücke bei Lodi.
Mailand empfing Bonaparte als Befreier. Der romantische Dichter Ugo Foscolo feierte den Sieger von Lodi in einer Ode als Bonaparte liberatore.8 Vincenzo Monti, der letzte Vertreter des italienischen Neuklassizismus, stilisierte Bonaparte in seinem Epos Prometeo 1797 zum mythisch überformten Befreier Italiens.9 Der Prometheus-Vergleich, der später zum mythologischen Standard-Repertoire für die Beschreibung Napoleon Bonapartes wurde, nahm hier in Italien seinen Ausgang. Wie Prometheus gegen den Willen von Zeus den Menschen das Feuer brachte, sollte Bonaparte gegen die Übermacht absolutistischer Staaten Europa die Französische Revolution vermitteln, – so die politische Aktualisierung des Prometheus-Mythos.10 Damit hatte Bonaparte poetisch den Status eines Halbgottes erreicht. Diese Mythos-Rezeption knüpfte an die Trilogie des Aischylos an, in der Prometheus das von Zeus zum Untergang bestimmte Menschengeschlecht rettet und ihm Feuer und damit die Kultur bringt. Spätere negativ intendierte Prometheus-Adaptionen für Napoleon betonen eher den frevelnden Prometheus und beziehen sich auf Hesiod.11
Bonaparte hatte dieser Mythisierung selbst geschickt Vorschub geleistet. In einer klugen und neuartigen Pressepolitik ließ er in eigens gegründeten Organen wie dem Courrier de l’armée d’Italie ou le patriote français à Milan oder La France vue de l’armée d’Italie den eigenen Ruhm auratisieren und öffentlich bekannt werden.12 Er stilisierte sich zum Befreier von österreichischer Fremdherrschaft und zum Bringer revolutionärer Werte. Neue Staaten wurden gegründet: die Cisalpinische Republik mit Mailand und der Lombardei und die Ligurische Republik mit Genua. Der Kirchenstaat wurde 1798 zur Römischen Republik, Neapel 1799 zur Parthenopäischen Republik. Im Frieden von Campo Formio mußte Österreich im Oktober 1797 das linke Rheinufer abtreten, auf die Lombardei und die habsburgischen Niederlande verzichten, erhielt dafür allerdings im Gegenzug Venedig. Dieses Verschachern Venedigs enttäuschte viele Italiener, die zuvor begeistert Bonaparte als Befreier gefeiert hatten. Ugo Foscolo wandte sich enttäuscht ab und gab seiner patriotischen Verachtung in den Ultime lettere di Jacopo Ortis (1802) Ausdruck.13
Friedrich Hölderlin betrachtete 1797/98 in seinem Gedicht-Entwurf Buonaparte nicht so sehr den Revolutionsgeneral selbst, sondern seine historische Person als poetisches Problem. Das Verhältnis von Dichtung und Geschichte wird am Beispiel Bonapartes reflektiert:
Buonaparte
Heilige Gefäße sind die Dichter,
Worin des Lebens Wein, der Geist
Der Helden, sich aufbewahrt,
Aber der Geist dieses Jünglings,
5 Der schnelle, müßt er es nicht zersprengen,
Wo es ihn fassen wollte, das Gefäß?
Der Dichter laß ihn unberührt wie den Geist der Natur,
An solchem Stoffe wird zum Knaben der Meister.
Er kann im Gedichte nicht leben und bleiben,
10 Er lebt und bleibt in der Welt.14
Die reimlosen, fast frei anmutenden Rhythmen geben den Versen einen antikisierenden Klang. Optisch scheinen die zwei dreiversigen und zwei zweiversigen Strophen des Oden-Entwurfs beinahe ein verknapptes Sonett zu imitieren. Auch die gehaltliche Zweigliederung in einen fragenden, problematisierenden Teil (V. 1–6) und einen antwortenden, klärenden Teil (V. 7–10) verstärkt diesen Eindruck.
Bonaparte wird im gesamten Gedicht nicht beim Namen genannt. Allein der Titel gibt Aufschluß über die Identität des antonomastisch als „Jüngling“ bezeichneten Helden des Gedichts. Das Lebensalter wird zum Charakteristikum des bedichteten Bonaparte. Aufgabe der Dichtung sei es, Heldentaten ästhetisch festzuhalten, das Leben lyrisch auf Dauer zu stellen und der Nachwelt zu überliefern. Diese Kompetenz der Dichter sakralisiert sie zu „heilige[n] Gefäße[n]“ (V. 1). Ganz im antiken Sinn wird den Dichtern die Aufgabe des Rühmens zugedacht. Damit beschreibt die erste Strophe eine allgemeine Zuständigkeit der Poesie. Aber die zweite Strophe, die vom Allgemeinen zum Besonderen und vom Plural in den bestimmten, deiktischen Singular wechselt, macht deutlich, daß für den konkreten Fall „dieses Jünglings“ (V. 4) die allgemeinen Regeln nicht gelten. Die doppelte Metapher der ersten Strophe von den Dichtern als „Gefäßen“ für den „Wein“ heroischen Geistes wird fragend fortgeführt. Nachgestellt wird Bonapartes Geist als „Der schnelle“ (V. 5) charakterisiert, der das poetische „Gefäß“ „zersprengen“ würde: Bonapartes Lebensintensität übersteigt poetisches Fassungsvermögen. Die Charakterisierung Bonapartes als „schnell“ mag ihren historischen Rückhalt in dem so rapide geführten Italienfeldzug haben. Aus dieser Geschwindigkeit resultiert eine Kraft, die sich poetisch nicht mehr fassen läßt.
Die beiden abschließenden Strophen ziehen die Konsequenz aus dem Problem und erlassen die poetologische Direktive, Bonaparte als Thema zu meiden. Bonaparte wird aus der Geschichte katapultiert und zu einer Naturgewalt transformiert. Er ist nicht mit historischen Kategorien zu messen, sondern er gleicht dem „Geist der Natur“ (V. 7). Für ihn gelten nicht die Regeln historischer Dichtung. Hölderlin enthistorisiert die Gestalt Bonapartes und entrückt ihn in den Bereich der Natur über menschliche Sphären hinaus beinahe ins Göttliche hinein; Bonaparte wird zum Numinosum. Die letzte Strophe stellt noch einmal in einer Quintessenz Leben und Poesie gegeneinander. Das in einer Anadiplose gedoppelte Monosyndeton trennt antithetisch die „Welt“ und das „Gedicht“ als gegensätzliche Sphären, von denen nur die Welt für Bonaparte gedacht ist.
Hölderlin schrieb so ein Gedicht über das Problem, daß man auf Bonaparte keine Gedichte schreiben kann. Damit widerlegte er sich performativ einerseits selbst und gab andererseits schon in der verknappten Entwurfs-Form Hinweise darauf, daß er diesen Unsagbarkeitstopos durchaus ernst nahm. Hölderlins Gedicht-Entwurf demonstriert nicht nur die Unzulänglichkeit bestimmter literarischer Muster für Bonaparte, sondern steigert das Problem ins Generelle: Schlechterdings kein literarisches Muster mag Hölderlin für Bonaparte hinreichend erscheinen. Daß diese angebliche Unbedichtbarkeit Bonapartes für Hölderlin mehr war als eine rhetorische Floskel, mag ein weiteres Bonaparte-Gedicht von ihm belegen, das ebenfalls über einen Entwurf nicht hinausgekommen ist. Fragment geblieben ist Hölderlins hexametrische Hymne Dem Allbekannten, in der das lyrische Ich die grundlegende Andersartigkeit Bonapartes zum Thema macht. Das Epitheton „allbekannt“ für Bonaparte zielt auf mehr als große Popularität und erweitert den Ruhm Bonapartes durch das Präfix „all-“ ins umgreifend Kosmische und Pantheistische. Mit dem Vers „Und nun sing ich den Fremdling“ setzt sich das lyrische Ich in ein panegyrisches Verhältnis zu Bonaparte, dessen Herkunft zur absoluten Alterität des „Fremdlings“ verrätselt wird: „Fragen möchte ich, woher er ist; am Rheine der Deutschen | Wuchs er nicht auf“.15 Bonaparte steht für das fremde Leben, das lyrische Ich für eine Geisteswelt, die diesem Leben erst einmal unverständlich gegenübersteht. Dabei mag auch die nationalstereotype Opposition der idealischen Deutschen und der realistischen Franzosen eine Rolle spielen.16 Der Widmungstitel Dem Allbekannten taucht wieder in Hölderlins Friedensfeier (1802) auf, die nach dem Frieden von Lunéville entstand.17 Hier löst sich allerdings sehr bald der poetische Text vom historischen Anlaß und überhöht den gefeierten „Fürsten des Fests“ weit über die historische Person Bonapartes hinaus ins Göttliche.18
Nach dem Frieden mit Österreich blieb England als Gegner, den Napoleon Bonaparte im Ägyptenfeldzug (1798/99) zu treffen suchte. Bonaparte wurde mit einer Expedition nach Ägypten betraut, um dort Englands Indienhandel zu stören. In der Tradition der Entdeckungsreisen des 18. Jahrhunderts umgab er sich mit einem Troß von Wissenschaftlern und Künstlern, die dem Unternehmen den Charakter eines abendländischen Siegeszugs geben sollten.19 Unter den Pyramiden besiegte er die osmanischen Beherrscher Ägyptens und eroberte 1798 Kairo. Der britische Seesieg bei Abukir unter Lord Nelson vernichtete allerdings die französische Flotte. Der Feindschaft gegen England ist die Begeisterung für den französischen Revolutionsgeneral in der Ode auf Buonaparte geschuldet, die 1798 anonym in der Zeitschrift Das rothe Blatt von Joseph Görres erschien. Die Verfasserschaft ist nicht letztgültig geklärt.20 Aber auch wenn er diese Ode nicht selbst gedichtet haben sollte, hat der für die Redaktion verantwortliche junge revolutionsbegeisterte Joseph Görres, bevor er sich zum eloquenten Napoleon-Hasser entwickelte, ein wahrhaftes Ruhmeslied auf Bonaparte, den Revolutionsgeneral, in seine Zeitschrift bewußt aufgenommen.21 Die alkäische Ode preist in 16 Strophen Napoleon Bonaparte als Mittel zum Zweck, Englands Weltmachtstellung zu demontieren. Die prospektive Panegyrik kleidet sich in die Tradition von Horaz. Die Eingangsstrophen umreißen in antiker Rhetorik die historische Situation nach dem erfolgreichen Italienfeldzug:
Entweich unheilger Pöbel! ich singe den
Lorber bekränzten Retter Italiens,
Fortunas Liebling, Östreichs Schrecken,
Den schon unsterblichen Buonaparte.
5 Ihn leite mächtig der Nereiden Chor,
Ihm glänze immer Helenens Brüderpaar,
Der Winde Vater feßle Stürme.
Jaxyx umflattre seine Segel;
Denn groß, die ganze Menschheit beglückend ist
10 Das Ziel des Helden, des Unermüdeten
Im Wohlthun; goldne Freyheit bringt Er
Völkern, die Albions Fessel drückten.22
Ganz nach horazischem Muster distanziert sich das lyrische Ich von der gemeinen Masse des „unheilge[n] Pöbel[s]“, um einen seinem erhabenen Gegenstand angemessenen hohen Ton anzuschlagen.23 Die zweite Strophe beschwört für die Mittelmeerüberfahrt nach Ägypten mythischen Schutz. Die das Meer bewohnenden Töchter des Nereus und die Dioskuren Castor und Pollux sollen die Elemente für Bonaparte günstig stimmen. Die Anrufung mythischer Unterstützung legitimiert sich aus dem militärischen Ziel Bonapartes. Der Ägyptenfeldzug wird zur Rettung der Menschheit vor England deklariert, das hier unter dem alten poetischen Namen „Albion[]“ (V. 12) erscheint, eine Bezeichnung wohl keltischen Ursprungs, die in der Antike etwa von Plinius aufgegriffen wurde. Um dieses anti-englischen Ziels willen gilt Bonaparte dem lyrischen Ich als „Held“, der im Dienst der Revolution zum „Unermüdeten | Im Wohlthun“ (V. 10f.) wird und bereits als „unsterblich[]“ (V. 4) gepriesen wird.
England wird nationalstereotyp als Volk der Händler charakterisiert, in dem sich „niederträchtiger Kaufmannsgeist“ (V. 17) verkörpere. Angst vor dem Hegemonialstreben Englands paart sich mit der Wut des lyrischen Ichs, das England beschreibt als
[…] geizend, nach der Herrschaft des Ozeans,
In seinen Häfen der beyden Indien
Tribute häufend, nun despotisch
Über Europa herrschen wünschet.
25 Fluch dir verruchtes Albion! Fluch und Haß
Der ganzen Menschheit ist dein verdientes Loos;
Ihn lallen Kinder in den Armen
Ihrer der Gatten beraubten Mütter;
Die Apostrophe an England entlädt sich in einen Fluch, dessen Vollstrecker Bonaparte wird. Bonaparte soll dabei als Vorbild fungieren. Bonapartes Selbststilisierung als Hannibals Nachfolger hat das Muster abgegeben für einen Wunsch nach mythischer Vervielfältigung des Helden: „In jedem Vater lebt ein Hamilkar [i. e. Vater Hannibals] dir, | In jedem Sohne wächst ein neuer | Hannibal auf, der dir Rache schwört“ (V. 30ff.), so die Ode, noch gegen England apostrophiert. Die Anrede wechselt dann vom Feind England zum Helden Bonaparte. Ganz in der Tradition der italienischen Bonaparte-Panegyrik feiert die Ode Bonaparte als Befreier von Fremdherrschaft und Bringer republikanischer Werte.24
Nicht nur Hannibal und Hamilkar werden als Antike-Reminiszenzen aufgerufen, sondern der Ägyptenfeldzug schließlich auch in die Nachfolge des Indienfeldzugs Alexanders des Großen gestellt. In einer typologischen Überbietungsgeste äußert das lyrische Ich den Wunsch, daß Bonapartes Feldzug den Alexanders noch übersteigen möge. In Indien „harren Kränze, die kein Philippssohn | Jemal umwanden, Deiner!“ (V. 53f.) Die Differenz zwischen Alexander dem Großen und Bonaparte wird vom lyrischen Ich in der „Erobrungssucht“ (V. 54) Alexanders festgemacht: „So, wie die Britten[!], bracht er [i. e. Alexander] | Fessel nur; deine Hand wird sie brechen!“ (V. 55f.) Um dieser prophezeiten Befreiungstat willen rühmt das lyrische Ich Bonaparte in horazischen Gesten: Der Vers „Drum folgen dir die Priester der Musen nach!“ (V. 57) imitiert den horazischen Musarum sacerdos.25 Und so wie Horaz sich rühmt, sich ein dichterisches monumentum aere perennius errichtet zu haben, so schließt diese Bonaparte-Ode mit ganz ähnlichen poetischen Zurüstungen der Musen.26 Das Erz bei Horaz hat sich zu den ägyptischen „Pyramiden“ konkretisiert:
Schon schicken sich die Schwestern zum Opfer an;
Von ihren Händen steigt schon ein Denkmal Dir,
Erhabener, als Pyramiden,
Das noch besteht, wann auch jene stürzen.27 (V. 61–64)
Die in dieser frühen Ode auf Buonaparte verdichteten Antike-Bezüge,
Die in dieser frühen Ode auf Buonaparte verdichteten Antike-Bezüge, sowohl in den literarischen Mustern (Horaz) und der mythologischen Belebung der Natur (Nereiden, Dioskuren) als auch in der Imitatio und typologischen Überbietung historischer Figuren (Hannibal, Alexander der Große), arbeiten Bonapartes Selbstmythisierungs-Unternehmen in die Hände. Die Stilisierung der französischen Herrschaft nach 1799 zum nach antiken Vorbild geformten Konsulat konnte solche Panegyrik geschickt nutzen.28
Ein Angriff Neapels auf die Römische Republik löste 1799 den zweiten Koalitionskrieg aus. Nachdem Napoleon aus Ägypten zurückgekehrt war, das Direktorium gestürzt und sich selbst zum Ersten Konsul erhoben hatte, brach er wieder nach Italien auf.29 Die Überquerung des Großen Sankt Bernhard verglich die französische Presse mit Hannibals Alpenüberquerung. Bonaparte ließ diesen Vergleich bildkünstlerisch festhalten in Jacques-Louis Davids Gemälde Bonaparte beim Übergang des Sankt Bernhards (1801). Bonaparte wird dort in eine historische Reihe mit Hannibal und Karl dem Großen gestellt, deren Namen auf den Steinen am Wegesrand eingemeißelt sind.30 Bonapartes Sieg bei Marengo 1800 schrieb seinen militärischen Ruhm fort. Lucien Bonaparte erweiterte die geschichtlichen Verweisappelle ungefragt, indem er im Oktober 1800 die Schrift Parallèle entre César, Cromwell, Monk et Bonaparte verbreiten ließ, eine Voreiligkeit, die sein Bruder allerdings sofort ahndete, indem er Lucien in die französische Botschaft nach Madrid versetzte.
Aber noch vor Bonapartes Staatsstreich hatte Christoph Martin Wieland in seinen Gesprächen unter vier Augen 1798 den Franzosen Bonapartes Diktatur nicht nur prophezeit, sondern sogar anempfohlen.31 Wielands philosophischer Dialog verhandelte in der aufklärerischen Tradition von Lessings Ernst und Falk. Gespräche für Freimaurer weltanschaulich-politische Fragen. Das zweite der zwölf Gespräche unter vier Augen handelt Über den Neufränkischen Staatseid: „Haß dem Königthum!“ Der Monarchist Wilibald und der Republikaner Heribert streiten über die beste aller möglichen Staatsformen. Die Form des dramatisierten, unkommentierten Dialogs bot die Möglichkeit, die Autormeinung im Widerstreit der fiktiven Diskutanten gegen die Zensur vermeintlich gesichert verschwimmen zu lassen. Aber Wieland stattet Wilibald deutlich mit den besseren Argumenten aus. Das zitiert den sokratischen Dialog und verbindet dialektische und protreptische Elemente.
Wieland läßt Wilibald gegenüber Heribert demonstrieren, daß Heriberts Haß auf die Monarchie immer nur der schlechten Ausführung der Monarchie in der Realität gelte, nicht aber dem Idealtypus. Idealerweise geht Wilibald davon aus, „daß der erste Monarch die höchste Gewalt nur durch freywillige Unterwerfung des Volkes erhalten konnte.“32 Diese Freiwilligkeit ist Wilibald wichtiger als die Erblichkeit, und dementsprechend macht er Heribert einen Vorschlag,
weil Sie doch keinen König mehr wollen, und in der That auch, so lang’ es noch Bourbons giebt, keinen haben können – Ihre Konstituzion vom Jahre 1795, die nach dem ungeheuren Riß, den sie am achtzehnten Fruktidor bekommen hat, ohnehin nicht lange mehr halten kann, je eher je lieber selbst ins Feuer zu werfen, und – einen Diktator zu erwählen.33
Die verschachtelte Hypotaxe setzt den überraschenden Vorschlag nach einer langen Sperrung und dem spannungssteigernden Gedankenstrich als Höhepunkt ans Ende des Satzes. Wilibald stellt diesen zu wählenden Diktator in die römische Tradition, „wenn es um Rettung der Republik zu thun war, einem ad hunc actum ernannten Diktator“ die Macht anzuvertrauen.34 Wilibald erläutert Heribert, wie ein solcher Diktator beschaffen sein müßte, und wechselt von allgemeinen Charaktereigenschaften eines möglichen Königs langsam immer detaillierter zu einer anonymisierten Biographie Bonapartes als dem prospektiven Diktator. Konditional und im Potentialis nähert sich Wilibald einem Königsporträt, das schließlich verfließt mit der Charakteristik des Wunschdiktators Bonaparte. Daß Bonaparte nicht vom französischen Festland kommt und keiner alten Familie angehört, wird nicht als Nachteil gesehen, sondern zum Vorteil gewendet, nicht in nepotistische Verstrickungen des ancien régimes involviert werden zu können. Unter diesen Bedingungen erscheint in Wilibalds Augen Bonaparte als Diktator nicht nur als die beste Lösung für die Probleme der französischen Republik, sondern darüber hinaus als „der ganzen Welt Retter“:
Wenn ihr dem Königthum nicht einen so unauslöschlichen Haß geschworen hättet, und wieder einen König haben wolltet und könntet, so müßte es ein liebenswürdiger junger Mann, von großem hohen Geist, von den größten Talenten im Krieg und Frieden, von unermüdlicher Thätigkeit, von eben so viel Klugheit als Muth, von dem festesten Karakter, von reinen Sitten, einfach und prunklos in seiner Lebensart, immer Meister von sich selbst; ohne irgend eine Schwachheit wobey ein andrer ihn fassen könnte, zugleich offen und verschlossen, sanft und heftig, geschmeidig und hart, mild und unerbittlich, jedes zu seiner Zeit, kurz, ein Mann seyn, wie es in jedem Jahrhundert kaum Einen giebt, und dessen Genius alle andre in Respekt zu halten und überwältigen wüßte. Ein anderer als ein solcher könnte euch, in der außerordentlichen Lage, in welche die Revoluzion euch geworfen hat, nichts helfen. Da ihr nun keinen solchen König haben könnt, so müßt ihr einen Diktator suchen, der alle diese Eigenschaften in sich vereinige. Er darf aber, aus vielerley Rücksichten, kein eigentlicher Franzose, wenigstens von keiner alten und bekannten Familie seyn; und wenn er sogar einen ausländischen Nahmen hätte, so wäre es nur desto besser. Auch muß er eine Menge Proben abgelegt haben, daß er alle die Eigenschaften, die ich zu eurem Diktator nöthig finde, und von denen ich ihm keine nachlassen kann, wirklich besitze; und wenn er sich bereits einen großen Nahmen in der Welt gemacht hätte, und im Besitz der allgemeinen Achtung stände, so sehe ich nicht, was ihm noch abginge, um euer und der ganzen Welt Retter zu werden. Das Außerordentliche bey der Sache ist, daß ihr diesen Mann nicht erst zu suchen braucht; denn durch einen Glücksfall, den man wohl in seiner Art einzig nennen kann, ist er schon gefunden.35
Diese lange Passage entfernt sich vom Charakter des Dialogs und geht in einen persuasiven Monolog über, der sich nicht mehr nur an Heribert, sondern auch an den Leser adressiert. Geschickt bezieht Wilibald Heribert in seine angeblich schlüssige Argumentation mit ein und suggeriert mit Modalverben („so müßt ihr einen Diktator suchen“) die Notwendigkeit seines Gedankengangs. Die umgreifende Kompetenz des neuen Herrschers wird durch vier monosyndetische Gegensatzpaare („offen und verschlossen, sanft und heftig, geschmeidig und hart, mild und unerbittlich“) demonstriert. Die konditionalen Gefüge halten die Argumentation zum Schein noch im Bereich der Spekulation. Erst der Schlußsatz hebt die Argumentation wieder ins Indikativische. Die Lösung spricht Wilibald nicht selbst aus, sondern evoziert sie maieutisch. Heribert fragt daraufhin: „Buonaparte also?“, worauf Wilibald mit der rhetorischen Frage antwortet: „Wer anders?“36
Buonapartes Diktatur scheint Wilibald die einzige mögliche Lösung für die Krise der Direktoriumsregierung.37 Diese Empfehlung, die französische Republik durch eine Diktatur abzulösen, trug Wieland sowohl Skepsis von monarchischer als auch von republikanischer Seite ein. Die Wiener Zensur verbot aus monarchischer Sorge die Gespräche unter vier Augen, während Goethe gegenüber Schiller bemerkte, daß eine weitere Publikation der Gespräche unter vier Augen schließlich auch unabsichtlich durch „ein heimlich demokratisches Gericht“ verboten worden ist.38 1808 bat Bonaparte in Erfurt nicht nur Goethe, sondern auch Wieland, seinen deutschen „Propheten“, zur Audienz.39 1815 konnte man, wenn man mochte, Wielands politischen Scharfblick noch weiter bewundern. Schließlich antwortete 1798 Wilibald in den Gesprächen unter vier Augen auf Heriberts Frage, wie lange diese Diktatur Bonapartes andauern sollte: „So lange es ausdauert. Ich besorge, ihr werdet ihn nur zu bald verlieren. Also je länger je besser.“40
So wie Vincenzo Monti mit seinem Prometeo Bonaparte über menschliche Sphären hinaus in den Status eines antiken Halbgottes beförderte, so begründete Antoine Jean Gros mit seinem Gemälde Bonparte besucht die Pestkranken von Jaffa, 11. März 1799 ikonographisch die christologische Überhöhung Bonapartes. Am 7. März 1799 hatte Bonaparte im Anschluß an den Ägypten-Feldzug Jaffa eingenommen. Die französischen Soldaten starben an der dort grassierenden Pest, bevor der vom Ägyptenfeldzug enttäuschte Bonaparte gen Paris aufbrach. Um der englischen Propaganda entgegenzuwirken, daß er seine Armee delirierend in Jaffa im Stich gelassen hätte, ließ Bonaparte 1803/04 Gros ein Gemälde schaffen, das ihn christusgleich unter den Pestkranken von Jaffa zeigt. Bonaparte berührt mit bloßer Hand die Pestbeulen der Kranken, während der hinter ihm stehende Arzt sein Gesicht mit einem Tuch schützt. Bonaparte gleicht dem wundertätigen, heilenden Christus und imitiert zugleich mit dieser Geste die rois thaumaturges, die durch Handauflegung in der Lage sein sollten, die Skrofeln zu heilen.41 Die christologische Ikonographie hob Bonaparte einerseits über den menschlichen Zugriff hinaus, machte ihn aber andererseits zugleich volkstümlich. Es ging hier nicht um politische Strategien, sondern um mitmenschliche Gesten, die mit göttlichem Charisma überglänzt wurden.42
An eine solche volkstümliche Interpretation knüpfte Johann Peter Hebel in seinem Rheinischen Hausfreund an, wenn er den volkstümlichen Kaiser Napoleon anekdotisch privatisierte. 1809 erschien in Hebels Kalender die kurze Geschichte Kayser Napoleon und die Obstfrau in Brienne. Sie erzählt, wie Kaiser Napoleon geringe Schulden, die er einst als Soldat auf der Militärakademie von Brienne bei einer Obstfrau hinterlassen hatte, später als Kaiser mit Zins und Zinseszins begleicht und die Obstfrau und ihre Kinder reich beschenkt. Die Geschichte führt den Nachweis, daß der in der Weltpolitik „große Kayser Napoleon“ auch zwischenmenschlich Größe beweist.43 Hebel antizipiert hier zu Lebzeiten Napoleons die volkstümliche Legende vom Soldaten-Kaiser und Petit Caporal, die nach 1821 vor allem in Frankreich grassierte.44
Während Vincenzo Monti mit seinem Prometeo Bonaparte eine mythologische Rolle zuschrieb und die im Rothen Blatt abgedruckte Ode Bonaparte mit antiken Feldherren verglich, erlangte Bonaparte in Hegels Korrespondenz geschichtsphilosophische Dimensionen. Neben Hölderlins Gedicht-Entwürfen, Wielands publizistisch-politischen Analysen und Hebels volkstümlichen Anekdoten pflanzte sich vor allen Dingen Hegels Zitat von dem Kaiser als Weltseele im kulturellen Gedächtnis der Deutschen im 19. Jahrhundert fort. Hegel hatte 1806 in der Nacht vor der Schlacht bei Jena seine Phänomenologie des Geistes beendet und beobachtete am nächsten Morgen den Kaiser zu Pferde:
Den Kaiser, diese Weltseele, sah ich durch die Stadt zum Rekognoszieren hinausreiten; – es ist in der Tat eine wunderbare Empfindung, ein solches Individuum zu sehen, das hier auf einem Punkt konzentriert, auf einem Pferd sitzend, über die Welt übergreift und sie beherrscht. Den Preußen […] war freilich kein besseres Prognostikon zu stellen – aber von Donnerstag bis Montag sind solche Fortschritte nur diesem außerordentlichen Manne möglich, den es nicht möglich ist, nicht zu bewundern.45
Die Bewunderung für den fast gleichaltrigen Kaiser konzentriert sich nicht etwa im Hegelschen Terminus vom „Weltgeist“, sondern im allgemeineren und explizit über das Rationale hinaus greifenden Begriff „Weltseele“, der in der romantischen Tradition von Schelling und Novalis steht. Anima Mundi meint das sich selbst bewegende, die Welt als Ganze durchdringendes und organisierendes Lebensprinzip.46 Schelling hatte 1798 in Anknüpfung an Giordano Bruno in seiner Schrift Von der Weltseele Welt, Geist und Gott einander angenähert. Goethes Gedicht Weltseele (1803) entstand in einer Sphäre, „wo ein reicher jugendlicher Mut sich noch mit dem Universum identifizierte, es auszufüllen, ja es in seinen Teilen wieder hervorzubringen glaubte“.47 Hegel personifizierte diesen abstrakten philosophischen Begriff und konkretisierte ihn in Napoleon. Der Kaiser wurde in ein philosophisches Muster eingepaßt. Napoleon Bonaparte hatte sich der politischen Welt als ein sie organisierendes Prinzip, als Weltseele, eingeschrieben. Er schien mit seinem „die Welt übergreif[enden] und sie beherrsch[enden]“ Regierungssystem den systematischen allumfassenden Anspruch von der Philosophie ins reale politische Leben zu übertragen. Hegels Begeisterung mag mithin auch dieser inneren Verwandtschaft in der Totalität des systematisierenden Zugriffs geschuldet sein. In den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte steigerte sich Hegels Napoleon-Enthusiasmus noch in der Retrospektive: „Keine größeren Siege sind je gesiegt, keine genievolleren Züge je ausgeführt worden“48, war sein superlativisches Urteil.
Ähnlich manifest wie Hegels Zitat von der „Weltseele“ Napoleon hielt sich im 19. Jahrhundert im kulturellen Gedächtnis der Deutschen Goethes Begegnung mit Napoleon 1808 in Erfurt, als ein Zusammentreffen des großen Dichters mit dem großen Herrscher. Dieser Begegnung wurde in wiederholenden und ausschmückenden Beschreibungen zunehmend auratisiert. Das Treffen wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts zum umglänzten allegorischen Stelldichein von Geist und Macht stilisiert.49 Besonders Nietzsche widmet sich der Begegnung von Goethe und Napoleon. Auf das Erfurter Gespräch wird weiter unten eingegangen werden, da Goethes ausführlichere schriftliche Äußerungen hierzu und vor allem seine Napoleon-Würdigung in den Gesprächen mit Eckermann aus einer späteren Zeit stammen. Goethe äußert sich erst eingehend urteilend über Napoleon nach dessen Tod 1821, aus einem Abstand heraus, der es nicht mehr nötig hat, fremde mythologische oder historische Rollen auf Napoleon zu übertragen. Im Wissen um das Ende auf St. Helena urteilt er weitaus sicherer als aus dem Tohuwabohu der Befreiungskriege heraus, in denen sich Goethe bekanntermaßen publizistisch zurückhielt.