Читать книгу Der deutsche Napoleon-Mythos - Barbara Beßlich - Страница 19
7. Der 5. Mai 1821 Ende der Geschichte und Beginn des Epigonentums Grillparzer, Byron, Manzoni, Goethe, Fouqué, Chamisso
ОглавлениеAm 5. Mai 1821 starb Napoleon auf St. Helena. Nach Europa gelangte die Nachricht allerdings erst zwei Monate später, so lange brauchte das Schiff mit der Information von St. Helena. Die Nachricht erreichte erst London, dann Paris und schließlich von dort aus das übrige Europa.275 Alessandro Manzoni las vom Tod Napoleons am 16. Juli 1821 in der Gazetta di Milano und verfaßte in den folgenden Tagen seine Ode Il cinque Maggio. Auch zu Franz Grillparzer gelangte die Nachricht in Wien im Juli; er schrieb ebenfalls ein Gedicht über das Ende einer Ära. In den folgenden Monaten entstanden etliche Gedichte auf den Tod Napoleons.276
Hier soll zuerst Grillparzers Gedicht analysiert werden, um dann nachzuzeichnen, wie Manzonis Ode in unterschiedlichen Übertragungen Eingang ins Deutsche fand.277 Dabei werden exemplarisch zum einen Johann Wolfgang Goethes Interlinearversion mit Friedrich de La Motte-Fouqués Eindeutschung verglichen, um daran eine Analyse von Adelbert von Chamissos freier szenischer Dramatisierung des Manzoni-Gedichts anzuschließen. Grillparzer ließ sich bei seinem Gedicht von Lord Byrons drittem Canto aus Childe Harold’s Pilgrimage inspirieren. Goethe, La Motte-Fouqué und Chamisso übersetzten ein italienisches Gedicht. Die deutschsprachige Lyrik auf Napoleons Tod ist in einen europäischen Kontext integriert, der hier in der Analyse komparatistisch berücksichtigt werden soll.
Insgesamt zeigen diese Texte auf Napoleons Tod: Der 5. Mai 1821 wird nicht nur als Ende einer politischen Ära begriffen, sondern mit dem Tod Napoleons setzt auch literarisch ein epigonales Bewußtsein ein.278 Das Datum wird zur Chiffre einer Epochenschwelle: Nicht nur Manzonis Ode trägt den Titel Il cinque Maggio, auch Hector Berlioz wird 1835 seine Napoleon-Kantate mit dem Todestag Napoleons betiteln (Le cinq mai, Chant sur la mort de l’Empereur Napoléon). Nicht erst nach dem Tod Hegels und Goethes spekulieren die deutschen Dichter über ihr Nachgeborensein. Die dichterische Reflexion über mangelnde Größe und Originalität ist nicht nur ein innerliterarisches Phänomen, das sich an der Weimarer Klassik und der Romantik abarbeitet, wie dies die Forschung oft betont.279 Das epigonale Bewußtsein bildet sich auch ganz wesentlich in der Auseinandersetzung mit dem Ende der napoleonischen Ära heraus. An der Figur Napoleons wird die Größe analysiert, die man an sich selbst vermißt. So wird die Gestalt Napoleons zur poetologischen Sonde, mit der man den eigenen Abstand zum Außergewöhnlichen auszumessen sucht.
Napoleons Tod wurde in Wien am 13. Juli 1821 bekannt. Kurz darauf verfaßte Franz Grillparzer sein Gedicht Napoleon. Geschrieben im Jahre 1821, das zurückblickt auf die mythologischen und historischen Muster, die Napoleon zu Lebzeiten angepaßt worden waren. Politisch von Jugend an ein Gegner Napoleons, faszinierte Grillparzer gleichwohl dessen Persönlichkeit. Er hatte Napoleon 1809 bei seinen Militärparaden in Schönbrunn beobachtet und fühlte sich mit „magischer Gewalt“ von dem Kaiser angezogen, sah sich lähmend gebannt, so ein Vergleich ex post in seiner Selbstbiographie, wie der Vogel vor der Schlange.280 Diese numinose Gleichzeitigkeit von Faszination und gebannter Gefahr prägt auch Grillparzers Gedicht von 1821.281 Grillparzers Totenklage läßt die Fremdzuschreibungen für Napoleon Revue passieren und versammelt christologische und historische Vergleiche, um sie schließlich zu verabschieden und die Größe Napoleons gegen das Mittelmaß seiner Zeit herauszustellen. Der 5. Mai 1821 wird von Grillparzer zur Epochenschwelle inszeniert. Neun Strophen im fünfhebigen Jambus nehmen beinahe den Charakter eines dramatischen Trauermonologs an. Formal knüpft Grillparzers Gedicht an Lord Byrons Versepos Childe Harold’s Pilgrimage an, dessen Spenser-Stanzen es variiert und zu sieben Versen verkürzt.282 Diese formale Reverenz markiert zudem etliche inhaltliche intertextuelle Bezüge zu den Napoleon-Passagen in Lord Byrons drittem Canto von Childe Harold’s Pilgrimage, der 1816 erschien, also vor Napoleons Tod, aber nach seiner Verbannung nach St. Helena. Grillparzer rezipiert Byrons noch zu Lebzeiten Napoleons verfaßtes Versepos, um es in sein Trauergedicht einzuarbeiten:
Napoleon
Geschrieben im Jahre 1821
So stehst du still, du unruhvolles Herz,
Und bist gegangen zu der stillen Erde?
Was fünfzig Jahr, voll Hoheit und Beschwerde,
Voll Helden-Lust nicht gab und Helden-Schmerz,
5 Ist dir geworden in der stillen Erde,
Ein Sohn des Schicksals stiegest du hinab,
Verhüllt wie deine Mutter, sei dein Grab.
Das Fieber warst du einer kranken Zeit,
Bestimmt vielleicht des Übels Sitz zu heben,
10 So flammtest du durchs aufgeregte Leben;
Doch wie des Krankenlagers Ängstlichkeit
Dem Fieber pflegt der Krankheit Schuld zu geben,
Schienst du der Feind allein auch aller Ruh
Und trugst die Schuld, die früher war als du.
15 Was sie gesündiget ohn’ Unterlaß,
Was sie gefrevelt seit den frühsten Tagen,
Ward all zusammen auf dein Haupt getragen,
Du du duldetest für Alle Aller Haß,
Dich ließen sie nach jenem Schimmer jagen,
20 In dem sich Jeder selber gern gesonnt;
Wie du gewollt, nur nicht, wie du, gekonnt:
Denn, seit du fort, fließt nun nicht mehr das Blut,
In dem vor dir schon alle Felder rannen?
Ward Lohn den wider dich vereinten Mannen?
25 Ist heilig das von dir bedrohte Gut?
Ward Tyrannei entfernt mit dem Tyrannen?
Ist auf der freien Erde, seit du fort,
Nun wieder frei Gedanke, Meinung, Wort?
Dich lieben kann ich nicht, dein hartes Amt
30 War, eine Geißel Gottes sein hienieden,
Das Schwert hast du gebracht und nicht den Frieden,
Genug hat dich die Welt darob verdammt;
Doch jetzt sei Urteil vom Gefühl geschieden!
Das Leben liebt und haßt, der Toten Ruhm
35 Ist der Geschichte heilig Eigenthum.
Zum mindsten wardst du strahlend hingestellt,
Zu kleiden unsrer Nacktheit ekle Blöße,
Zu zeigen, daß noch Ganzheit, Hoheit, Größe
Gedenkbar sei in unsrer Stückelwelt,
40 Die sonst wohl selbst im eignen Nichts zerflösse,
Daß noch die Gattung da, die starker Hand
Bei Cannä schlug, bei Thermopylä stand.
Und so tritt denn zu der Helden Zahl,
Die annoch lebet auf der Nachwelt Zungen,
45 Zum Alexander, der die Welt bezwungen,
Zum Cäsar, der mit tadelnswertrer Wahl
Am Rubicon der Herrschaft vorgedrungen,
Zum — Stellt kein Held sich mehr zum Gleichnis ein?
Und ist man streng, da wo die Wahl so klein?
50 Geh hin und sag es an: der Zeiten Schoß,
Er bring’ uns fürder Mäkler, Schreiber, Pfaffen,
Die Welt hat nichts mit Großem mehr zu schaffen;
Denn ringt sich auch einmal ein Löwe los,
Er wird zum Tiger unter so viel Affen.
55 Wie soll er schonen, was hält Stich,
Wenn Niemand sonst er achten kann als sich?
Schlaf wohl! Und Ruhe sei mit deinem Tod,
Ob du die Ruhe gleich der Welt gebrochen;
Hat doch ein Höherer bereits gesprochen:
60 Von Anderm lebt der Mensch als nur von Brod,
Das Große hast am Kleinen du gerochen,
Und sühnend steh’ auf deinem Leichenstein:
Er war zu groß, weil seine Zeit zu klein!283