Читать книгу Der deutsche Napoleon-Mythos - Barbara Beßlich - Страница 18
6. Von Elba nach St. Helena Zu Lebzeiten entrückt (1814–1821) Rückert, Platen, Heine
ОглавлениеNapoleon wurde 1814 mit einer Ehrengarde von 800 Mann nach Elba geschickt, 1815 folgte dann die endgültige Verbannung nach St. Helena.240 Diese seltsam gedoppelte Exilierung, die erst im zweiten Anlauf Endgültigkeit erreichte und die geographische Entfernung steigerte, wurde in der Literatur als eine langsame Entrückung aus den europäisch politischen Aktualitäten sichtbar. Aus einem literarischen Blickwinkel schien Napoleon wie in einem doppelten Kursus mittelalterlicher Epen zweimal seinen Weg gehen zu müssen, damit erst im zweiten Durchgang die Unabänderlichkeit des Exils bestätigt werden konnte. Der Verbannung folgte eine sukzessive Verklärung.241 Allmählich verschob sich die Haltung in der deutschen Literatur von der ängstlich-zornigen Befreiungskriegs-Abwehr in eine größere Gelassenheit, die Napoleons Schicksal in balladeskem Ton als historisch distanzierbare Geschichte erzählte. Die nationale Perspektive trat zurück, die Aggression verflüchtigte sich. Je weniger bedrohlich Napoleon erschien, desto weniger wurden auch übermenschliche Kräfte zu seiner Deutung und Bekämpfung beschworen. Diese Veränderung soll im folgenden an Balladen von Friedrich Rückert (Der Götter Rath [1816/17]), August von Platen (Colombos Geist [1818]) und Heinrich Heine (Die Grenadiere [ca.1819/20]) analysiert werden. Um den Übergang von der national motivierten aggressiv-appellativen Befreiungskriegslyrik zu den humoristischen (Rückert) und numinosen (Platen, Heine) Balladen sichtbar zu machen, steht am Anfang noch die knappe Analyse zweier Gedichte von Rückert (Gott und die Fürsten [1814]) und Platen (An Buonaparte [1815]) aus der Zeit zwischen Elba und der 100 Tage-Herrschaft. Hier ist die zornig-ängstliche Abwehr und die poetisch beschworene Notwendigkeit übermenschlichen Schutzes noch greifbar.
Noch 1814 entstand Friedrich Rückerts zwölfstrophiges Gedicht Gott und die Fürsten, das Napoleons Verbannung nach Elba nicht als Leistung der europäischen Politik, sondern als Fügung Gottes pries. Nicht Gott und die Fürsten haben Napoleon besiegt, wie vielleicht die Syndese des Titels suggeriert, sondern es war allein eine Tat Gottes:
Gott und die Fürsten
Napoleon, von Kaiserthronen
Gestürzt auf Elba’s nackten Sand!
Seht her, der Erde Nationen,
Seht, und erkennet Gottes Hand.
5 Ihn hat der Herr im Zorn gerichtet,
D’rum liegt er so in Schmach vernichtet.242
Elliptisch wird Napoleons Abdankung in den ersten beiden Versen präsentiert, um sie sodann zu deuten. Die Anapher („seht“ [V. 3, 4]) betont die Wichtigkeit dieser Erklärung, die mit großer Dringlichkeit an „der Erde Nationen“ (V. 3) apostrophiert ist. Während die Fürsten sich zögerlich immer wieder um einen friedlichen Ausgleich bemüht hätten, habe sich Napoleon, von weltlichen Mächten ungehindert, immer weiter zur Hybris aufgeschwungen. Retrospektiv schildert das Gedicht die militärischen Ereignisse der letzten Jahre. Der Rußlandfeldzug, die Völkerschlacht bei Leipzig und der Feldzug in Frankreich 1814 werden chronologisch und als Steigerung angeordnet angeführt, danach jeweils ein Friedensangebot der Fürsten eingeschoben, dem dann wiederum drei Mal im gleichen Wortlaut die Prophezeiung folgt:
Das war das erste [bzw. zweite, dritte] Wort der Fürsten,
20 Doch ihn umflocht der Gotteswahn,
Es trieb ihn seines Hochmuts Dürsten
Noch einmal auf die blut’ge Bahn;
Denn im Verhängnis stand’s geschrieben:
Er soll noch besser sein zerrieben.
Die vierhebig jambische Strophenform, die auf einen Kreuzreim einen Paarreim folgen läßt, betont die Sentenz der letzten beiden Verse wie einen mahnenden Refrain. Das Gedicht bedient sich hier noch der Schicksalssemantik, die Rückert bereits 1818 in seiner politischen Komödie Napoleon und seine Fortuna persiflierte. Das „Verhängnis“ (V. 23) betreibt Napoleons Untergang. Die Selbstvergöttlichung Napoleons, „seines Hochmuts Dürsten“ (V. 21) und der „Gotteswahn“ (V. 20), fordert Gottes Zorn heraus, der schließlich Napoleon straft. Gottes Unmut gilt dabei auch der Trägheit der Fürsten. Das lyrische Ich apostrophiert mahnend erst die Fürsten, um dann in den Schlußversen Napoleons Verbannung nach Elba als eine Tat Gottes zu erklären. Elba wird dabei zum dreckigen Vorhof der Hölle, zum „Pfuhl“ (V. 70), metaphorisiert:
Ihr Fürsten, zeiget ihr noch weiter
50 Anstatt des Schwert’s den Heroldstab?
Führt in die Feldschlacht eure Streiter,
Und ruft die Friedensboten ab!
Ich fürchte, daß der Herr euch grollet,
Wenn ihr noch länger schonen wollet.
[…]
Und also ist es dann geschehen,
Daß wie von einem Wetterschlag,
Eh’ man die Hand hat zucken sehen,
Der, den sie traf, am Boden lag;
65 Und wir bekennen laut und offen:
Es ist der Herr, der ihn getroffen.
Der Herr hat ihn gefaßt beim Schopfe,
Geschleudert ihn vom goldnen Stuhl,
Gleich einem stauberzeugten Tropfe,
70 Nicht in den Staub, nein, in den Pfuhl.
Verloren hat er Ehr’ und Kronen;
Nun, seines Lebens mögt ihr schonen.
Im Pluralis majestatis kündigt das lyrische Ich seine Erklärung der militärischen Ereignisse an (V. 65), die dann durch eine strophenübergreifende Wiederholung besonders betont wird (V. 66f.). Rückerts nachträgliche Mahnung zur Kampfbereitschaft steht noch ganz in der Tradition der appellativen Befreiungskriegslyrik, die gleichzeitig Napoleon dämonisiert und zum Kampf gegen ihn auffordert.243 Das Schicksal, das Verhängnis und Gottes Zorn werden aufgeboten, um Napoleon seiner gerechten Strafe zuzuführen. Dieser massive erdichtete überweltliche Schutz macht deutlich, wie stark hier noch Napoleon als akute Bedrohung eingeordnet wird.
Etwas weiter entrückt, aber immer noch zornig avisiert, erscheint Napoleon in August von Platens 1815, nach der Rückkehr von Elba, entstandenem Gedicht An Buonaparte.244 Die Legitimität als Kaiser der Franzosen wird Napoleon hier schon mit dem Gedicht-Titel abgesprochen, der nicht Kaiser Napoleon I. tituliert, sondern sich in italienischer Schreibung an den bürgerlichen Korsen wendet. Ein Motto von Boileau umreißt die zornige Haltung des neunstrophigen Gedichts gegenüber Napoleon: „La colère suffit, et vaut un Apollon“.245 Höchst selbstbewußt apostrophiert das lyrische Ich Napoleon. Seinen Anspruch zieht das lyrische Ich nicht aus dichterischer Routine, sondern aus seinem Zorn auf Napoleon, der sich zur dichterischen Inspiration verwandelt und es berechtigt, aus Hippokrene, der Roßquelle, zu schöpfen, seit Hesiod die mythische Metonymie für poetische Eingebung:
An Buonaparte
Obgleich ich nur mit unerfahrnen Händen
Die Flut entschöpfe Hippokrenes Born,
So wag ich’s dennoch, mich an dich zu wenden;
Denn zur Begeistrung wird gerechter Zorn.
5 Sag an, Tyrann, welch böser Geist dich faßte?
Verschwunden längst ist deine blut’ge Zeit;
Du, der Besiegte, allgemein Verhaßte,
Gehst mit der Freiheit Rettern in den Streit?
Benötigte Rückerts lyrisches Ich 1814 noch metaphysische Unterstützung, um sich gegen Napoleon auszurichten, so erscheint Napoleon 1815 in seiner 100-Tage-Herrschaft bei Platen bereits als anachronistisches Phänomen, das in zwei Fragen auf seine Unzeitgemäßheit hingewiesen wird (V. 5–8). Unverständnis bekundet das lyrische Ich angesichts von Napoleons Wiedereroberungsplänen. Zwar wird Napoleon noch antonomastisch als „Tyrann“ (V. 5) apostrophiert, aber seine Herrschergewalt sogleich relativiert, da er als der „Besiegte, allgemein Verhaßte“ (V. 7) kategorisiert wird. Die zweite Strophe intensiviert das Selbstbewußtsein des lyrischen Ichs in fünf aggressiven Fragen an Napoleon, was er denn mit seiner Rückkehr bezwecke. Die erneute Herrschaft wird lediglich als Steigerung der Fallhöhe interpretiert. Daß der Fall kommt, gilt als gewiß: „Du bist noch einmal hoch emporgestiegen, | Auf daß dein Sturz nur desto tiefer sei.“ (V. 19f.) Napoleons Gegner scheinen bei Platen aus ihren Niederlagen gelernt zu haben. Mit verachtender Drohgebärde versichert das lyrische Ich im einvernehmlichen „wir“ mit den Feinden Napoleons gegen ihn anaphorisch gestaffelt: „Was du auch tust, wir werden’s kühn vernichten, | Was du auch sagst, es glaubt dir keiner mehr!“ (V. 23f.) Die epochale Überständigkeit Napoleons wird in dem Vers zusammengefaßt: „Du bist der Held, der angestaunte, nimmer“ (V. 25), der einen Rückblick auf Napoleons Karriere eröffnet, der sich von Strophe vier bis sechs erstreckt.246
Zwar zitiert auch Platens Gedicht noch einmal den „Himmel“ (V. 51) und die „Nemesis“ (V. 52) zur Kampfesunterstützung herbei. Sie scheinen aber nicht mehr so unabdingbar notwendig wie in Rückerts Gott und die Fürsten. In diesem säkularisierten Kampf gegen Napoleon ist der Ausblick auf den nachfolgenden, weltlichen Herrscher wichtiger als Gottes Schlachtplan. Ludwig XVIII. wird in den Strophen sieben und acht als milder Friedensherrscher gegen den kriegstreibenden Napoleon ausgespielt.247 Die letzte Strophe beschreibt im vierfachen Parallelismus die allumfassende Umzingelung Napoleons. Sowohl weltliche als auch mythische und göttliche Mächte haben sich in Stellung gegen ihn gebracht.248
1816/17, als Napoleon also bereits in St. Helena sein Dasein fristet, blickt Rückert noch einmal auf die Flucht von Elba und die 100-Tage-Herrschaft zurück. Aus der Gewißheit heraus, wie Napoleons Wiedereroberungsversuch geendet hat, zitiert Rückert nicht mehr den christlichen Gott zur Hilfe herbei, sondern entrückt die historische Situation in mythologische Bilder. Während noch 1814 der alttestamentarisch strafende Gott in großem Ernst Napoleon in Gott und die Fürsten züchtigt, präsentiert sich Napoleons Flucht von Elba in Der Götter Rath als ein fast komisches Mißgeschick der antiken Götter, die sich sputen müssen, um den Quertreiber Napoleon zu disziplinieren.249 In zwölf Strophen à acht Versen wird die Geschichte von Napoleons Flucht von Elba, der 100-Tage-Herrschaft und der Verbannung nach St. Helena erzählt als eine Vernachlässigung göttlicher Aufsichtspflicht gegenüber dem auf Elba kasernierten Napoleon. In balladeskem Ton und beschwingten Jamben nähert sich das Gedicht mit viel direkter Rede einer dramatischen Humoreske an.250 Rückerts humoristische Ballade setzt ein mit der Beschwerde der Menschen gegenüber den Göttern, daß denen Napoleon entwischt sei (Strophe 1–5):
Der Götter Rath
Die hohen Götter halten Rath,
Bestürzung ist im Himmel;
Denn schwirrend von der Erde naht
Von Stimmen ein Gewimmel,
5 Die Stimmen rufen all so laut,
Daß fast davor den Göttern graut,
Sie rufen: Seid ihr droben,
So schaut jetzt her von oben!
Wir meineten, daß ihr’s getan,
10 Und wollten Dank auch sagen,
Als wir den Zwingherrn fallen sahn,
Auf’s blut’ge Haupt geschlagen.
Er war in euerer Gewalt;
Zu einem sichren Aufenthalt
15 Verspracht ihr ihn zu bringen;
Was laßt ihr ihn entspringen?
Die metonymisch in irdischen „Stimmen“ (V. 4f.) präsentierten Menschen treten hier derart selbstbewußt auf, „daß fast davor den Göttern graut“ (V. 6). Die Menschen melden bereits Zweifel an, daß die Abdankung Napoleons Werk der Götter gewesen sei. Retrospektiv relativieren sie durch das Verb „meinen“ (V. 9) den göttlichen Anteil am Sieg über Napoleon. Die Götter werden zu anthropomorphen schwachen Gestalten, die nicht in der Lage sind, Napoleon gefangen zu halten. Die Wut der Anklage führenden Menschen steigert sich in der dritten Strophe in immer aggressiveren Nachfragen nach der Verantwortlichkeit für die geglückte Flucht Napoleons. Die Klagerede gegen die Götter gipfelt in der Androhung von Atheismus, den die Menschen bei Napoleon hätten lernen können:
Weß Schuld ist, daß die Fesseln bricht
Der alte blut’ge Schlächter?
Und welche blinde Zuversicht
35 Bethörte seine Wächter?
Wie lang und bis zu welchem Ziel
Ist euch die Ruh der Welt ein Spiel?
Fast müssen wir, o Götter,
Euch leugnen gleich dem Spötter. –
Drei drohenden rhetorischen Fragen folgt die Aussage über die Möglichkeit des Atheismus. So wie den Göttern eingangs „fast“ (V. 6) vor den Menschen graute, so steht die Menschheit jetzt „fast“ (V. 38) vor dem Atheismus. Das Modaladverb „fast“ hält die Umwertung aller Werte noch auf Abstand, rückt die Entthronung der Götter aber doch schon in den Bereich des Möglichen. „Blinde Zuversicht“ (V. 34) eines allgemeinen Gottvertrauens scheint unangebracht angesichts der menschlichen Möglichkeiten, die Napoleon verkörpert. Um eine solche Säkularisierung zu verhindern und die eigene Macht zu erhalten, werden nun die Götter aktiv. Die Strophen sechs bis acht schildern die Beschwichtigungsversuche von Merkur und Iris’ Suche nach dem Übeltäter, den sie im greisen Meergott Nereus ausmacht, der Napoleons Flucht schlicht verschlafen hat.251 Nereus muß sich daraufhin „vor Jovis Thron“ (V. 57) verantworten. Hier schaltet sich das lyrische Ich als balladesker Erzähler ein und wendet den Blick vom Göttergetümmel zur Erde: „Nicht weiß ich, wie vor’m Götterrath | Der Meergott sich entschuldigt hat; | Ich blickt’ indeß zur Erde, | Zu sehn, was dort nun werde.“ (V. 61–64).
Die Strophen neun und zehn schildern den Krieg der Alliierten gegen Napoleon mythologisch verfremdet als Kampf von „zwei mächtige[n] Titanen“ (V. 66) gegen den „Drachen“ (V. 60, 69, 75) Napoleon. Während mit Blücher und Wellington zwei Menschen Götterrollen übernehmen und zu „Titanen“ erhoben werden, schrumpft Napoleon zum Tier. Bereits die dritte Strophe antizipierte die Drachenmetaphorik, wenn Napoleon dort dargestellt wurde als jemand, der von Elba „herüberschnaubt“ (V. 21). Insgesamt sind durch Napoleons Weltmachtstreben die göttlichen und menschlichen Kompetenzen verwirrt. Die Götter müssen um ihren Machterhalt kämpfen, dilatorisch werden Napoleons irdische Gegner zu Titanen, und Napoleon selbst ist zwar einerseits in der Lage, Nereus zu überlisten und übertrumpft so die Götter, wird aber von den zu Titanen gewachsenen Menschen ins Kreatürliche des Drachens gedrückt. Nicht die Götter, sondern die titanischen Menschen besiegen schließlich Napoleon. Um der allgemeinen Verwirrung ein Ende zu bereiten, spricht „der Götter Vater“ (V. 79) ein begütigendes Schlußwort (Strophen 11–12). Es wirkt allerdings unangemessen, da es ihn in seiner alten Machtposition installieren soll, die ihm real sowohl durch Napoleons Flucht als auch durch den rein menschlichen Sieg über Napoleon nicht mehr zukommt. Zeus spricht:
Das Volk der Erd’ ist treu und gut,
Das hat es nun bewiesen,
Da wieder es sein Herzensblut
Verspritzt für uns und diesen.
85 Den geb ich, Schiffer Nereus, hier
Noch einmal in Verwahrung dir,
Doch sieh nun, daß du besser
Verwahrst den Völkerfresser.
Der Drache soll zur Hölle nicht,
90 Weil er auf einem Throne
Gesessen; es ist Götterpflicht,
Zu ehren jede Krone.
Doch bringe du zum fernsten Port
Des Meeres ihn, und fessl’ ihn dort
95 Mit diamantner Kette,
Daß keine Höll ihn rette!
Von Potentat zu Potentat gewährt Zeus Napoleon im Pluralis majestatis (V. 84) den Herrscher-Respekt, „zu ehren jede Krone“ (V. 92). Diese monarchische Loyalität bewahrt Napoleon vor der Hölle und katapultiert ihn nach St. Helena. Zeus’ restaurativer Rekonstruktionsversuch der alten Verhältnisse wirkt allerdings ebenso bemüht wie lediglich aufschiebend. Schließlich haben sich die Menschen im Kampf gegen Napoleon von den alten Göttern emanzipiert und sind zu Titanen geworden, den alten Gegnern von Zeus. Auch in Rückerts Gedicht Der Götter Rath wird so wieder ein mythisches Muster an seine Grenzen geführt. Napoleon überlistet durch seine Flucht von Elba die Götter und fordert die Menschen damit indirekt heraus, gegen die Götter Klage zu führen. So hat der von Zeus in bewährter rhetorischer Tradition als „Völkerfresser“ (V. 88) gescholtene Napoleon maieutische Funktion bei der Selbstbefreiung der Menschen von religiösen Deutungsnormen.252
Das endgültige Exil in St. Helena entrückt Napoleon aus dem Fokus einer aktuellen politischen Gefahr. Die den europäischen Ländern Sicherheit gebende geographische Entfernung beendet die abwehrende Apage-Haltung der Dichtung, deren aufgeregter Tonfall noch Platens An Buonaparte gerichtetes Poem von 1815 durchzieht. Seit der Ankunft Napoleons auf St. Helena im Oktober 1815 besteht keine Notwendigkeit mehr, den Kampfesmut poetisch gegen Napoleon zu schüren, ihm unglückliche Enden in Mythos und Vergangenheit anzupassen. Das unglückliche Ende ist in der Realität eingetroffen und braucht nicht mehr lyrisch beschworen zu werden.
Sehr viel gelassener als An Buonaparte nimmt daher auch Platens Gedicht Colombos Geist 1818 Napoleon in den Blick. Der eines Apolls würdige Zorn, den Platen noch 1815 mit Boileau geteilt hatte, scheint verflogen. 13 Strophen à vier Verse beschreiben in schweren Trochäen Napoleons Überfahrt nach St. Helena. Colombos Geist ist eine numinose Ballade, in deren Mittelpunkt die gespenstisch fiktionalisierte nächtliche Begegnung des historischen Napoleons mit dem Geist von Christoph Columbus steht. Das Gedicht gliedert sich in drei Teile: Die ersten fünf Strophen schildern Napoleon an Bord des Schiffes, wie ihm nächtens ein Geist entgegentritt. Der zweite Teil (Strophe 6–12) präsentiert in wörtlicher Rede die Ansprache dieses Geistes an Napoleon, und die letzte Strophe beschließt das Gedicht mit der knappen Beschreibung von Napoleons Reaktion auf diese Erscheinung. Wie bei Rückert drückt sich auch bei Platen die politisch wieder gewonnene Sicherheit gattungsästhetisch in der Form der Ballade aus, in der das lyrische Ich zurücktritt und die Handlung einer abgeschlossenen Geschichte im Vordergrund steht. Napoleon zur Mitternacht an der Reling des Schiffs „Northumberland“ wird mit schauerromantischen Mitteln eingeführt:
Colombos Geist
Durch die Fluten bahnte, durch die dunkeln,
Sich das Schiff die feuchte Straße leicht:
Stürme ruhn und alle Sterne funkeln,
Als den Wendepunkt die Nacht erreicht.
5 Und der neuentthronte Kaiser stützte
Seine Stirne mit der tapfren Hand,
eine Welle nach der andern sprützte
Um das Steuer des Northumberland
An die Schlachten denkt der Held im Geiste
10 Die er schlug, an sein erprobtes Heer;
Doch um ihn und seine Träume kreiste,
Einer Riesenschlange gleich, das Meer.
Den des Südens Steppen nicht bezwangen,
Den der Frost des Nordens kaum besiegt,
15 Fühlt sich nun im engen Raum gefangen,
Auf dem Schaum sich hin und her gewiegt.
Als er hadernd solchem Truggeschicke
Gottes Ratschluß fodert [sic!] vor Gericht,
Sieh, da zeigt sich seinem nassen Blicke
20 Eines Helden Schattenbild und spricht:253
Die Strophenform der vier trochäischen Fünfheber mit abwechselnd weiblichen und männlichen Kadenzen steht in der Tradition der englischen Mond- und Gräberpoesie eines Thomas Gray. Auch in Deutschland wurde sie seit der Empfindsamkeit zur elegischen Meditation und Klage genutzt.254 Platen erweitert diese Formtradition, indem er die Strophe in den erzählerischen Dienst stellt. Napoleon ist hier nicht mehr der „Tyrann“ und „Wütrich“, der „Feigste unter allen“, wie noch 1815 bei Platen, sondern sein tragisches Ende macht ihn zum melancholischen „Held[en]“ (V. 9), dem Tapferkeit attestiert wird (V. 6). Betonte An Buonaparte die Niederlage im Rußlandfeldzug als eine Flucht „aus Rußlands wüsten Öden“, so verkleinert sich in Colombos Geist diese Niederlage ins Ungewisse: Napoleon, „den der Frost des Nordens kaum besiegt“ (V. 14) hat, steht nun als zu Unrecht Geschlagener da. Napoleons ebenbürtige Gegner waren nicht Menschen, sondern Naturkräfte: Die Metonymien von „des Südens Steppen“ (V. 13) und dem „Frost des Nordens“ (V. 14) umreißen die geographische Allgegenwärtigkeit von Napoleons Eroberungszügen und erhöhen seine Kriegszüge zu Schlachten gegen Naturgewalten. Der Vergleich des Meers mit einer „Riesenschlange“ (V. 12) belebt die Natur ins Unheimliche. Der um Mitternacht grübelnde Napoleon gleicht hier Hamlet, dem ein Geist erscheint. Dieser Geist gibt sich bald namentlich zu erkennen. Schon der Gedichttitel gab dem Leser einen Hinweis, wessen Geist da zu dem melancholischen, zur Handlungsunfähigkeit verurteilten Napoleon um Mitternacht folgende Worte spricht:
Klage nicht, wenn auch die Seele duldet,
Klage nicht, dir ist ein Trost bereit:
Was du leidest, litt ich unverschuldet,
Und Colombo nannte mich die Zeit.
25 Ich zuerst durchschnitt die Wasserwüste,
Über der du deine Zähren weinst,
Der Atlantis frühverlorne Küste
Dieser Fuß betrat zuerst sie einst.
Nun erglänzt in heller Morgenstunden
30 Auferstehung jenes teure Land,
Das der Menschheit ich zum Heil gefunden,
Nicht zum Frondienst einem Ferdinand!
Du erlagst dem unbezwingbarn Norden;
Aber jene, die darob sich freun,
35 Werden zitternd vor entmenschten Horden
Ihren blinden Jubel bald bereun!
Aber kommt der große Tag der Schmerzen,
Und es hemmt ja nichts der Zeiten Lauf,
Nimm, Columbia, dann die freien Herzen,
40 Nimm Europas letzte Helden auf!
Wann das große Henkersschwert geschliffen,
Meinen Kindern dann ein werter Gast,
Kommt die Freiheit auf bekränzten Schiffen,
Ihre Mütze pflanzt sie auf den Mast!
45 Segle westwärts, sonne dich am Lichte,
Das umglänzt den stillen Ozean;
Denn nach Westen flieht die Weltgeschichte:
Wie ein Herold segelst du voran!
Der Geist von Christoph Columbus spricht zu Napoleon von Held zu Held und erläutert ihm seine geschichtsphilosophische Diagnose. Die wörtliche Rede des Geistes dimensionisiert das Gedicht auch zu einer handlungsarmen Ideenballade. Die Entdeckung Amerikas interpretiert Colombos Geist nachträglich als emanzipatorische Tat „der Menschheit […] zum Heil“ (V. 31) und gleichzeitig als eine Absage an den feudalistischen „Frondienst“ (V. 32) für Ferdinand II., König von Aragonien. In Colombos Ansprache erscheint Napoleon indirekt als ein zweiter Columbus, der ebenfalls „der Menschheit zum Heil“ und in Absage an die alten europäischen Absolutismen eine neue Welt der Politik entdeckt, die nicht aus alten gewachsenen Traditionen entsteht, sondern in der der Mensch sich selbst seine gemeinschaftlichen Grenzen setzt. Auch Napoleons europäische Herrschaft erscheint in Platens Gedicht als eine Emanzipation aus absolutistischem „Frondienst“.
In einer geopolitischen Arabeske erläutert Colombos Geist, daß für ihn die Weltgeschichte sich von Osten nach Westen verlagert, mithin sei Napoleons Niederlage in Rußland fatal für das restliche Europa, da ihm aus dem Osten die „entmenschten Horden“ (V. 35) reaktionärer, autokratischer Herrschaft drohen. Colombos Geist entpuppt sich als Geistesverwandter Hegels. Hegels bekanntes Diktum aus den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte lautete: „Die Weltgeschichte geht von Osten nach Westen.“255 Der politische Fortschritt verlagert sich auch für Colombos Geist immer weiter von Europa aus nach Amerika: „Denn nach Westen flieht die Weltgeschichte“ (V. 47). Napoleons Durchquerung des Atlantiks scheint hier mehr zu sein als eine navigatorische Notwendigkeit, um St. Helena anzuzielen. Die Überfahrt wird in den Rang eines geschichtsphilosophischen Fanals erhoben und die Fahrtrichtung semantisiert. Aus der Fahrt in den Westen wird metaphorisch eine Segeltour zum Fortschritt. Napoleon, Hegels „Weltseele“, verkörpert in Platens Gedicht den Gang der Weltgeschichte, und „wie ein Herold segel[t]“ (V. 48) er an der Spitze der universalgeschichtlichen Entwicklung und weist der Historie den Weg.
Der Fortschritt im Westen bedeutete aber zugleich den Stillstand für Europa. Mit Napoleons Exilierung kündigt sich eine epigonale Zeit an, deren Anbruch dann später mit Napoleons Tod eindeutig wird. Endzeitstimmung und Dekadenz sind die Konsequenz für ein Europa, das sich seines größten Fortschrittsträgers entledigt. Platen selbst kommentierte sein Gedicht als Ballade, „worein ich den Gedanken legte, daß bald die ganze Kultur Europas nach Amerika wandern wird, daß unsere Geschichte sich ihrem Ende naht; die jetzigen Rückschritte, die Frivolität der Jugend zeigen es“.256 Platens Überdruß am alten Europa findet sich auch wieder gespiegelt in Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte: „Amerika ist somit das Land der Zukunft […]; es ist ein Land der Sehnsucht für alle die, welche die historische Rüstkammer des alten Europa langweilt. Napoleon soll gesagt haben: Cette vieille Europe m’ennuie.“257
Die Rede von Colombos Geist wirkt. Als der Geist verschwindet, hat sich die Stimmung Napoleons verändert: „Freude färbt des großen Würgers Wangen, | Weil Europa hinter ihm versinkt.“ (V. 51f.) Der Abschied von der Herrschaft wird so zum Abschied vom untergehenden Abendland stilisiert. Napoleon wird zu einem von „Europas letzte[n] Helden“ (V. 40). Die Beschreibung Napoleons als „großen Würger“ verdeutlicht die Zwitterstellung von Platens Ballade zwischen Schmähung und Huldigung. Zwar wird Napoleon noch als „Würger“ geziehen, aber ihm zugleich Größe attestiert. Der Vergleich mit der ersten Fassung des Gedichts verdeutlicht, daß Platen sich sukzessive von der Schmäh-Haltung der Befreiungskriegslyrik entfernt.258 In seiner Ode an Napoleon wird Platen 1825 schließlich Napoleon zum Tyrannenfeind erheben und ihm als „unsterblichen Sohn der Freiheit“ huldigen.259
Zur Gruppe der zu Lebzeiten des exilierten Kaisers bereits ins Balladeske entrückten Napoleon-Gedichte gehören auch Heinrich Heines berühmte Grenadiere, die nicht Napoleon selbst, sondern den volkstümlichen Bonapartismus in den Blick nehmen. Die Größe Napoleons spiegelt sich hier in der Größe der Verehrung, die er hervorruft. Das napoleonlose Europa wird als eine öde und sinnentleerte Welt konfrontiert mit der Vision von dem wiederkehrenden Kaiser. Die Entstehungszeit des Gedichts ist unsicher, Heine selbst erinnerte ex post das Jahr 1816; wahrscheinlicher ist 1819/20 als Entstehungszeit anzunehmen.260 Populär geworden vor allem auch durch die Vertonungen von Robert Schumann und Richard Wagner, schildert die volkstümliche Ballade die grenzenlose Napoleon-Verehrung zweier französischer Grenadiere, die aus russischer Kriegsgefangenschaft nach 1815 zurückkehren. In Deutschland erfahren sie, daß Napoleon gefangengenommen wurde. Innerhalb des Buchs der Lieder bilden Die Grenadiere ein Gegenstück zu der Romanze Belsatzar, die das Bild eines blasphemisch-tyrannischen Herrschers zeichnet, dem die Gefolgschaft aufgekündigt wird und der ermordet wird.261 Die Grenadiere variieren das Thema Herrschaft und Gefolgschaft in einen positiv-heldischen Entwurf – zur Treue der Grenadiere zu Napoleon über den Tod hinaus:
Die Grenadiere
Nach Frankreich zogen zwei Grenadier’,
Die waren in Rußland gefangen.
Und als sie kamen in’s deutsche Quartier,
Sie ließen die Köpfe hangen.
5 Da hörten sie beide die traurige Mähr:
Daß Frankreich verloren gegangen,
Besiegt und zerschlagen das große Heer, –
Und der Kaiser, der Kaiser gefangen.
Da weinten zusammen die Grenadier’
10 Wohl ob der kläglichen Kunde.
Der Eine sprach: Wie weh wird mir,
Wie brennt meine alte Wunde.
Der Andre sprach: Das Lied ist aus,
Auch ich möcht’ mit dir sterben,
15 Doch hab’ ich Weib und Kind zu Haus,
Die ohne mich verderben.
Was scheert mich Weib, was scheert mich Kind,
Ich trage weit bess’res Verlangen;
Laß sie betteln gehn, wenn sie hungrig sind, –
20 Mein Kaiser, mein Kaiser gefangen!
Gewähr’ mir Bruder eine Bitt’:
Wenn ich jetzt sterben werde,
So nimm meine Leiche nach Frankreich mit,
Begrab’ mich in Frankreichs Erde.
25 Das Ehrenkreuz am rothen Band
Sollst du aufs Herz mir legen;
Die Flinte gieb mir in die Hand,
Und gürt’ mir um den Degen.
So will ich liegen und horchen still,
30 Wie eine Schildwach, im Grabe,
Bis einst ich höre Kanonengebrüll,
Und wiehernder Rosse Getrabe.
Dann reitet mein Kaiser wohl über mein Grab,
Viel Schwerter klirren und blitzen;
35 Dann steig’ ich gewaffnet hervor aus dem Grab’, –
Den Kaiser, den Kaiser zu schützen.262
Die vierversigen Strophen mit wechselnd männlichem und weiblichem Kreuzreim variieren die Chevy Chase-Strophe und umfassen jeweils im ersten und dritten Vers vier Hebungen und im zweiten und vierten Vers drei Hebungen. Die Senkungen werden in metrischer Füllungsfreiheit ein- und zweisilbig variiert. Dieser aufgelockert-einfachen jambisch-daktylischen Form bedient sich Heine, um den Stil einer Volksballade künstlich zu inszenieren. Das Versende fällt zumeist mit dem Abschluß einer syntaktischen Einheit zusammen, Enjambements sind die Ausnahme. Einfacher Satzbau, Elisionen263 und Ellipsen264 unterstützen den volkstümlich balladesken Eindruck. Direkte Rede, durch einfache Inquit-Formeln eingeleitet, dominiert das Gedicht (Strophen 3–9). Von einem erzählerischen Anfang (Strophe 1–3) ausgehend, wechselt die Ballade in einen Dialog (Strophe 3–4), um in einem Monolog des einen Grenadiers zu münden (Strophe 4–9), der aus der Realität ins Visionäre und Numinose zielt (Strophe 7–9). Die beiden Grenadiere bleiben anonym, werden zu „der Eine“ (V. 11) und „der Andre“ (V. 13) verallgemeinert.
Inversionen und Archaismen wie „traurige Mähr“ (V. 5) und „kläglichen Kunde“ (V. 10) intensivieren den Charakter künstlich rekonstruierter Einfachheit. Zahlreiche Alliterationen265, Assonanzen266 und Onomatopoesien267 verdichten den Eindruck sinnlicher Unmittelbarkeit. Altertümliche Verbformen wie „hangen“ (V. 4) und antiquiert anmutende Konstruktionen wie „wohl ob der“ (V. 10) erzeugen die Illusion einer früheren Sprachstufe. Dazu trägt ebenfalls die dreifache Epanalepse von „der Kaiser, der Kaiser“268 (V. 8, 20, 36) bei, die jeweils am Strophenende den Refrain einer Volksballade imitiert. Mit all diesen Mitteln rückt Heine einen für ihn aktuellen politischen Stoff in eine künstlich aufgebaute Ferne. Der moderne Napoleon-Stoff wird archaisiert und in eine vormodern anmutende Form eingepaßt. So verdeutlicht Heine auch die Unzeitgemäßheit Napoleons selbst. Dem Anachronismus der Form entspricht der Anachronismus des Inhalts, in dem noch einmal Heldenmut und absolute Selbstaufgabe von fast homerischen Ausmaßen bedichtet werden.
Der zweite Grenadier steigert dabei die Selbstaufgabe zu einer Preisgabe seiner familiären Bindungen: „Was scheert mich Weib, was scheert mich Kind | Ich trage weit bess’res Verlangen; | Laß sie betteln gehen, wenn sie hungrig sind“ (V. 17–19). Während dem ersten Grenadier „Weib und Kind zu Haus“ (V. 15) Verpflichtung zum Weiterleben bedeuten, nivelliert die Not Napoleons für den zweiten Grenadier jegliche familiäre soziale Verantwortung, was sich auch syntaktisch darin verdeutlicht, daß „Weib und Kind“ (V. 15) nicht mehr wie beim ersten Grenadier syndetisch verbunden als familiäre Einheit begriffen, sondern syntaktisch zerrissen werden in zwei unabhängige Elemente: „Was scheert mich Weib, was scheert mich Kind“ (V. 17). Der intime Zusammenhalt der bürgerlichen Familie, wie er etwa im Bürgerlichen Trauerspiel als Utopie und Gegenwelt zum höfischen Absolutismus beschworen wurde, wird hier unterlaufen und in Frage gestellt. Heines Grenadier suspendiert in seiner grenzenlosen Napoleon-Verehrung die Grundregeln der bürgerlichen Gesellschaft und katapultiert sich in heroischere, vorbürgerliche Zeiten. Intertextuell rekurriert diese Passage auf Herders im Briefwechsel über Ossian mitgeteilte schottische Ballade Edward.269 Auch Béranger konnte Heine vielleicht Anregungen vermitteln.270 Aber während Bérangers Grenadier wehmütig intontiert: „Adieu, femme, enfants et patrie!“271, brutalisiert Heine den Abschied zu einer vollkommenen Indifferenz gegenüber dem Schicksal der Familie.
Das Ende der kaiserlichen Herrschaft macht ein sinnvolles Leben unmöglich. Im Spiegel des unbedingten Bonapartismus deutet Heine hier bereits die Öde und Epigonalität eines Europas ohne Napoleon an. Für den Grenadier bedeutet Napoleons Ende das Ende des eigenen Lebens, und er trifft Vorrichtungen für seinen Tod. Mit diesem Tod ist aber das Treueverhältnis gegenüber Napoleon nicht beendet, sondern tritt in eine Art Interregnum ein. Die letzten beiden Strophen beschließen das Gedicht mit einer apokalyptischen Vision von der bonapartistischen Treue über den Tod hinaus, die sich in einer Art napoleonischem Jüngsten Gericht beweisen kann. Dekoriert mit dem „Ehrenkreuz am rothen Band“ (V. 25) und gerüstet mit „Flinte“ (V. 27) und „Degen“ (V. 28) will der Grenadier im Tod eine „Schildwach, im Grabe“ (V. 30) halten – auf Abruf, bis zur Wiederkunft des Kaisers, der mit „Kanonengebrüll“ (V. 31) nach Frankreich zurückkehrt.
Heine zitiert hier den Barbarossa-Mythos, aber nicht zu deutsch-nationalen Zwecken, wie dies Friedrich Rückert 1817 in seinem Gedicht Kaiser Friedrich im Kyffhäuser unternahm. Heine funktionalisiert den Kyffhäuser-Mythos bonapartistisch um und entnationalisiert ihn.272 Nicht Barbarossa kehrt aus dem Kyffhäuser zurück, um die deutsche Reichseinheit wiederherzustellen, sondern Napoleon kommt von St. Helena zurück, um seine Nationen überspannende Herrschaft fortzusetzen. Damit nutzt Heine die sich im Barbarossa-Mythos ausdrückende deutsche Reichssehnsucht als Formvorlage, um sie letztlich mit demjenigen als mythischen Erlöser zu besetzen, der für das Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation verantwortlich zeichnete.273 Diese nationale Enteignung ironisiert indirekt den nationalen Pomp des Barbarossa-Mythos etwa bei Rückert oder später bei Hauff. Besonderheit von Heines Mythos-Variation ist es darüber hinaus, daß die Wiederkehr des Kaisers eingeleitet wird durch die Wiederkehr seines Grenadiers, dessen Wiederauferstehung aus dem Grab der Leser stellvertretend für Napoleons Wiederkehr nachvollziehen kann. Das Außergewöhnliche dieser Außerkraftsetzung des Todes wird betont durch den identischen Reim „Grab“ (V. 33, 35), der bereits in der Strophe zuvor antizipiert wurde („Grabe“ [V. 30]). Napoleon wird dabei indirekt göttlicher Status zugeschrieben, denn schließlich erweckt der Ritt des Kaisers den Grenadier wieder zum Leben.
All dies bleibt die Projektion eines sterbenden Grenadiers. Es handelt sich um Figurenrede in einer Ballade, die sich zum Ende in ein Rollengedicht zu verwandeln scheint. Dennoch bleibt der Eindruck beim Leser vorhanden, daß auch der Erzähler der Ballade den Wunsch nach einer mythischen Wiederkehr Napoleons teilt.274 Der Erzähler der Ballade wertet die Verbannung Napoleons nach St. Helena als „traurige Mähr“ (V. 5), und er ist der erste, der die emphatische Geminatio „der Kaiser, der Kaiser“ (V. 8), verwendet, die später der Grenadier aufnimmt. Napoleons Soldaten werden in der Übertragung der grande armée ins Deutsche als das „große Heer“ (V. 7) heroisiert und deren Niederlage mitfühlend begleitet durch die verstärkende Zwillingsformel „besiegt und zerschlagen“ (V. 7). So öffnet Heines wohl noch zu Lebzeiten Napoleons verfaßte Ballade bereits den Raum für Wiedergänger-Legenden und zeichnet im Gedichtverlauf den Weg aus der Realität in die mythische Entrückung eines nach dem Tode zurückkehrenden Kaisers. Immermann wird später nach Napoleons Tod, wie auch Victor Hugo, diesen Vergleich von Napoleon mit Barbarossa weiterführen. Die Kluft zwischen einer ohne Napoleon öden und epigonalen Welt und der nur noch in der Vision eines sterbenden Grenadiers zu erträumenden Größe macht die Spannung dieser Ballade aus, die nur noch in der Erinnerung der Grenadiere vormodernes Heldentum greifbar macht.
Aus der lyrischen Formenvielfalt der Napoleon-Dichtung um 1814 bildete sich langsam die Tendenz zur Ballade heraus. In dem Moment, in dem Napoleons Eskamotierung aus Europa Endgültigkeit erreicht, dichten Rückert, Platen und Heine Napoleon-Balladen (1817–1820), die der geographischen Entrückung auch formalen Ausdruck verleihen. Diese Balladen berichten zwar von zeitgenössischen Ereignissen. Sie tun dies aber in einem historisierend-verfremdenden Stil, der das Geschehen ins Ungefähre und Numinose entrückt oder komisch in mythische Vorzeit entfernt, sei es, daß bei Rückert (Der Götter Rath) antike Götter die Disziplinierung Napoleons in Angriff nehmen, sei es, daß bei Platen (Colombos Geist) Napoleon bei der Überfahrt nach St. Helena jenseits historischer Glaubwürdigkeit ins weltgeschichtliche Zwiegespräch mit Christoph Columbus kommt, oder sei es bei Heine (Die Grenadiere), der zwei Soldaten Napoleons zu vorbürgerlichen Heroen stilisiert, von denen der eine Napoleons mythische Wiederkehr erwartet. Napoleon wird hier nicht mehr in konkrete mythische Vorlagen eines Prometheus oder eines Pharao gezwängt, sondern seine Biographie mythisch umstellt. Napoleons Leben wird nicht mehr in historischen Vorlagen eines Attila oder Süleiman II. kompensatorisch zu Ende erzählt. Mythisierungsverfahren werden in der Dichtung nicht mehr genutzt, um Ersatzschlüsse zu finden, sondern um den realen Schluß zu deuten. Die prophetische Funktion der Mythisierung wird durch ein hermeneutische Absicht abgelöst. Bei Platen (Colombos Geist) und Heine (Die Grenadiere) wird bereits angedeutet, daß Europas Abschied von Napoleon den Auftakt zu einem Zeitalter der Epigonalität bedeutet.