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I. Mythische Muster an ihren Grenzen Napoleon-Literatur zu Lebzeiten (1797–1821)

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Die deutsche Literatur über Napoleon zu dessen Lebzeiten versucht, Napoleon zu vergleichen, in mythischen oder historischen Rollen zu stilisieren. Die von Napoleon begeisterten Schriftsteller schwärmten von dem neuen Prometheus und vergöttlichten Bonaparte. Sie stellten ihn in eine militärische Reihe mit Alexander dem Großen, Hannibal, Caesar und Karl dem Großen. Solche affirmativen Mythisierungen wurden von Napoleon selbst lanciert. Vergleiche mit Hannibal oder Karl dem Großen förderte Napoleon in einer systematischen Öffentlichkeitsarbeit und Kunstpolitik.1 Während er politisch konsequent europäische Traditionen aushebelte, stellte er sich gleichzeitig ikonographisch in abendländische Zusammenhänge. Die Gegner Napoleons suchten ebenfalls nach Vergleichsgrößen, die sie entweder in historischen, außereuropäischen, nicht-christlichen Gewaltherrschern fanden wie Attila, Tamerlan, Dschingis Khan oder Süleiman II., oder sie bedichteten Napoleon in religiösen Mustern zum Gegner Gottes, sei es zum alttestamentarischen Pharao, der das auserwählte Volk knechtet, oder sei es zum apokalyptischen Drachen. In diesen Mythisierungen lassen sich antagonistische Reflexe beobachten. Dem orientalischen Despoten steht der europäische Friedensherrscher gegenüber, dem alttestamentarischen Brudermörder Kain der antike Halbgott Prometheus. Zur Zeit der Befreiungskriege reichte die Spanne der christlichen Mythisierungen für Napoleon in Deutschland vom Heiland bis zum „Höllensohn“.2 Chateaubriand beschrieb dieses mythologische Kaleidoskop, das sich zu Lebzeiten Napoleons zusammengesetzt hatte, 1848 ex post folgendermaßen:

Bonaparte n’est plus le vrai Bonaparte, c’est une figure légendaire composée des lubies du poète, des devis du soldat et des contes du peuple; c’est le Charlemagne et l’Alexandre des épopées du Moyen Âge que nous voyons aujourd’hui. Ce héros fantastique restera le personnage réel; les autres portraits disparaîtront.3

Hinter der Vielfalt der Deutungsangebote („Charlemagne et l’Alexandre des épopées du Moyen Âge“) verschwand „le personnage réel“ immer mehr. Chateaubriands Aussage illustriert die Inflation hyperbolischer Napoleon-Mythisierungen. In einer mythischen Bricolage wurden Napoleon verschiedene Rollen angepaßt, die nicht immer stimmig waren, aber als „Abfälle und Bruchstücke, fossile Zeugen der Geschichte eines Individuums oder einer Gesellschaft“ Eingang fanden und aktualisiert wurden.4 Die „lubies du poète“ zielten darauf, die außergewöhnliche Gestalt Napoleons verständlicher zu machen. Die literaturwissenschaftliche Forschung hat diese Mythisierungen Napoleons zu Lebzeiten zwar partiell katalogisiert5 und die nationale Abwehrhaltung im Befreiungskrieg analysiert,6 aber außer Acht blieb, daß diese vergleichenden Mythisierungen immer auch kompensatorischen und prophetischen Charakter hatten. Das Überangebot an mythischen und historischen Vergleichsfiguren für Napoleon war ein Zeichen für die qualitative Unzulänglichkeit der einzelnen Analogien. Wenn beim einzelnen Vergleich die Unterschiede größer als die Ähnlichkeiten waren, wurde dies oft durch ganze Vergleichskataloge quantitativ ausgeglichen. Sie sollten den Zeitgenossen Unerklärliches erklären.

Die Mythisierungen boten Deutungen an und verbanden Unbekanntes mit Bekanntem. Dieses Dichten in Mustern bot die Möglichkeit, eine Geschichte in der Vergangenheit oder im Mythos zu Ende erzählen zu können, von der man vor 1821 nicht wußte, wie sie sich in der Gegenwart weiter entwickeln würde. Die Mythisierungen fungierten als kompensatorische Prophetien. Im Mythos sollte entschlüsselt werden, was in der Realität verschlossen blieb. Daß solche Muster aber nie ganz der historischen Realität entsprachen, wird in einigen Texten besonders deutlich, welche die Unzulänglichkeit dieser Muster selbst reflektieren, etwa die Gedicht-Entwürfe von Hölderlin, E. T. A. Hoffmanns kurze Napoleon-Erzählung Die Vision auf dem Schlachtfelde bei Dresden oder Grillparzers Napoleon-Gedicht. Hier wird die Diskrepanz zwischen dem mythischen Urbild und der napoleonischen Aktualisierung deutlich gemacht.

Mit Napoleons Verbannung nach St. Helena ist ein mythologisches Vergleichsarsenal zusammengestellt, das sich nach Napoleons Tod nicht mehr wesentlich erweitert; im Gegenteil: Nach Napoleons Tod nehmen die historischen, mythologischen und religiösen Vergleiche eher ab. Napoleon wird dann nicht mehr auf andere überragende Gestalten bezogen, sondern ist selbst zu einem mythischen Muster geworden. In dem Moment, in dem seine Geschichte zu einem Ende gekommen ist, nimmt die Notwendigkeit ab, Ersatzschlüsse in der Geschichte oder der Mythologie zu suchen. Napoleons Ende auf St. Helena wird zwar immer noch mit dem an den Kaukasus geschmiedeten Prometheus verglichen, verselbständigt sich aber immer mehr zu einem eigenen Mythos.

Im folgenden soll das Dichten in mythischen Mustern zu Lebzeiten Napoleon Bonapartes chronologisch analysiert werden. Dabei gilt es, den Bogen vom Enthusiasmus für den militärischen Strategen über die Empörung gegen den „Revolutionsverräter“ und Nationalfeind bis zur Verklärung des auf St. Helena exilierten Napoleon nachzuzeichnen. Die frühe Begeisterung für den Revolutionsgeneral, wie sie sich auch bei Beethoven und Hegel äußert, wird bei Hölderlin und Wieland untersucht (I. 1). Wie sich in der deutschen Publizistik der Revolutionsbändiger in einen Nationalfeind verwandelt, wird unter anderem an Texten von Arndt, Schlabrendorf, Görres und Fichte analysiert (I. 2). Historische Dramen von Werner, Körner, Rückert und Müllner spiegeln Napoleons Karriere in ferne Vergangenheiten und erzählen sie dort zu einem tragischen schicksalsverhangenen Ende. Der Nationalfeind Napoleon wird als militärischer Heide dargestellt, sei es als Attila bei Werner oder als Süleiman II. bei Körner. Das Schicksalsdrama entwickelt sich, so die These, auch wesentlich in Auseinandersetzung mit dem Napoleon-Stoff (I. 3). Daß die Realität der napoleonischen Herrschaft im Befreiungskrieg auch die Anwendbarkeit von Mustern problematisch macht, zeigt die intertextuelle Analyse von E. T. A. Hoffmanns Vision auf dem Schlachtfelde bei Dresden. Apokalyptische Muster werden aufgerufen und dann in Frage gestellt (I. 4). Die alttestamentarischen Bezüge der Befreiungskriegslyrik untersucht ein weiterer Teil. Inwiefern sich Religion und Nationalismus gegenseitig beleihen, muß hier bestimmt werden. Die antinapoleonische Lyrik problematisiert die pronapoleonischen Mythisierungen, wenn sie Napoleon als „zweiten Prometheus“ vom mythischen Urbild pejorativ absetzt (I. 5). Nach der Verbannung nach Elba, der 100 Tage-Herrschaft und dem endgültigen Exil in St. Helena entrückt Napoleon zu Lebzeiten aus dem europäischen Blick. Dies spiegelt sich in der deutschen Dichtung in einer gattungsästhetischen Affinität zur Ballade. Gedichte von Rückert, Platen und Heine illustrieren diese Tendenz (I. 6). Schon mit Napoleons Tod beginnt ein Epigonenbewußtsein, das bisher in der Forschung vornehmlich erst in den 1830er Jahren ausgemacht wurde. In der Analyse von Grillparzers Napoleon-Gedicht und von deutschen Übertragungen von Manzonis Napoleon-Ode (Goethe, Fouqué, Chamisso) werden unter komparatistischer Berücksichtigung Elemente dieses Epigonenblicks analysiert. In diesem Zusammenhang wird auch Goethes Anteil an der Napoleon-Mythisierung berücksichtigt (I. 7).

Der deutsche Napoleon-Mythos

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