Читать книгу Green Mamba - Barry Stiller - Страница 11
18:58 uhr
ОглавлениеKeller und Tassel setzten ihr Gespräch in dem kleinen Aufenthaltsraum fort, den sich Schwestern, Pfleger und Aufseher teilen mussten. Der Raum war kaum einladender als Kaltenbrunns karges Krankenzimmer, das sie eben aufgesucht hatten. Aber immerhin gab es eine kleine Kochnische mit Herdplatte und Spülbecken, wo sich der Krankenpfleger nun zu schaffen machte. Er stellte einen blitzsauberen Becher mit abgebrochenem Henkel vor den Oberleutnant, zwei Minuten später folgte eine Kanne dampfenden Tees.
»Sie können mir also wirklich nichts weiter über Doktor Kaltenbrunn sagen.« Kellers Feststellung stand einige Sekunden im Raum. Tassel legte seine Hände um das warme Porzellan der Tasse und starrte in die Tiefen des russischen Chais. Schließlich sah er den Polizisten an.
»Ich weiß wirklich nicht mehr.«
»Wissen Sie, ich glaube Ihnen sogar das meiste. Allerdings bin ich mir zugleich vollkommen sicher, dass Sie mir etwas verschweigen.« Keller beobachtete die Reaktion seines Gegenübers genau und wusste, dass er ins Schwarze getroffen hatte. Der Pfleger mochte nichts Genaues wissen, doch er ahnte oder befürchtete zumindest irgendetwas. Die Frage war bloß, wie Keller ihn zum Reden bringen konnte. Druck während der Befragung schien dem Krankenpfleger noch weniger auszumachen als der Springfeld, die er zumindest kurzzeitig verunsichern konnte. Manchmal, das hatte der Oberleutnant in seinen inzwischen über zwanzig Dienstjahren gelernt, war Zeit der entscheidende Faktor. Und Tassel schien einer von denen zu sein, die mit der Zeit von alleine weich wurden. Er konnte sich vorstellen, wie der junge Mann die ganze Nacht über seine Anschuldigung nachgrübeln würde. Möglicherweise würde er auch die nächsten Tage auf der Arbeit noch überstehen, aber Keller war sich sicher, dass er spätestens nach einer Woche von Tassel hören würde. Nur konnte er leider nicht so lange warten. Nicht nur, weil die wenigen Spuren mit der Zeit erkalten würden, sondern auch weil der Druck auf ihn selbst von höherer Stelle sicherlich nicht abnehmen würde. Trotzdem beschloss er, Tassel im Moment nicht weiter zu bedrängen. Sonst würde der Pfleger womöglich komplett dicht machen.
»Genosse Tassel, ich denke, ich habe Sie lange genug von Ihrem Feierabend ferngehalten.«
Der Pfleger blickte überrascht auf. »Sie wollen gehen?« Schnell überwand er seine Verblüffung und fügte beiläufig hinzu: »Für mich fängt der Dienst jetzt erst an, ich habe heute Nachtschicht, wissen Sie.«
Keller zuckte mit den Schultern und wandte sich der Tür zu. »Danke für den Tee. Gute Nacht.«
Tassel begleitete ihn ohne ein Wort hinaus auf den Flur. Es war still und dunkel auf dem langen Gang, nur alle paar Meter brannte eine schwache Nachtleuchte. Ein leises Quietschen hob hinter einer der stabilen Türen an, die sie passierten. Keller blieb lauschend stehen, und Tassel warf einen kurzen Blick durch das Kontrollfenster, sagte oder tat aber nichts. Das Geräusch setzte sich fort. Bei dem Gedanken, wie das Personal die ganze Nacht in diesem düsteren Gebäude, umgeben von Verrückten, zubrachte, stellten sich Kellers Nackenhaare auf. Das Quietschen wurde etwas deutlicher, als sie dem Stationsgang weiter in Richtung Treppenhaus folgten.
Der Lichtschein, der durch die schmale Ritze unter der Tür fiel, war so schwach, dass Keller ihn sicher übersehen hätte, wenn Tassel nicht mit seinen weißen Schuhen genau in die Bahn des Lichts getreten wäre. Er hielt den Pfleger am Arm zurück und legte den Finger auf die Lippen. Der junge Mann nickte. Jemand war in Heises Büro.
Keller drückte Tassel an die Wand des Flures. »Sie bleiben hier«, raunte er ihm zu. Seine Hand fuhr unter das Jackett an das weiße Holster, in dem er seine Dienstwaffe trug. Erst als er sie mit einem kaum hörbaren Klick entsichert hatte, schob er sich an die Bürotür heran und drückte behutsam die Klinke herunter. Das Polizeisiegel, das er vorhin noch säuberlich in Augenhöhe angebracht hatte, hing zerrissen am Rahmen. Dem Eindringling schien es egal zu sein, dass sein Einbruch schnell bemerkt würde, sonst hätte er sicherlich das Papiersiegel sauber durchtrennt. Mit der Schulter schob Keller die Tür langsam auf. Sein Blick ging über Liege, Regale, Schreibtisch und Wandtafeln hinweg. Das Behandlungszimmer schien leer zu sein, genau so, wie er es verlassen hatte. Keller machte einen raschen Schritt in den Raum und kontrollierte mit gezogener Waffe die Wand hinter der Tür, der einzige Platz, wo sich noch jemand hätte verbergen können. Nichts.
Da hörte er ein rappelndes Geräusch aus dem Nebenraum. Er erstarrte und lauschte. Jemand hatte eine Schublade aufgezogen und wühlte nun durch Papier. Keller setzte langsam Schritt vor Schritt. Seine schwarzen Lederschuhe machten glücklicherweise kaum einen Laut – quietschende Gummisohlen oder knirschende VEB-Plasteschuhe, das wäre es jetzt gewesen. Er näherte sich der halbgeschlossenen Tür zu Heises Nebenzimmer und überlegte. Sollte er warten, bis der Unbekannte seine Durchsuchung beendet hatte und herauskam? Oder sollte er den Eindringling gleich stellen? Und was, wenn derjenige bewaffnet war? Keller verfluchte seine Unentschlossenheit. Da er nicht wusste, wonach der Unbekannte suchte und was er plante, bedeutete es ein Risiko abzuwarten. Wenn er ihn jetzt anrief und aufforderte, sich zu stellen, dann musste er allerdings damit rechnen, dass ihm die Tür vor der Nase zugeknallt und der Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde. In beiden Fällen könnte der Eindringling Spuren beseitigen oder verändern. Außerdem konnte er sich nicht erinnern, ob es in diesem Raum ein unvergittertes Fenster gab; entkommen durfte er auf keinen Fall. Was also tun, verdammt? Überrumpelungstaktik. Er öffnete die Tür mit einem kräftigen Fußtritt und gab sich im selben Moment als Angehöriger der Volkspolizei zu erkennen. Dann schien alles auf einmal zu passieren.
Das, was von dem kleinen Büroraum in sein Blickfeld kam, war leer. Er stürmte in den Raum hinein, wurde aber von etwas getroffen, bevor er die nicht einsehbaren Winkel beiderseits der Tür sichern konnte. Der harte Gegenstand, der ihn am Arm traf, war bloß ein Buch, doch das Manöver verschaffte dem Unbekannten die Sekunde, die er brauchte, um Keller beiseitezustoßen und ins Behandlungszimmer zu entkommen.
»Bleiben Sie stehen, ich habe–« Keller fluchte, als der Schatten in dem düsteren Flur verschwand. Er rannte los und stieß mit Tassel zusammen, der anscheinend im selben Moment die Verfolgung aufnehmen wollte. Sie stürzten hin, und Keller stieß lautstarke Verwünschungen aus. »Verdammt nochmal, Sie Dummkopf. Warum haben Sie den Typen nicht aufgehalten?«, machte er seinem Ärger Luft. »Bleiben Sie bloß hier, den schnappe ich mir noch!«
Keller sprang wieder auf die Füße und lief den Gang hinab in die Richtung, in die die Gestalt geflüchtet war. Das Treppenhaus war die einzige Möglichkeit, das Gebäude zu verlassen. Alles, was er von dem Unbekannten in Heises Räumen erkannt hatte, war seine weiße Pflegeruniform. Kein Gesicht, nichts Wiedererkennbares. Aber er war sich sicher, dass es ein Mann gewesen war, der das schwere Medizinstandardwerk geworfen hatte. Nicht viel, Genosse Oberleutnant, meinte er Schüttaus Stimme zu hören. Aber er hatte ja nicht vor, diesen Schnüffler entkommen zu lassen. Keller stürmte um die Biegung des Traktes und bekam den Flüchtigen wieder ins Blickfeld. Es war zu erkennen, dass die Gestalt etwas unter dem Arm trug. Ob es Krankenakten oder andere Papiere waren, ließ sich auf diese Entfernung nicht feststellen. Ein einzelnes Blatt segelte zu Boden, als der Flüchtende eine Tür aufzog. Im nächsten Moment knallte schweres Metall, und er war fort.
Das Treppenhaus war noch dunkler als die notbeleuchteten Flure. Keller blieb stehen und vernahm die hallenden Schritte des Eindringlings. Aber von wo? Oben oder unten? Der Oberleutnant reckte sich über das Geländer und schaute nach oben. Da, ein weißer Fleck. Er setzte ihm nach und versuchte, sich an die Anlage des Krankenhauses zu erinnern. Der verwinkelte Backsteinbau war von außen schwer überschaubar, und obwohl Keller sich sicher war, dass er nicht mehr als zwei Stockwerke gesehen hatte, konnte er nicht ausschließen, dass Teile der Klinik mehr Etagen hatten. In diesem Treppenhaus war jedenfalls im zweiten Stock Schluss. Über sich sah er die rissige Verkleidung der Dachschrägen. Wenige Schritte entfernt gab es eine einzige Tür auf diesem Stockwerk. Er stürmte nur Sekunden nach dem Flüchtenden durch die massive Brandschutztür, und fand sich in einer völlig anderen Welt wieder. Der kahle Flur endete etwa zwanzig Meter vor ihm, wo eine stabile Gitterkonstruktion eingebaut worden war und den Durchgang versperrte. Ein Blechschild erklärte, dass dort die forensische Abteilung begann.
Keller hatte sich informiert. Er wusste, dass das Psychiatrische Krankenhaus in Waldheim in erster Linie der Behandlung von Straftätern der benachbarten Justizvollzugsanstalt diente, und hatte sich über die geringen Sicherheitsvorkehrungen gewundert. Dies schien der Trakt zu sein, in dem die zur Gewalt neigenden Insassen untergebracht wurden und therapiert werden sollten. Er hatte seine Zweifel, was die Erfolgsaussichten dabei anging, aber das spielte ja nun keine Rolle. Es war jedenfalls interessant, dass Kaltenbrunn ganz offenbar nicht als Krimineller oder gewaltbereiter Patient in diese Klinik überstellt, sondern in der allgemeinen psychiatrischen Abteilung untergebracht worden war.
Erst jetzt nahm er den gelangweilten Gefängnisaufseher wahr, der sich von seinem Stuhl erhob, als er Keller sah.
»Wer sind Sie denn?«
»Haben Sie einen Pfleger vorbeikommen sehen? Vor ein paar Sekunden?«
Der Aufseher nickte bedächtig. »Und wer sind–«
Keller schlug gegen die Gitterstäbe. Der Mann konnte froh sein, dass er dahinter in Sicherheit war. »Ich bin Oberleutnant Keller von der Mordkommission, und wenn Sie mir jetzt nicht sofort sagen, wohin der Mann verschwunden ist, dann nehme ich Sie wegen Behinderung meiner Ermittlungen fest.«
Der sprachlose Wachposten deutete auf eine unauffällige, schmale Tür am Anfang des Flures, direkt neben Brandschutztür, durch die er eben hereingekommen war. Keller rannte zurück und hörte schon nicht mehr, was der Wärter ihm hinterherschickte. »Und ich dachte noch, dass das doch komisch ist, dass nachts einer von den Brüdern aufs Dach hinaus wollte. Völlig verrückt, sowas.«
Die dünne, weiße Holztür wirkte in diesem massiven Gebäudetrakt mit seinen Stahlgittern und dem bewachten Durchgang irgendwie deplatziert, fast wie eine Geheimtür. Keller dachte sofort an den Dachboden seines Elternhauses, wo der nicht ausgebaute Bereich im Giebel ebenfalls mit so einer leichten Furniertür verschlossen war. Gerade groß genug, um all die Dinge hinein- und hinauszuschaffen, die dort lagern sollten. Der Dachboden der Nervenklinik Waldheim allerdings machte mehr den Eindruck eines Museums oder eines Panoptikums. Der Raum unter dem nicht isolierten Dachstuhl war bis in die letzte Ecke mit schiefen Schränken, mottenzerfressenen Polstermöbeln, Büchern, Lampen verschiedenster Formen und Stilrichtungen und Kisten vollgestopft und außerdem eiskalt.
Keller wurde klar, dass es noch einen zweiten, deutlich größeren Zugang geben musste, denn den Koloss von Eichenschrank, der sich zu seiner Linken erhob, hätte man niemals durch die enge Türöffnung gebracht, die er eben benutzt hatte. Eine weitere Erkenntnis war, dass der Flüchtige sich im Gebäude auskennen musste. Wahrscheinlich hatte er den Dachboden als Fluchtweg schon ausgekundschaftet. Und er hatte in kürzester Zeit den Lichtschalter gefunden, denn es brannten einige schwache Glühbirnen in regelmäßigen Abständen. Vermutlich waren die während des Krieges über die gesamte Länge des Daches am Firstbalken angebracht worden, um einen größeren, fensterlosen Raum zur Verfügung zur haben, wenn Verdunkelung angeordnet war. Die Lichtverhältnisse im Dachboden waren mies, und in jeder Ecke lagen tiefe Schatten. Unmöglich, in diesem mit Sperrmüll vollgestellten Teil etwas zu erkennen, aber besser als kein Licht war es allemal. Dabei fiel ihm ein, dass er das garantiert weitläufige Kellergeschoss der Klinik noch nicht untersucht hatte.
»Hören Sie, ich weiß, dass Sie hier drin sind. Es hat keinen Sinn, sich zu verstecken. Kommen Sie heraus.« Er lauschte auf verräterisches Atmen, Schritte oder irgendein anderes Zeichen. Es blieb still. Keller bewegte sich langsam zwischen dem Gerümpel hindurch. Ihm fiel nun auf, dass die Möbel anfänglich so aufgestellt worden waren, dass beiderseits des schmalen Mittelganges abgeteilte 'Zimmer' entstanden – eines für jeden, der sein restliches Leben in dieser Anstalt verbrachte. Doch diese Ordnung war schon vor langer Zeit aufgegeben worden. In jeder Lücke stand irgendein Einrichtungsgegenstand, und so blieb nur der halbherzig freigelassene Mittelgang zum Vorwärtskommen. Das hatte auch Vorteile, war es so doch nicht möglich, sich ohne aufwendiges Schieben und Rücken von Möbelstücken zu verstecken. Keller hielt seine Waffe im Anschlag und arbeitete sich vorsichtig voran. Die Dielen unter seinen Füßen machten immer wieder Geräusche. Der andere wusste mit Sicherheit, wo er war. Er dachte an Schüttau mit seinem Geiz an Personal. Wenn der Major ihm wenigstens einen zweiten Mann an die Seite gegeben hätte, sähe das alles hier schon völlig anders aus... Er schlich um einen Jugendstilsekretär und spähte in die Ecken, als der Unbekannte endlich zuckte: Eine Diele quietschte grell.
»Kommen Sie endlich heraus! Ich habe eine Waffe und werde davon Gebrauch machen«, warnte er ordnungsgemäß.
Ein krachender Laut war die Antwort. Keller ging instinktiv in die Knie und brachte seine Makarow in Anschlag, aber es waren bloß Kisten und Kartons, die von einem der Schränke gestürzt waren. Da ist der Kerl also. Keller näherte sich geduckt der Position, wo er den Flüchtigen vermutete. Der Mann versteckte sich sicher auf der anderen Seite des Nussbaumregals, das neben dem Schrank zu sehen war. Keller verließ den Mittelgang und drückte sich zwischen einem Ohrensessel und einem anatomischen Skelett, dem ein Unterarm und der Unterkiefer fehlten, hindurch. Wenn er jetzt keinen Lärm machte, dann wäre er gleich an dem anderen dran, ohne dass der ihn bemerken konnte. Eine Messingstehlampe vereitelte seinen Plan. Er tauchte hinter dem Sessel auf und stieß mit dem Kopf von unten gegen den Schirm der Lampe. Es gab ein reißendes Geräusch, als der morsche Stoffschirm nachgab, dann polterte die ganze Leuchte zu Boden. Er und der Unbekannte bewegten sich gleichzeitig. Keller fluchte und kletterte über die Hindernisse zum Mittelgang zurück. Wieder war der andere schneller. Der kannte sich hier mit Sicherheit richtig gut aus. Und die Kisten, die zuvor scheinbar aus Versehen herabgestürzt waren, erwiesen sich nun als hervorragende Barrikaden. Er sah den Mann wieder nur von hinten, wie er unter den Funzeln am Firstbalken die schmale Gasse entlanghuschte.
»Bleiben Sie sofort stehen, oder ich muss von der Schusswaffe Gebrauch machen.« Er war entschlossen, diese Jagd endlich zu beenden. Der Eindringling reagierte nicht. Keller drückte den Abzug. Der Warnschuss schlug irgendwo in das Gebälk des Dachstuhls ein.
»Verdammter Mist, verdammter!«, brüllte er lauthals, als der Flüchtende das Ende des Dachbodens erreichte und ein quietschendes Tor öffnete. Wie konnte denn an diesem Ende der zweite Zugang sein, zum Kuckuck? Wohin sollte der denn führen? Der Oberleutnant kämpfte sich über die letzten Kisten hinweg und gelangte zu einer großen Doppeltür. Sie war mattschwarz lackiert. Kein Wunder, dass er sie bei der schlechten Beleuchtung nicht gesehen hatte.
Als er das Metalltor aufdrückte, wurde Keller klar, wo er sich befand. Vor ihm erstreckte sich die Ebene eines ausgedehnten Flachdaches. Er sicherte rasch die Mauer in seinem Rücken, doch der Unbekannte war sicher nicht darauf aus, ihn hier aus dem Hinterhalt zu überraschen. Viel wahrscheinlicher war, dass er unter allen Umständen unerkannt entkommen wollte.
Der Dachboden gehörte zum ursprünglichen Klinikgebäude aus Backstein. Irgendwann hatte man dann einen weiteren Flügel mit flachem Dach angebaut, auf dem er nun stand und Ausschau hielt. Gut dreißig Meter entfernt ragte ein Betonblock mit einer weiteren Doppeltür aus der Dachfläche: der direkte Zugang über ein Treppenhaus. Vielleicht sogar mit Lastenaufzug, um die Möbel zu transportieren. Aber der Flüchtige musste noch hier sein, denn genug Zeit, um hinüberzulaufen und die Torflügel zu öffnen, war ihm nicht geblieben. Vermutlich duckte er sich hinter einen der Kamine. Kellers Schritte knirschten auf dem losen Sand der erneuerungsbedürftigen Teerpappe. Er schwenkte nach rechts, um einen Blick hinter die Aufbauten zu werfen. Dabei vermied er es, über den Rand des Daches nach unten zu sehen, doch er schätzte, dass es mindestens zehn, zwölf Meter in die Tiefe gehen musste. Als Keller sich dem dritten Schornsteinblock näherte, machte der andere seinen Zug. Er stürzte aus seiner Deckung und lief geradewegs auf den Rand des Daches zu. Keller stürmte hinter dem Mann her, und sah, dass der keineswegs die Absicht hatte zu springen. Über den Rand des Daches ragte das metallene Geländer einer Nottreppe.
»Ich warne Sie ein letztes Mal, bleiben Sie sofort stehen.«
Er stand nur noch ein paar Meter hinter dem Mann, und dieses Mal zögerte der.
»Seien Sie vernünftig. Drehen Sie sich um.«
Mit dem letzten Schritt auf die Leiter zu, vollführte der Mann eine schnelle Drehung. Der Kerl versuchte, das Geländer zu greifen und sich dann einige Sprossen hinunterrutschen zu lassen, um in Deckung zu gelangen. Doch er griff daneben.
Eine Sekunde schien der Flüchtige in der Luft zu hängen, mit einem überraschten Ausdruck auf dem Gesicht. Ein Fuß auf der Leiter, der andere in der Leere, und kein fester Halt, der seinen Sturz hätte aufhalten können. Als der Polizist die Feuerleiter erreichte, war der Mann bereits auf dem welligen Kopfsteinpflaster des Klinikhofes aufgeschlagen. Fast lautlos.
Fünf Minuten später war der Vorplatz voller Angestellter des Krankenhauses. Noch einmal fünf Minuten vergingen, bis die örtliche Polizeidienststelle ihren Wachtmeister geschickt hatte. Nach einem Moment des Zögerns hatte Keller das Dach durch das Treppenhaus des Anbaus – in dem es tatsächlich einen Lastenaufzug gab – verlassen und nicht den schnellsten Weg, die Leiter, genommen. Nun stand er in einiger Entfernung zu den Schaulustigen im Hof. Er hatte dafür gesorgt, dass einer der Ärzte den Tod feststellte und danach alle einen sicheren Abstand zu dem Toten hielten. Aber das hier war kein Tatort eines Verbrechens, und die Frage des Unfallherganges konnte jederzeit geklärt werden.
Die Durchsuchung des Toten hatte ihm keinerlei Hinweise auf dessen Identität oder eine Beziehung zu der Klinik gegeben. Keller hielt es nicht für notwendig, den Hof zu räumen.
»Mein Name ist Auerswald. Sind Sie Oberleutnant Keller aus Leipzig?« Ein Uniformierter Anfang dreißig, mit Tassel im Schlepptau, näherte sich ihm.
Keller nickte. Er zog seine Dienstmarke und sah Erleichterung auf dem Gesicht des Obermeisters. »Na, dann ist das ja alles kein Problem mit Ihrer Aussage bezüglich des Unfallherganges. Wie ich meine...« Der Polizist geriet offensichtlich ins Trudeln.
»Genosse Obermeister, Sie sollten einen Leichenwagen für die Überstellung des Toten nach Döbeln in die Poliklinik anfordern. Außerdem dem dortigen VPKA Meldung machen, dass es hier im Verlauf einer Ermittlung der Leipziger K einen tödlichen Unfall gegeben hat. Ich werde mich bei den Kollegen in Döbeln bezüglich meines Berichts schnellstmöglich melden.«
Auerswald nickte gewichtig und eilte davon. Tassel blieb neben Keller stehen und schaute mit einem gequälten Gesichtsausdruck auf den Toten auf dem Pflaster.
»Es hat wohl keinen Sinn, dass ich Sie frage, wer das ist und was er in den Räumen des Ermordeten zu suchen hatte?« Wie der Polizist befürchtet hatte, zeigte der Pfleger keinerlei Reaktion. »Nun gut, Herr Tassel, ich brauche einen Fernsprecher.«
Es brauchte fast eine Viertelstunde, bis Keller die Privatnummer der Döbelner Rechtsmedizinerin in Erfahrung gebracht hatte.
»Moreaux.«
»Keller. Guten Abend, Frau Doktor. Entschuldigen Sie bitte die späte Störung, aber es ist sehr wichtig.«
»Oh, Genosse Keller...«, die Medizinerin klang verlegen. »Hören Sie, Herr Oberleutnant, ich weiß, ich hatte Ihnen einen vorläufigen Bericht für heute versprochen. Leider bin ich noch gar nicht dazu gekommen, meine Aufzeichnungen–«
»Sie brauchen sich wirklich nicht zu rechtfertigen, Doktor. Wenn Sie wüssten, wie viel Zeit sich unsere Pathologen manchmal nehmen. Ich habe eine große Bitte. Ich weiß, dass Sie das nicht hauptberuflich machen, nur weiß ich im Augenblick nicht, an wen ich mich wenden soll. Und es ist äußerst dringend.«
Moreaux schien geschmeichelt. »Es geht um die Obduktion von Heise, nehme ich an, Herr Kommissar? Treffen wir uns am Haupteingang der Klinik. Das ist Block C. Liegt, glaube ich, am Steinhausener Weg. Auf jeden Fall kommen Sie da raus, wenn Sie der Beschilderung zum Krankenhaus folgen.«
»Bin in zwanzig Minuten da, Doktor.« Welch ein Glück, dass es noch Leute gibt, die ihren Feierabend der Wahrheitsfindung opfern, dachte Keller überrascht.