Читать книгу Der deutsche Napoleon-Mythos - Barbara Beßlich - Страница 16
4. Apokalypse 1813 E. T. A. Hoffmanns Erzählung Die Vision auf dem Schlachtfelde bei Dresden167
ОглавлениеDen politischen Gegner zur Macht des Bösen zu erklären, hat eine lange literarische Tradition. Es war eine weitverbreitete rhetorische Strategie in der Publizistik der Befreiungskriege, Napoleon zum Satan oder zur Inkarnation des Bösen schlechthin zu dämonisieren. Die Verteufelung des Gegners und die Sakralisierung des Krieges trugen appellativen Charakter und sollten den eigenen Kampf legitimieren. Ernst Moritz Arndt fundamentalisierte den Krieg gegen Napoleon darüber hinaus zum Entscheidungskampf um die Zukunft der Welt:
Dieser Krieg, der jetzt beginnt, ist ein heiliger und gerechter Krieg für die Religion, für die Freiheit und Ordnung der Welt gegen die Verruchtheit, Tyrannei und Gewalt […]. Es gilt der große Kampf mit dem Bösen, der jetzt beginnen soll, nicht allein eurem Vaterlande, eurer Religion, eurer Freiheit, eurer Sitte und Sprache, nein, es gilt der Ehre und Freiheit der Welt: es ist das Böse gegen das Gute zu Felde gezogen, es ist, als ob Satan sich zum zweitenmal gegen Gott empören und im schnöden Frevelmut die Werke seiner Herrlichkeit zerstören wollte.168
Theodor Körner auratisierte das politisch-militärische Geschehen zum „Kreuzzug, ’s ist ein heil’ger Krieg“; der Kampf gegen Napoleon war für ihn eine Angelegenheit, bei der „der Himmel hilft, die Hölle muß uns weichen!“169 Heinrich von Kleist wetterte gegen den „Höllensohn[]“ Napoleon.170 Zeitgenössische Karikaturen zeigten Napoleon als „Roten Teufel“ oder verbildlichten „Napoleons Ankunft in der Unterwelt“.171
Die Apokalypse spielte für die Erzählstruktur und als Bildspender für politisch-propagandistische Texte im Befreiungskrieg eine bedeutende Rolle.172 Nach dem Muster der Offenbarung des Johannes ließ sich die aktuelle politische Situation mit deren Handlungsablauf von Untergang und Neubeginn interpretieren. Aus Unterdrückung sollte Befreiung erwachsen. Einer defizienten Gegenwart voll Elend, Schmerz und Tod wurde eine vollkommene Zukunft in Glück, Freude und Leben entgegengestellt. Die dichotomische Struktur der Apokalypse verschmolz mit dem politischen Freund-Feind-Antagonismus. Im Entwurf eines absoluten Feindes wurde in der Umkehr auch ein gewünschtes Selbstbild erkennbar. Die Diffamierung des Anderen diente dazu, sich der eigenen Identität zu vergewissern und national zu profilieren.173 Religion und Nationalismus beliehen sich dabei gegenseitig.174 Das Fremde wurde als böse, verdorben und unrein stigmatisiert, das Eigene als gut, echt und rein idealisiert. In einer ausgefeilten Licht-Metaphorik stand klare Helle gegen opakes Dunkel. Aus der metonymischen Opposition von der „Hure Babylon“ und dem „neuen Jerusalem“ in der Offenbarung des Johannes ließ sich analog ein Gegeneinander von Paris und Berlin formieren.175 Die Heilsgewißheit des biblischen Textes verwandelte sich in militärische Siegeshoffnung. Die kriegerische Gewalt wurde dabei zur eschatologischen Notwendigkeit, um das Böse vernichten und aus der Immanenz in die Transzendenz wechseln zu können.176
In solchen apokalyptischen Ästhetisierungen des Kriegsgeschehens wurde Napoleon zum Antichristen, zum Teufel und Satan verbildlicht. Gattungstypologisch nutzte besonders die Lyrik der Befreiungskriege die Symbolsprache der Offenbarung als metaphorisches Repertoire.177 Achim von Arnim warnte vor dem französischen Kaiser: „Hört den Antichrist erschallen“, Theodor Körner war sich in Bezug auf Napoleon sicher: „Der Teufel muß erliegen“, und Ernst Moritz Arndt urteilte über die politischen Herrschaftsverhältnisse in Deutschland: „Der Satan drückt uns nieder.“178 Daß eine solche apokalyptische Auslegung der gegenwärtigen politischen Situation nicht nur eine Angelegenheit der Kriegslyrik national erregter Schriftsteller war, sondern allgemein grassierte, belegt ein Brief des Malers Friedrich Meier vom 11. November 1805 in Dresden an Wilhelm von Gerlach in Berlin. Meier ironisiert dort die Suche nach wörtlichen Entsprechungen und die Bereitschaft zur unmittelbar vergegenwärtigenden Exegese:
Hier indessen liest jetzt alle Welt die Offenbarung Johannis, wo sie von Bonaparte alles haarklein vorausprophezeit findet. Neulich treffe ich meinen Wirt dabei, der sucht und sagt, selbst der Name sollte drin stehen. Gleich den Tag drauf sagte mir Ferdinand Olivier: Hast Du denn noch nicht nachgelesen, es ist sonderbar, es paßt alles, und selbst der Name Apoleon. Mir, einem großen Griechen, fiel das gleich auf, und ich sagte, das wäre vermutlich ein griechisches Partizip von apoléo, eine Form neben apóllymi, das der Zerstörende, Verderbende heiße. Nun sehe ich nach, da steht, nachdem gesagt ist, es wären auf das Posaunen eines Engels Heuschrecken aus dem Rauch der Tiefe entstanden (die gräßlich beschrieben werden): und hatten über sich einen König, deß Namen heißt auf Hebräisch Abbadon, und auf Griechisch hat er den Namen Apollyon. Das ist ja noch klarer das Partizip apollýon. Ich möchte nur wissen, was Abbadon auf Hebräisch heißt. Eine halbe Stunde habe ich gelacht, daß das dumme Volk in Apollyon ganz deutlich Napoleon findet.179
Die Literatur greift diese millenaristische Exegese auf und formt sie zum künstlerischen Mittel um, bei dem es dann nicht mehr um die reale Erwartung des Antichristen geht (wie etwa in den apokalyptischen Lehren des Joachim von Fiore), sondern um eine Aussageverstärkung durch religiöse Bildkraft. Napoleon wird so in der apokalyptischen Deutung der Deutschen in der Zeit der Befreiungskriege zur Schlange oder zum teuflischen Drachen stilisiert. Diese Verbildlichung zum Tier bezog sich auf die Stelle der Offenbarung, in der der Gegner Gottes als der „große Drache, die alte Schlange, die da heißt: Teufel und Satan, der die ganze Welt verführt“ (Offenbarung 12, 9), beschrieben wird. Ernst Moritz Arndt prognostizierte dementsprechend: „Es floh die giftige Schlange“ und formulierte einen „Spruch der Rache: | Heute falle, falscher Drache“, und Theodor Körner hoffte: „Vor deinem Schwerte sinkt der Drache“.180
Um so bemerkenswerter ist E. T. A. Hoffmanns knappe antinapoleonische Erzählung Die Vision auf dem Schlachtfelde bei Dresden, da sie zwar auch die Apokalypse intertextuell beleiht, aber sie an entscheidender Stelle variiert. Hoffmanns literarischer Beitrag zum Befreiungskrieg übernimmt nicht die übliche propagandistische Verteufelung Napoleons, sondern läßt den teuflischen Drachen selbst im Verbund mit Gott in den Kampf gegen Napoleon eintreten. Hoffmanns zwei Welten, die das Alltägliche und das Wunderbare gegenüberstellen, werden hier ins Politische und Religiöse transponiert: Geschichte und Ewigkeit stehen sich gegenüber, politische Gegenwart und jüngstes Gericht werden gegeneinander gesetzt. Die Realität der preußischen Niederlage wird mit der Vision von Napoleons apokalyptischer Bestrafung konfrontiert. Reales Sein und gewünschtes Sollen werden erzählerisch nebeneinander gesetzt und ineinander verwoben, um beim Leser die Bereitschaft zu erzeugen, die Wirklichkeit zu ändern. Die Vision auf dem Schlachtfelde bei Dresden soll den gegen Napoleon Kämpfenden Tröstung vermitteln und zum weiteren Kampf motivieren. Wie die Offenbarung des Johannes fungiert E. T. A. Hoffmanns Erzählung als Sendschreiben, trägt appellativen Charakter und soll die Verzagten im Kampf gegen einen übermächtigen Feind stärken.
Hoffmanns Erzählung ist bisher kaum in der Forschung beachtet worden. In der älteren Forschung finden sich lediglich knappe Hinweise auf die apokalyptische Skizze.181 Die Kommentare und Anmerkungen von Friedrich Schnapp in der Münchener Winkler-Ausgabe und von Hans-Joachim Kruse in der (Ost-)Berliner Ausgabe helfen, den Text in einen werkbiographischen Kontext einzuordnen.182 Den wichtigsten Forschungsbeitrag zur Vision auf dem Schlachtfelde bei Dresden bildet das Nachwort von Hartmut Steinecke im Nachdruck der Erstausgabe, das detailliert die Entstehungs- und Veröffentlichungsgeschichte von Hoffmanns Erzählung nachzeichnet.183 Michael Rohrwasser zitiert die Vision auf dem Schlachtfelde bei Dresden, um den verborgenen politischen Blick E. T. A. Hoffmanns zu rekonstruieren.184 Ingo Zimmermann rekapituliert knapp die biographischen Details von Hoffmanns Napoleon-Erlebnis und erwähnt in diesem Zusammenhang auch Die Vision auf dem Schlachtfelde bei Dresden.185 Im folgenden soll kurz auf die Entstehungsgeschichte der Vision auf dem Schlachtfelde bei Dresden eingegangen werden, um daran eine Analyse des Textes anzuschließen, die besonders das intertextuelle Verhältnis von Hoffmanns Erzählung zur Offenbarung des Johannes berücksichtigt.
E. T. A. Hoffmann arbeitete als Kapellmeister von Joseph Seconda in Dresden, als der Kampf gegen Napoleon im August 1813 Dresden erreichte. Bereits Ende 1812 zogen die Trümmer der grande armée nach dem für Napoleon katastrophalen Ausgang des Rußlandfeldzugs durch Sachsen. Die kolossale Niederlage der Franzosen in Rußland ermutigte den nationalen Widerstand und entfachte den Aufstand gegen die französische Herrschaft in Deutschland; die „Befreiungskriege“ erreichten ihren Höhepunkt.186 Napoleon stellte in einem enormen Tempo in Frankreich eine neue Armee von 300.000 Rekruten im Alter von 18 bis 19 Jahren zusammen. Ausgebildet wurden die Rekruten bei ihrem Marsch von Frankreich nach Deutschland. Im Frühjahrsfeldzug 1813 schlug Napoleon die Verbündeten. Am 8. Mai 1813 zog Napoleon in Dresden ein. E. T. A. Hoffmann vermerkte dies knapp in seinem Tagebuch.187 Am 12. Mai 1813 beobachtete Hoffmann „den Kaiser, den Vizekönig u. s. w. auf der Brücke […][,] wie er Cavallerie und Artillerie vorbeidefiliren ließ“ und kommentierte dies lakonisch mit „besondre Empfindungen“ (Tb, 205).
Am 26. Juni 1813 fand in Dresden eine Unterredung zwischen Napoleon und Metternich statt. Am 27. Juni 1813 schloß Metternich einen Geheimvertrag für Österreich mit Preußen und Rußland ab. Schließlich erklärte Österreich am 11. August 1813 den Krieg. Die Verbündeten gliederten sich in eine Nordarmee unter Bernadotte (dem ehemaligen Marschall Napoleons, der als König von Schweden die Seiten gewechselt hatte), die schlesische Armee unter Blücher und die böhmische Armee unter dem österreichischen Fürsten Schwarzenberg. Am 15. August 1813 verließ Napoleon Dresden und schickte Marschall Davout in den Norden gegen Berlin, in der Mitte stand Marschall Ney gegen Blücher, und Napoleon selbst zog nach Böhmen.188 Hoffmann notierte in seinem Tagebuch: „Der Kaiser ist fort mit den Garden | man sieht der Schlacht entgegen“ (Tb, 218).
Napoleon siegte in der Schlacht von Dresden (26./27. August 1813) ein letztes Mal gegen die Verbündeten, bevor er in der Völkerschlacht bei Leipzig (16.–19. Oktober 1813) seine entscheidende Niederlage vor seiner Verbannung nach Elba erlitt. Bei der Schlacht von Dresden starben 10.000 Franzosen; Preußen und Rußland hatten 15.000 Tote und Verwundete zu beklagen.189 Hoffmann erlebte dies alles unmittelbar als Augenzeuge mit und kommentierte das Schlachtgeschehen in seinem Tagebuch als die „merkwürdigsten Tage meines Lebens“ (Tb, 220):
Schon früh 7½ Uhra sah ich vom Boden des Nebenhauses, daß die Russen in Colonnen anrückten | um 11 Uhr kam der Kaiser Nap[oleon] mit ei[nem] Theil der Garden – ich sah ihn lange an der Elbbrücke umgeben von sei[nen] Marsch[ällen] halten wie er Befehle austheilte pp Zwischen 4 und 5 Uhr griffen die Russen und Oesterreicher die Stadt auf allen Seiten an und ich sah vom Boden die fürchterliche Kanonade, Schlag auf Schlag – Eben als ich zu Hause gehen wollte sauste eine Granate über meinem Kopfe durch die Luft und fiel 10b Schritt vor mir nieder zwischen Pulverwagen! – eine zweite schlug in das Dach des gegenübersteh[e]n[den] Hauses – Alle Einwohner des Hauses versammelten sich auf der Treppe des zweiten Stocks, und jeden Augenblick hörten wir Granaten springen – Die Kanonade dauerte fort bis es ganz finster war, und nun sahen wir an dem feuerrothen Himmel, daß überall Feuer seyn müßte. (Tb, 220)
Das Erlebnis dieser „merkwürdigsten Tage meines Lebens“ politisierte Hoffmann. Michael Rohrwasser erläutert zu Recht: „Hoffmann wandelt sich in diesen Monaten vom politisch desinteressierten Zeitgenossen, der von der Niederlage Preußens 1805/6 keine Notiz nimmt, obwohl seine Beamtenlaufbahn damit ein vorläufiges Ende genommen hat, und der Napoleons Siege feiert, wenn sie seine Ruhe fördern, zum aufmerksamen Parteigänger.“190 Am 27. August sah Hoffmann „ungefähr 1200“ (Tb, 221) Gefangene an sich vorbei marschieren, und am 28. August beobachtete er Totengräber, „die mit Trommel und Pfeifen aufsa Schlachtfeld zogen“ (Tb, 221). Zwei Tage nach der Schlacht ging Hoffmann zum Schlachtfeld. Ihn erwartete ein „scheußlicher Anblick – Leichen mit zerschmetterten Köpfen und Leibern“ (Tb, 221). Das alles schien ihm wie eine albtraumartige Sequenz: „Was ich so oft im Traume gesehn ist mir erfüllt worden – auf furchtbare Weise – Verstümmelte und zerrissene Menschen!!“ (Tb, 222) Einen Tag nach diesem Anblick begegnete Hoffmann „dem Kaiser […] mit einem furchtbaren Tyrannenblick Voyons brüllte er mit einer Löwenstimme dem Adjutanten zu“ (Tb, 222). Noch zwei Wochen nach der Schlacht lagen Pferdekadaver und Leichen vor der Stadt. Aus den Kirchen und Lazaretten brachte man die Verstorbenen auf die Straße. Ob sie bestattet wurden, blieb dem Zufall überlassen.191
Diese außerordentlichen Eindrücke – die der massenhaft hingemetzelten Soldaten und die des beeindruckenden „Tyrannen“ – wollte Hoffmann literarisch verarbeiten. Daß sich hierfür das poetische Spiel mit der Irrealität anbot, illustriert bereits Hoffmanns Vergleich mit dem Traum (Tb, 222). Das Schlachtfeld als außeralltäglicher Ort und der Krieg als Ausnahmezustand in Permanenz forderten eine besondere Darstellungsweise. Hoffmann dachte erst einmal an eine Tagebucherzählung, die er Drey verhängnisvolle Monate nannte. Diese ist Fragment geblieben.192 Vier Monate nach der Schlacht bei Dresden hat Hoffmann Die Vision auf dem Schlachtfelde bei Dresden am 16. Dezember 1813 begonnen (Tb, 239) und den Abend darauf „mit Glück beendet“ (Tb, 239). Jetzt sollte sie Teil einer Broschüre werden, die aus drei literarischen Briefen und der Vision als Anhang bestehen sollte. Die drei Briefe sollten das Geschehen bis zur Schlacht beschreiben, die Vision als „fortissimo Tutti“ das Ganze beschließen.193 Intertextuell verweist eine solche Schlußstellung der Vision innerhalb der Broschüre auf die Offenbarung des Johannes als letztes Buch der Bibel. – Hoffmann selbst betonte mehr die religiöse Bildlichkeit als ihre politische Funktionalisierung, als er die Vision beschrieb als „zwar nicht eigentlich politisch […], sich doch aber in starken Ausdrücken gegen das Höllensystem und den Tyrannen selbst“ aussprechend.194
Nach einigem Geplänkel und Gezänk über den Veröffentlichungsmodus ließ Hoffmanns Verleger Kunz, nachdem Hoffmann die angekündigten Briefe zu der Broschüre nicht folgen ließ, die Vision auf dem Schlachtfelde bei Dresden im Frühjahr 1814 separat als Flugschrift drucken.195 Als Hoffmanns Vision erschien, war Napoleon längst besiegt, die Flugschrift als publizistischer Beitrag zum Befreiungskrieg obsolet.196
Die Vision auf dem Schlachtfelde bei Dresden ist eine kurze Ich-Erzählung, in der der Leser kaum etwas über die Person des Erzählers erfährt. Die erzählte Zeit erstreckt sich über einen Abend im August 1813, den Abend nach der Schlacht bei Dresden (26./27. August 1813). Die Erzählung gliedert sich in drei Teile: In einem ersten Teil berichtet der Erzähler vom Besuch des Schlachtfeldes bei Dresden. Der zweite Teil gibt eine Vision des Erzählers auf diesem Schlachtfeld wieder, in der Napoleon in einem Jüngsten Gericht zu ewiger Verdammnis verurteilt wird. Der dritte Teil schildert den Heimweg des Erzählers und schließt mit einer weiteren, nur noch knapp gezeichneten Vision. Die rahmenden Teile der Erzählung spielen bis auf die abschließende Anti-Vision in der Wirklichkeit und sind sehr kurz gehalten. Sie umfassen jeweils weniger als eine halbe Seite Text. Der Mittelteil wechselt in die Unwirklichkeit der Vision, deren Realitätsstatus als Traum, Einbildung oder Prophetie nicht genau bestimmbar ist. Dieser zweite Teil ist der längste mit etwa drei Seiten Text und bildet das Zentrum der Erzählung.
Wirklichkeit und Vision werden vermittelt durch irreale Vergleichssätze, die an Heinrich von Kleists Novellen erinnern.197 Formeln wie „Da war es mir als zöge“ (602), „es war, als öffne“ (603) und „bald war es mir, als sei“ (605) signalisieren mit ihrem Wechsel vom Indikativ zum Konjunktiv den Umschlag aus der Realität in die Phantastik der Vision.198 Der Konjunktiv bewirkt einen Erzählervorbehalt und läßt den Leser im Unklaren über die Authentizität des Erzählten. Die Rückkehr aus der Vision in die Wirklichkeit wird sprachlich mit dem Vergleich „wie aus schwerem Traum erwacht“ (549) geleistet. Auch hier verunklart der Vergleich die Zuverlässigkeit des Erzählens. Die Vision wird nicht als Traum gewertet, sondern nur mit einem Traum verglichen.
Die Vision auf dem Schlachtfelde bei Dresden alludiert in Thema, Sprache und Bildlichkeit die Apokalypse. Auch der Aufbau der Erzählung orientiert sich an der Offenbarung des Johannes: Dem breit beschriebenen Schrecken von Weltende und Jüngstem Gericht folgt ein knapper Ausblick auf das Heil, in der Apokalypse verbildlicht im Neuen Jerusalem (Offenbarung 21–22) und bei Hoffmann in den rettenden Herrschern König Friedrich Wilhelm III. von Preußen und Zar Alexander I. von Rußland. Dabei konstruiert die Erzählung gegenüber dem historischen Dresden einen imaginären Raum zwischen Himmel und irdischem Schlachtfeld, in dem sich das Jüngste Gericht formiert. Der Erzähler hat dabei nur Beobachterstatus. Auch dies ist entsprechend der Offenbarung des Johannes konzipiert, in der Johannes von Patmos von Visionen berichtet, die er gesehen, aber nicht handelnd beeinflußt hat.199
Zur Vision des Ich-Erzählers: Über dem Schlachtfeld materialisiert sich in einer „Rauchsäule“ (602) Napoleon, der die ganze Erzählung hindurch nicht mit Namen genannt und antonomastisch verrätselt wird zum „Tyrannen“ (602, 603, 604), „Mörder“ (602) und „Erdenwurm“ (603). Er wird gebrandmarkt als „Verworfener“ (602, 604), „Verblendeter“ (602) und „Entarteter“ (604). Die Antonomasien verleihen der mystifizierten Gestalt Bedeutsamkeit und öffnen eine doppelte Semantik, die sowohl eine aktuelle politische Deutung auf Napoleon als auch eine religiös verrätselte, typologische Interpretation zuläßt.
In vertikaler Opposition zu Napoleon entsteigen dem Schlachtfeld Verwundete, Leichname und Gerippe und formieren sich zu einem Jüngsten Gericht über Napoleon. Dieses Jüngste Gericht wird optisch eröffnet, indem ein „wunderbarer roter Schein blitzte“ (602). Wie in der Offenbarung symbolisiert der Blitz die „Plötzlichkeit und große Kraft des hereinbrechenden Gerichts Gottes“.200 Das Bedrohliche der Situation wird mit dem Satz „und wilder wurde das Geheul, entsetzlicher der Jammer!“ (602) illustriert, der radikalisiert zweimal variiert wird. Bei der ersten Wiederholung steigert das Adverb „immer“ die Aussage: „Und immer wilder wurde das Geheul – entsetzlicher der Jammer!“ (602) Das dritte Glied der Klimax gradiert die Intensität der Aussage durch die Geminatio: „Und immer wilder und wilder wurde das Geheul, entsetzlicher der Jammer“ (602). Diese ritualisierte Dreigliedrigkeit zitiert zum einen die Struktur des Märchens und beleiht zum anderen biblische Muster. Auch die Offenbarung erzeugt durch Wiederholung Steigerungen, wenn etwa jede neue Posaune ein größeres Unheil bringt.
Die apokalyptische Szene wird von unten nach oben beleuchtet. Der über dem Schlachtfeld schwebende Napoleon wird von unten in einer präexpressionistisch anmutenden Bildlichkeit angestrahlt: „Aus den blutigen Augen der Leichname, aus den knöchernen Augenhöhlen der Gerippe schossen Strahlen hinauf, die wie in emporflackernden Flammen die Gestalt erleuchteten.“ (602)201 Aus dem sprachlosen Jammer und kreatürlichen Geheul der Opfer Napoleons formt sich der artikulierte Ruf nach „Rache – Rache – unsere Qual über dich“ (602). Dieser Ruf nach Rache alludiert die Offenbarung, in der nach der Öffnung des sechsten Siegels die Seelen der Ermordeten klagen: „Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, wie lange richtest du nicht und rächst nicht unser Blut an denen, die auf der Erde wohnen?“ (Offenbarung 6,10)
Hoffmanns Napoleon weist die Forderung nach Rache weit von sich und schwingt sich zur Todsünde der Superbia auf. Er stellt sich an Gottes Stelle und weist seine Opfer in einer rhetorischen Frage zurecht: „‚Was wollt ihr, Törichte, bin ich nicht selbst die Rache, bin ich nicht selbst das Verhängnis, dem ihr dienend gehorchen müßt?‘“ (602) Hoffmann läßt damit seinen visionären Napoleon blasphemisch den alttestamentarischen Gott zitieren, der sich possessiv die Rache zuordnet: „Die Rache ist mein“ (5. Mose 32, 35). Damit macht sich Napoleon über seine Feindschaft mit den Menschen hinaus zum direkten Gegner Gottes. Napoleon schwingt sich nicht nur zum Herren über Leben und Tod auf, sondern allegorisiert sich zum Tod selbst: „‚Erkennt ihr mich? – ich bin der Tod!‘“ (602) Napoleons Opfer verweisen daraufhin auf Gott, ohne diesen zu nennen.202 Gott bleibt in dieser Vision genauso namenlos wie Napoleon. Beiden eignet das Numinose; beide erheben sich mit ihrer Namenlosigkeit über menschliche Identitätszuweisungen. Namenlosigkeit und Anonymität durchziehen leitmotivisch die gesamte Erzählung.203
Napoleon antwortet auf die religiöse Rüge seiner Opfer mit einem nihilistischen Bekenntnis, das im Duktus an Jean Pauls Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei erinnert.204 Gegen die Einwände der Gläubigen verkündet Napoleon die Gottlosigkeit des leeren Himmels:
„Wahnsinnige, was sucht ihr über meinem Haupt? – über mir nichts! – öde ist der finstere Raum da droben, denn ich selbst bin die Macht der Rache und des Todes, und wenn ich meine Arme ausstrecke über euch, verstummt euer Jammer, und ihr sinkt vernichtet in den Staub!“ (603)
Auch Napoleon nennt Gott nicht beim Namen. Die Ellipse „über mir nichts“ verknappt und verhärtet den agnostischen Zweifel zum atheistischen Schlachtruf. Mit dieser nihilistischen confessio bestreitet Hoffmanns Napoleon jegliche Erkenntnis-, Seins-, Wert- und Gesellschaftsordnung, die außerhalb seiner kontingenten Setzung steht.
Napoleons gottverneinende Kraft scheint erst einmal Erfolg zu haben, denn mit einer Armbewegung schickt er die aus dem Grab Erstandenen unter die Erde zurück.205 Dieser Verweis versetzt Napoleons Opfer zurück in die Sprachlosigkeit. Leitmotivisch wird diese Rückkehr mit den zuvor benutzten Begriffen „Geheul“ und „Jammer“ akzentuiert: „Die Leichname und Gerippe versanken und ihr Geheul, ihr schneidender Jammer verhallte in der Tiefe.“ (603) Aus der Erde, in die die Toten zurückgekehrt sind, materialisiert sich ein reißender blutiger Strom, gespeist aus dem Leid der von Napoleon Geknechteten: „Nun quollen Blutstropfen aus der Tiefe, die das Wiesengrün färbten und bald gleich rauschenden Bächen im schäumenden Strom zusammensprudelten, der über die Erde brauste.“ (603) Diese blutige Sintflut hat ihr Vorbild in der Offenbarung des Johannes. Dort haben die Propheten die „Macht, das Wasser in Blut zu verwandeln“ (Offenbarung 11, 6). Auch der von Hoffmann benutzte Begriff des „Stromes“ findet sich in der Offenbarung: „Und der dritte Engel goss aus seine Schale in die Wasserströme und in die Wasserquellen, und sie wurden zu Blut.“ (Offenbarung 16, 4) Um die Ungläubigen zu strafen, werden sieben Engel beim Jüngsten Gericht mit den „Schalen des Zorns“ ausgestattet. „Der zweite Engel goß seine Schale über das Meer. Da wurde es zu Blut, das aussah wie das Blut eines Toten; und alle Lebewesen im Meer starben“ (Offenbarung 16, 3).
Dem blutigen Strom entsteigt bei Hoffmann ein „fürchterlicher riesiger Drache“ (603), dem das Aussehen einer geflügelten Schlange attestiert wird. Der Drache erhebt sich aus den blutigen Fluten und packt den über den Wassern schwebenden Napoleon „mit den spitzigen Krallen, die er tief in seine Brust eingrub“ (603). Hatte bis jetzt der Dialog des über der Erde schwebenden Napoleon mit seinen im Irdischen verhafteten Opfern zwischen Himmel und Erde stattgefunden, so koppelt sich nun die Vision völlig vom realen Raum des Schlachtfeldes ab und wechselt ganz in ein imaginäres Zwischenreich der Lüfte.206 Im Griff des Drachen entspinnt sich ein Dialog zwischen Gott und Napoleon. Erst durch den Drachen diszipliniert, wird ein solches Gespräch möglich. In der Offenbarung des Johannes verkörpert der Drache den Teufel; „der große Drache, die alte Schlange, die Teufel oder Satan heißt und die ganze Welt verführt“ (Offenbarung 12, 9), wird von Gott besiegt. Der Leser von Hoffmanns Erzählung, der sich durch zahlreiche bekannte Bilder aus der Offenbarung mittlerweile auf eine Parallel-Lektüre zur Apokalypse eingelassen hat, muß an dieser Stelle stutzig werden: Der teuflische Drache aus der Apokalypse steht bei Hoffmann im Dienst der göttlichen Macht und hilft, Napoleon zu überwältigen. Die Stärke Napoleons wird so besonders betont, Gottes Omnipotenz hingegen wird relativiert. Gott allein ist es nicht mehr möglich, Napoleon in seine Schranken zu weisen, sondern er bedarf des Teufels, um gegen Napoleon sieghaft zu werden. Hoffmann bringt so die gesamte Schöpfung, inklusive Satan, in Anschlag, um Napoleon zu disziplinieren. Die traditionelle Himmel/Hölle-Dichotomie verschiebt sich bei Hoffmann zu einem gemeinschaftlichen Miteinander von Himmel und Hölle gegen die irdische Macht Napoleons.
Die Krallen des Drachen lassen Napoleon aufschreien wie zuvor seine Opfer. Diese Übertragung des Schmerzes wird sprachlich betont, indem vom „heulenden Mißton“ (603) die Rede ist. Im Partizip „heulend“ wird das „Geheul“ der Opfer (602) zitiert. Hatte Napoleon bis jetzt von oben nach unten gesprochen und über ihm lediglich das „Nichts“ angesiedelt, ertönt jetzt über ihm Gottes Stimme, anonymisiert in Anlehnung an die Offenbarung des Johannes. In der Apokalypse wird Johannes „vom Geist ergriffen und hörte hinter mir eine Stimme, laut wie eine Posaune“ (Offenbarung 1, 10). Hoffmann vertikalisiert die Sprechsituation: „Es erscholl wie Posaunen von oben herab“ (603).207 Die Göttlichkeit bleibt wiederum anonym, ist rein akustisch vermittelt und genauso antonomastisch verrätselt wie Napoleon. Diese parallelisierte Anonymität betont abermals die erstaunliche Gleichrangigkeit. Damit erscheinen bei Hoffmann Napoleon und Gott als ebenbürtige Gegner.
Gott tituliert Napoleon zweimal als „Erdenwurm“ (603) und verweist ihn somit des Himmels, dessen Herrschaft er sich angemaßt hatte. Die göttliche Stimme erläutert, daß die Qual, die Napoleon der Menschheit auferlegt hatte, auf ihn zurückfalle: „Aus denen, die du opfertest im frevelnden Hohn, wurde die Qual geboren, die dich zerfleischt im ewigen Jammer!“ (603) Der Drache, der ja dem blutigen Strom von Napoleons Opfern entstiegen war, erweist sich somit als Geschöpf der Qual. Der Teufel wird gleichzeitig zum Rächer und zum Produkt menschlichen Leidens stilisiert. Darüber hinaus wird der teuflische Drache funktional zum Katalysator der Selbsterkenntnis Napoleons.208 Die leitmotivische Wiederholung des „Jammers“ illustriert diese Projektion des Leidens von den Opfern auf Napoleon. Die Posaunenstimme eröffnet das Jüngste Gericht: „Die Stunde der Erkenntnis, der Vergeltung ist da!“ (603) Der Drache assistiert der göttlichen Weisung, indem er Napoleon fester packt. Die Folter des teuflischen Drachens bewirkt dasselbe Leid, das Napoleon anderen zugefügt hatte, in derselben Wortwahl beschrieben: „Entsetzlicher, schneidender wurde der heulende Jammer“ (604), bezieht sich jetzt auf Napoleon und nicht mehr auf seine Opfer.
Napoleon winselt um Erlösung und wird zur kläglichen Figur in den Krallen des Drachens. Gnade wird ihm jedoch verwehrt. Zum zweiten Mal richtet sich die „Stimme im Posaunenton“ (604) an ihn und bestimmt ihn zur ewigen Verdammnis: „Im öden Raum ist dein Sein ewige Qual.“ (604) Das Attribut „öde“ zitiert das nihilistische Bekenntnis Napoleons.209 Napoleon wird das ziellose Darben in Ewigkeit zugesprochen, das er zuvor über seine Opfer verhängt hatte. Die Kursivierung „dein“ betont dabei die Übertragung der Qual von den Opfern auf Napoleon. Bar jeden Stolzes bittet Napoleon abermals um Erleichterung, und wieder wird diese Äußerung mit den Begriffen „Jammer“ und „Heulen“ geschildert (604). Daraufhin bestimmt Gott, daß Napoleons Qual gelindert werde, falls er Mitleid bei einem Menschen finde, wenn er „in eines Menschen Brust Trost für dich finden“ (604) mag.
Auf der Suche nach Mitleid begegnet Napoleon einer Riege historischer Tyrannen, die seinen Untergang kommentieren. Der imaginäre Raum der Apokalypse öffnet sich hier schemenhaft und verzerrt auf die historische Realität, die anachronistisch verdichtet wird. Von der Antike bis zur Neuzeit haben sich Nero, Dschingis Khan, Tilly und Alba versammelt, einig im Urteil über die Unvergleichbarkeit von Napoleons Grausamkeit, die ihm jegliches Mitleid verwehrt. Die tyrannische Ahnenreihe murmelt im Chor: „‚Was ist unsere Qual gegen seine Marter, denn uns ward noch Trost von der Erde, der wir angehörten.‘“ (604) Napoleon wird zum Opfer seines eigenen Nihilismus. Die gottlose Öde, die er seinen Opfern im leeren Himmel prophezeit hatte, eröffnet sich ihm auf der Erde, wo er auf das Nichts stößt: „Seine Stimme verhallte in den weiten Gründen, und kein menschlicher Ton des Trostes auf der ganzen weiten Erde unterbrach das dumpfe Schweigen der furchtbaren Öde.“ (604) Daraufhin bringt ihn der teuflische Drache zum endgültigen göttlichen Schiedsspruch.210 Wieder wird Napoleons Leiden mit sprachlosem „Jammer“ und „Geheul“ ausgedrückt: Das „Geheul seines namenlosen Jammers“ (604) bewirkt aber keine Gnade, sondern das erbarmungslose Urteil, das synästhetisch von einer „Posaunenstimme“ präsentiert wird, die „strahlt“: „‚Für dich kein Trost auf der Erde, der du im frevelnden Hohn entsagtest. Ewig ist die Vergeltung und deine Qual!‘“ (605)211
Mit dieser Verdammung endet die Vision abrupt. Napoleons Reaktion auf die endgültige Verfemung wird nicht mehr berichtet. Die Erzählung wechselt übergangslos zurück in die zeitgenössische Realität des August 1813 bei Dresden. „Wie aus schwerem Traum erwacht“ (605) findet der Ich-Erzähler, der während der Vision zurückgetreten war, aus der Phantastik in die Wirklichkeit zurück. Gleichwohl erinnert das Schlachtfeld mit seinen Gefallenen und Verwundeten an den Beginn der Vision: „Der Raub schlich gierig spähend dem Morde nach – winselnde Sterbende wurden geplündert.“ (605) So bleiben Wirklichkeit und Vision optisch und akustisch durch das Schlachtfeld vermittelt. Das Schlachtfeld als apokalyptisches Szenario innerhalb der Wirklichkeit bildet das Bindeglied zwischen den beiden Welten der Realität und der Vision, zwischen der politischen Geschichte und ihrer religiösen Überformung.
Auf dem Heimweg durch das wirkliche Dresden bleibt dem Ich-Erzähler die Vision als Erinnerung präsent: „Noch hallte die Stimme der ewigen Macht, die das Urteil über den Verdammten gesprochen, in meiner Brust“ (605). In seiner Wohnung angekommen, ruht sich der Erzähler vom Erlebten aus. Aber anstatt sich in der Wirklichkeit zu behaupten, ereilt ihn, wie in einer Coda, eine weitere Vision, die in zwei Sätzen den Schluß der Erzählung bildet:
Ruhiger wurde es endlich in meiner Seele, und bald war es mir, als sei das glänzende Sternbild der Dioskuren segensreich über der Erde aufgegangen, die erquickt den mütterlichen Schoß öffnete, um die Früchte des Friedens in nie versiegendem Reichtum zu spenden. Ich erkannte die strahlenden Helden, die Söhne der Götter: – Alexander und Friedrich Wilhelm! (605)
Wie in der Offenbarung des Johannes ist bei Hoffmann der Ausblick auf die segensreiche Zukunft kürzer, blasser und schwächer gezeichnet als das vorangehende Elend. Während Napoleons Ende in die grausame Bildlichkeit frühchristlicher Apokalyptik gefaßt war, wirkt die Heilsgewißheit antikisiert gedämpft. Synkretistisch stellt Hoffmann der blutigen Apokalypse Napoleons die zu Dioskuren mythologisierten russischen und preußischen Regenten gegenüber. Während in Napoleons Apokalypse die Erde erst Napoleons Opfer „verschlingt“, um dann einen blutigen Strom der Rache entquellen zu lassen, wird die Erde jetzt zum „mütterlichen Schoß“ stilisiert, aus dem die Friedensfürsten geboren werden. In schematischer Opposition stehen Vision und Anti-Vision, Untergang und Neubeginn gegeneinander. Daß Napoleons Ende dabei mehr fasziniert als Preußens und Rußlands Sieg, ist Hoffmann mit Sicherheit nicht unbeabsichtigt unterlaufen, sondern literarische Strategie. Napoleon ist selbst in seinem Untergang noch faszinierender stilisiert als seine Überwinder in der Völkerschlacht bei Leipzig im Oktober 1813.
Auch wenn Napoleon in der Vision auf dem Schlachtfelde bei Dresden zur ewigen Verdammnis verurteilt wird, bleibt die Faszination seiner ikonoklastischen Kraft bestehen. Wie sehr Hoffmann von diesem politischen Magnetiseur wider Willen angetan war212, bezeugt die Tatsache, daß Napoleon in der Vision nicht mehr von Gott allein besiegt, sondern nur im gemeinsamen Aufgebot von der göttlichen und der teuflischen Macht in die Knie gezwungen werden kann. Napoleons Apokalypse anno 1813 in der Vision auf dem Schlachtfelde bei Dresden verschärft so die apokalyptische Situation aus der Offenbarung des Johannes. Nicht mehr Gott und Satan stehen sich am Ende aller Tage gegenüber, sondern Gott und Satan müssen sich verbünden, um Napoleon zu bestrafen. Die Vision auf dem Schlachtfelde bei Dresden präsentiert so eine säkularisierte innerweltliche Apokalypse, in der der Gegner nicht mehr Satan, sondern ein Mensch ist. Damit treibt der Text das apokalyptische Muster an seine Grenzen. Die alte göttliche Ordnung läßt sich zwar noch ein letztes Mal wiederherstellen, aber nur, indem die ewigen Gesetze dilatorisch außer Kraft gesetzt werden und Gott und Teufel ein Zweckbündnis eingehen. Napoleon repräsentiert hier eine neue Zeit und eine neue antimetaphysische Ordnung, die zwar noch einmal mit größtmöglichem Kraftaufwand von der alten christlichen Ordnung zurückgedrängt wird, aber bereits die alten religiösen Denkmuster sprengt. Die alten apokalyptischen Freund-Feind-Konstellationen funktionieren nicht mehr in einer entgötterten Welt.