Читать книгу Der deutsche Napoleon-Mythos - Barbara Beßlich - Страница 9
1. Zur Forschung
ОглавлениеEine Arbeit über Napoleon in der deutschen Literatur hat nur wenig mit einer Arbeit über Napoleon als historische Person zu tun: Selbstverständlich referiert der Napoleon-Mythos auf überlieferte militärische und politische Stationen von Napoleons Leben, auf den Kursus vom raschen Aufstieg und doppelten, tiefen Fall, auf Napoleons symbolische Politik und auf seine seit den Italienfeldzügen lancierte Selbstmythisierung,11 aber schon bald nach 1821 löst sich die literarische Arbeit am Mythos von der Selbstdarstellung Napoleons.12 Die Napoleon-Legende des Vormärz rekurriert zwar auch auf die nachträgliche Selbstliberalisierung Napoleons in seinen Diktaten auf St. Helena,13 aber der deutsche Napoleon-Mythos ist mehr als das Produkt einer von Napoleon selbst initiierten Interpretation.14 Dennoch ist eine Arbeit über fiktionale Napoleon-Literatur darauf angewiesen, die nachträgliche literarische Ästhetisierung mit der historiographischen Darstellung der napoleonischen Epoche zu konfrontieren.15
Der deutsche Napoleon-Mythos ist nicht mit dem Begriff des ‚Bonapartismus‘ adäquat beschreibbar, denn es geht bei der Beschäftigung der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert mit Napoleon nur sehr selten um eine konkrete Ideologie und Propaganda für eine bestimmte monokratische Herrschaftsmethode, die auf Charisma statt auf traditionale Bezüge setzt.16 Das schwingt manchmal mit, bildet aber nicht den semantischen Kernbestand des deutschen Napoleon-Mythos. Die französische Historiographie hat unterschieden zwischen einem politisch konkreten ‚Bonapartismus‘ als eine über die Juli-Monarchie auf das diktatorische Einherrschaftsmodell Napoleon III. hinführende Ideologie und dem ‚Napoleonismus‘ als einer allgemeineren, politisch unkonkreteren Form der verehrenden Auseinandersetzung mit der Person Napoleon I.17 Für die deutsche Situation bietet es sich an, diese beiden systematischen Begriffe zu historisieren und in eine zeitliche Abfolge zu bringen. Denn es läßt sich in der Beschäftigung der deutschen Literatur mit Napoleon eine Entwicklung feststellen von einer eher politisch unkonkreteren ästhetischen Auseinandersetzung mit der historischen Größe Napoleons im 19. Jahrhundert zu einer immer konkreteren politischen Verschärfung in den weltanschaulichen Diskussionen des 20. Jahrhunderts. Zwar diskutieren auch schon deutsche literarische Texte des 19. Jahrhunderts Autokratie, Charisma und Herrschaftsform Napoleons, aber in Deutschland bleiben im literarischen Kontext die politischen Bezüge lange Zeit sehr viel vager und schwerer zu konturieren.
Während der Napoleon-Mythos in Frankreich ein stark bearbeitetes und der Napoleon-Mythos in England, Rußland und Italien zumindest ein erschlossenes Forschungsfeld darstellt,18 müssen für den deutschen Napoleon-Mythos im allgemeinen und für Napoleon in der deutschen Literatur im speziellen erhebliche Forschungslücken konstatiert werden. Einen allgemeinen geistesgeschichtlichen Überblick (ohne Fokussierung auf die Literatur) versuchte, nach Stählins nationaler Selbstbesinnung von 1952, Michael Freund 1969 (zum 200. Geburtstag Napoleons) zu geben.19 Dabei ging es Freund vor allem darum, die staatliche Modernisierung Deutschlands durch Napoleon und die Provokation eines deutschen Nationalismus in den Befreiungskriegen darzustellen. Die deutsche fiktionale Literatur zu Napoleon spielte allerdings bei Freund nur eine geringe Rolle.
Einzelne Aufsätze zu Napoleon in der deutschen Historiographie liefern eine wissenschaftsgeschichtliche Skizze,20 haben aber spätestens im 20. Jahrhundert mit den Biographien von Emil Ludwig, Werner Hegemann und den biographischen Texten aus dem George-Kreis ein analytisches Problem, da hier die Literarizität dieser Biographien nicht mehr allein mit einem wissenschaftsgeschichtlichen Zugriff zu erfassen ist. Die sogenannte ‚historische Belletristik‘ zu Napoleon in den 1920er Jahren demonstriert eindrücklich, wie sehr die positivistisch gezogene Grenze zwischen Historiographie und Literatur in der Praxis verwischt oder demonstrativ geöffnet wird.21 Das hybride Genre der literarischen Biographie, in dem faktisches Material mit Mitteln fiktionalen Erzählens strukturiert wird, bedarf einer literaturwissenschaftlichen Analyse.22
Wenn man von den historiographischen und historiographiegeschichtlichen Arbeiten23 den Blick auf die germanistische Forschung zu Napoleon in der Literatur lenkt, ergibt sich ein disparater Befund: Während sich die germanistische Forschung kaum mit dem Napoleon-Mythos im 20. Jahrhundert auseinandergesetzt hat, können für das 19. Jahrhundert einzelne Vorarbeiten herangezogen werden. Positivistische Aufsätze des späten 19. Jahrhunderts sind hilfreich, um ein Textkorpus zusammenzustellen, gehen aber über quellenkritische Einflußfragen in der Analyse selten hinaus.24 Dies gilt auch für die Studien Paul Holzhausens, dessen Napoleon-Begeisterung all seine kenntnisreichen Arbeiten grundiert.25 Milian Schömanns knappe Monographie von 1930 ist problematisch: Ohne jeden bibliographischen Nachweis im Text betreibt Schömann eine heroische ‚Wesensschau‘, die nicht weit entfernt ist von der des George-Kreises und sich engagiert an der Debatte um den starken Mann in der Weimarer Republik beteiligt. Die literarischen Wertungen Schömanns sind zeitgebunden, die Quellenauswahl willkürlich, zentrale Texte fehlen.26 Insgesamt taugt diese Arbeit mehr als Quelle für den Napoleon-Mythos der Zwischenkriegszeit denn als literaturwissenschaftliche Forschung über den Napoleon-Mythos des 19. Jahrhunderts. Schömanns Studie ist bisher die einzige Monographie, die sich mit Napoleon in der deutschen Literatur insgesamt beschäftigt.27
Soweit die Germanistik nach 1945 sich mit Napoleon in der deutschen Literatur befaßt hat, geschah dies neben vereinzelten Studien zur Publizistik der Befreiungskriege28 zumeist im Rahmen der Vormärz-For-schung. Jost Hermand, Paul Michael Lützeler und Wulf Wülfing haben sich mit der Mythisierung Napoleons in Deutschland bis 1848 auseinandergesetzt.29 Während Hermand einen ideologiekritischen Überblick über Napoleon im Biedermeier gab und Lützeler die deutsche Napoleon-Mythisierung besonders eindrücklich in einem europäischen Kontext komparatistisch situierte, untersuchte Wülfing vor allem präzise metaphorische Techniken der frühen Napoleon-Mythisierung. Über diesen Zeitraum hinaus liegen kaum Untersuchungen vor.30 Erst wieder die Napoleon-Dramen der Exilliteratur haben vereinzelte Beachtung gefunden.31 Daß aber die napoleonkritische Exildramatik zumeist auf einen affirmativen Napoleon-Mythos in Deutschland reagiert, blieb unberücksichtigt.
Germanistische Studien zum frühen 19. Jahrhundert betonen, der Napoleon-Mythos hätte nach 1848 keine wesentliche Rolle mehr in Deutschland gespielt,32 während umgekehrt geschichtswissenschaftliche Studien zum 20. Jahrhundert darlegen, daß der Napoleon-Mythos in Deutschland nie virulenter war als im frühen 20. Jahrhundert.33 Daß dieser geschichtswissenschaftliche Befund keineswegs nur für das politische Schrifttum,34 sondern auch für die deutsche Literatur zutrifft, hat die Germanistik bisher außer acht gelassen. Dies ist um so mißlicher, als die zentralen deutschen Napoleon-Texte des 20. Jahrhunderts nicht historiographischer, sondern literarischer Art sind.35
Die bisherige Konzentration der germanistischen Forschung auf den liberalen Napoleon-Enthusiasmus des Vormärz und auf die demokratische Auseinandersetzung der Exil-Dramatik mit Napoleon läßt den falschen Eindruck aufkommen, als sei die literarische Beschäftigung mit Napoleon in Deutschland nach 1821 eine vornehmlich liberal-progressive, frankophile und kosmopolitische Angelegenheit gewesen, während ein konservativer Nationalismus in Napoleon den Nationalfeind ausgemacht hätte. Das trifft aber spätestens nach 1890 nicht mehr für die Literatur zu. Nietzsches Napoleon-Enthusiasmus, der bisher kaum germanistisch gewürdigt wurde,36 wird zum Prätext der deutschen Napoleon-Literatur des 20. Jahrhunderts und ermöglicht einen zivilisationskritischen Napoleon-Diskurs, der mit Napoleon den Wunsch nach dem starken Mann in der Gegenwart thematisiert. In einer vulgarisierenden Nietzsche-Rezeption wird Napoleon zum historisch realisierten „Übermenschen“ und Recken gegen die Moderne umgedeutet.
Unberücksichtigt von der Forschung blieb die Bedeutung Napoleons für die postnaturalistischen Dramen Bleibtreus und Carl Hauptmanns, für den Expressionismus und den George-Kreis. Auch die literarische Napoleon-Biographik der Weimarer Republik wurde germanistisch bisher kaum gewürdigt.37 Daß der Nationalsozialismus ein eigenes Napoleonbild literarisierte und mit Napoleon die Republik-Demontage übte und rekapitulierte, eine heroische Anthropologie entwarf und für seine Weltherrschaftspläne eine napoleonische Tradition zu stiften versuchte, wurde bisher auch noch nicht literaturwissenschaftlich beachtet. Spätestens seit 1933 wird mit Napoleon-Texten in Deutschland über Hitler debattiert, und dies erklärt zum Teil auch die beredte Beklommenheit von Friedrich Stählin 1952 und Friedrich Sieburg 1956.