Читать книгу Green Mamba - Barry Stiller - Страница 8
11:22 uhr
ОглавлениеOberst Sokolow rieb sich mit zwei Fingern die Nasenwurzel. Ihn plagten seit dem frühen Morgen Kopfschmerzen, und er wusste, dass der Tag noch zäh werden würde. Die stundenlange Fahrt von Schwerin hatte die Situation nur verschlimmert, auch wenn er den Wagen nicht selbst gesteuert hatte. Wenn es wenigstens eine moderne Autobahnverbindung bis Berlin gäbe. Stattdessen waren sie die meiste Zeit über die Fernstraße gegondelt.
Die Tür zum Besprechungszimmer öffnete sich, und Sokolow ließ die Hand sinken.
»Entschuldigen Sie, Genosse Oberst. Der Genosse Generalleutnant ist sofort bei Ihnen.«
Sokolow erwiderte nichts und richtete sich auf weiteres Warten ein. Das Treffen hätte schon vor einer Viertelstunde beginnen sollen, aber er kannte es, wartengelassen zu werden; schließlich machten alle Zweigstellen der GRU in der Deutschen Demokratischen Republik regelmäßig Meldung hier in der Wünsdorfer Zentrale.
Die Unternehmungen seiner Abteilung im Schweriner Raum hatten in der letzten Zeit wenig Handfestes zu Tage gebracht. Aktivitäten der Gegenseite hatte es auch nicht gegeben und so würde er nur wenig zu berichten haben. Er dachte an die relative Ruhe, die in den vergangenen Wochen geherrscht hatte, und fand sie fast ein wenig beunruhigend.
Sokolow wunderte sich, dass noch immer keiner seiner Amtskollegen eingetroffen war. Er selbst war um einiges zu früh angekommen, weil er Unpünktlichkeit verabscheute. Ihm war klar, dass die anderen Teilnehmer des Koordinierungstreffens von weniger weit anreisten und daher besser kalkulieren konnten, doch jetzt wären sie alle viel zu spät. Um sich die Wartezeit zu verkürzen, überlegte er, nach einem Kaffee zu fragen, verbot sich den Gedanken aber sogleich. Sein Blutdruck war sowieso zu hoch, und seinem Kopf würde er damit ebenfalls keinen Gefallen tun. Sokolow blickte auf seine Armbanduhr. Beinahe halb zwölf jetzt, eine halbe Stunde über die Zeit. Er schluckte den Fluch herunter, der ihm auf der Zunge lag.
»Oberst Sokolow, guten Morgen.« Sokolow erhob sich und nahm kurz Haltung an, während er Generalleutnant Morosow grüßte. Der Mann war klein, sicher einen Kopf kleiner als er, drahtig und durchaus respekteinflößend. »Bitte, nehmen Sie wieder Platz.«
Sokolow verharrte einen Augenblick verwirrt. Es war ein Treffen mit wenigstens zwei weiteren leitenden Offizieren anderer Standorte angesetzt. Diese Abweichung vom Plan musste einen Grund haben. Routine war das, was die Arbeit gerade hier in der Zentrale bestimmte. Wo so viele Fäden zusammenliefen, gab es wenig Raum für Abweichung und spontane Änderungen, da sonst rasch das Ganze in Mitleidenschaft gezogen wurde. Sokolow sank wortlos zurück in seinen Sessel, der ihm mit einem Mal nicht mehr bequem vorkam, sondern als würde er darin versinken.
»Uns hat vorhin eine Meldung aus Ihrem Bezirk erreicht, Genosse Oberst.«
Sokolow zwang sich zu äußerer Ruhe. Dieser Satz konnte alles Mögliche bedeuten. Er faltete die Hände und sah zu Morosow auf. »Worum geht es, Genosse Morosow?«
»Nun. Vielleicht warten wir gerade noch auf den Genossen Gussew, der das Gespräch entgegengenommen hat. Ah, da ist er schon.«
Sokolow wunderte sich nicht weiter darüber, dass der Generalleutnant seine Untergebenen im Hause offenbar an ihren Gehgewohnheiten erkannte, denn die Tür öffnete sich erst gut drei Sekunden nach dieser Bemerkung. Ein recht junger Mann trat ein und grüßte die beiden ranghöheren Geheimdienstoffiziere förmlich, ehe er sich auf ein Zeichen Morosows hin seitlich des Schreibtisches niederließ und ein kleines Notizbuch hervorzog.
Ob er es sich eingestand oder nicht, Sokolows Nerven waren angespannt. Ganz gleich, worum es bei dieser mysteriösen Meldung aus seiner Zuständigkeit ging, er war nicht im Bilde. Er saß in der Zentrale, ohne eigene operative Ergebnisse, und als sei das nicht unangenehm genug, ging offenbar genau in den wenigen Stunden, in denen er nicht auf seinem Posten war, eine Information ein, die relevant genug war, um sie ohne seine Zustimmung nach oben weiterzumelden. Er würde sich Iljin schnappen, sobald er wieder zu Hause war, und dann würde es einiges zu klären geben. Iljin war ihm bislang kompetent und loyal erschienen. Was, wenn er sich in seinem Stellvertreter getäuscht hatte? Vielleicht hatte der Mann aber auch vollkommen angemessen auf eine unvorhergesehene Situation reagiert und durch diese Direktmeldung Schaden abgewandt. Sokolow zwang seine Unruhe nieder und wandte sich mit bemüht ausdrucksloser Miene Gussew zu.
»Genosse Generalleutnant, soll ich dann...«, setzte Gussew an, den das Schweigen wie beabsichtigt irritierte.
»Dafür sind Sie doch hier«, bemerkte Morosow. Seine und Sokolows Blicke kreuzten sich in einem Moment des Verständnisses, dass man es mit einem Anfänger zu tun hatte. Telefondienst war auch keine Aufgabe, die höchste Ansprüche an die Erfahrung eines Mitarbeiters der Aufklärung stellte...
»Der Kommandant der Garnison Hagenow hat Meldung erstattet, dass zwei Zivilisten abgängig sind.«
Sokolow setzte sich aufrechter. Er war noch nicht lange Leiter des Schweriner Operationsgebiets der militärischen Aufklärung, aber der Standort Hagenow war ihm sehr wohl ein Begriff. Er versuchte, sich an die Details der Kaserne zu erinnern. Ein Bataillon der 2. Garde Panzerarmee und ein motorisiertes Schützenregiment der 21. Division waren dort stationiert, nebst ansehnlichem Arsenal. Das Gelände glich einer kleinen russischen Enklave und lag vom Ort Hagenow ein Stück entfernt. Er war ein einziges Mal dort gewesen, kurz nachdem er seinen aktuellen Posten im vergangenen Jahr übernommen hatte.
»Zwei Zivilisten?«
»Alexander, genannt Sascha, Janowitsch Petrow und Alexej Dmitriwitsch Orlow, beide zwölf Jahre alt, sind offenbar seit zwei Tagen verschwunden. Zunächst gingen die Eltern wohl davon aus, dass sich die Jungen auf dem Gelände der Kaserne versteckt hätten, aber gestern wurde Meldung an den Kommandanten gemacht und das Gelände durchsucht – ohne Erfolg. Heute früh wurden wir und ihre Dienststelle in Schwerin informiert.«
Morosow legte die Stirn in Falten und blickte erwartungsvoll in Sokolows Richtung.
»Wir wissen nichts weiter?« Sokolow war über den ruhigen Klang seiner Worte selbst verwundert. Auf eine Art war das Gehörte weniger dramatisch, als er zunächst befürchtet hatte. Es hatte keinen militärischen Zwischenfall gegeben, keine Grenzübertritte, keine Aktivitäten der westlichen Geheimdieste, die zu verhindern ihre Aufgabe war. Zugleich ahnte er, dass diese Sache unter Umständen noch hässlich werden konnte.
»Ein ausführlicherer Bericht liegt wohl Ihrem Büro vor«, antwortete Gussew.
»Wenn Sie mir eine Verbindung schalten, werde ich mich umgehend bei Major Iljin informieren und die erforderlichen Maßnahmen einleiten«, erklärte Sokolow, aber Morosow schüttelte nur den Kopf.
»Ich bin mit Major Orlow bekannt, Genosse Sokolow. Persönlich bekannt. Ein guter Mann. Ein guter Soldat und ausgezeichneter Offizier. Wenn Orlows Jüngstem hier etwas passiert ist, dann fasse ich das als persönliche Angelegenheit auf, fast als Familienangelegenheit. Verstehen Sie mich?«
Sokolow legte den Kopf ein wenig auf die Seite. Sein erster, in dieser Situation eigentlich vollkommen nutzloser Gedanke war, ob wohl der Generalleutnant und seine Vorgesetzten direkt darüber entschieden, wer in die Einheiten der GSSD aufgenommen und damit in der Deutschen Demokratischen Republik stationiert wurde. Dann fragte er sich, wie weit das Vertrautheitsverhältnis zwischen diesem Orlow und Morosow ging – jedenfalls konnte er sich darauf einrichten, dass die gesamte Untersuchung unter dem scharfen Blick der Zentrale durchgeführt würde. Fast eine Familienangelegenheit. »Ich denke, ich verstehe, Genosse Generalleutnant. Ich habe genau den richtigen Mann–«
Morosow schoss in seinem Sitz nach vorn und sein Frettchengesicht war nun deutlich näher, als er ihn unterbrach: »Sie, Sokolow. Sie sind genau der richtige Mann dafür.«
»Genosse Morosow...«
»Sie sind noch nicht sehr lange in Deutschland. Ihr aktueller Posten scheint Ihnen aber durchaus zuzusagen.« Morosow wartete einen Augenblick, um seinen Worten die beabsichtigte Bedrohlichkeit zu verleihen. »Um ehrlich zu sein, bin ich von Ihrer Arbeit bisher weniger beeindruckt, als ich dies von einem Mann Ihrer Reputation erwartet hatte. Dieser Fall bietet Ihnen jedoch Möglichkeiten.«
»Und welche Möglichkeiten wären das?« Sokolow biss sich auf die Zunge. Er hasste solch vorlauten Äußerungen bei seinen eigenen Untergebenen.
»Sie müssen bedenken, dass es sich um eine Entführung handeln könnte. Es könnten faschistische Kräfte hinter dem Verschwinden der Jungen stecken. Wenn sie sich tatsächlich nicht auf dem Garnisonsareal aufhalten, dann werden Sie nicht vermeiden können, die Deutsche Volkspolizei einzuschalten.«
Das Ganze wurde immer besser, dachte Sokolow. Aber wenigstens hatte der Generalleutnant damit tatsächlich einen sachlichen Grund, ihm den Fall persönlich zu übertragen. »Und Sie denken, dass ich aufgrund meiner Sprachkenntnisse am besten geeignet bin, diese... Liaison zu führen?«
»Sie haben es erfasst, Oberst Sokolow.«
Es war spät am Abend, als das Dienstfahrzeug der sowjetischen Hauptverwaltung Aufklärung mit Sokolow wieder auf den Parkplatz der Schweriner Kaserne zurückkehrte. Er meinte fast, das erleichterte Aufatmen seines Fahrers zu hören, als der den Wagen auf dem gekennzeichneten Stellplatz plaziert und den Motor abgestellt hatte.
»Wenn das alles war, Genosse Oberst...«, setzte der Mann an. »Oder soll ich Sie noch gleich das Stück–«
»Nein, das ist nicht notwendig.« Sokolow stieg aus. »Ich wünsche Ihnen einen guten Abend, Andrej.« Der Geheimdienstoffizier nahm seine Aktentasche aus dem Kofferraum und betrat das Gebäude durch den hinteren Eingang.
»Guten Abend.«
Er war nicht wirklich überrascht, Iljin an seinem üblichen Platz hinter dem Schreibtisch des Vorzimmers zu sehen. Sokolow nickte und nahm die warme Mütze ab. Im Vergleich zu den Temperaturen in Sankt Petersburg war Schwerin derzeit nicht winterlich, dennoch fror er hier häufiger als zu Hause. Entweder wurde er langsam weich oder es war diese Nässe in der Luft, die so unangenehm zwischen alle Lagen Kleidung kroch.
»Ich habe die bisherigen Informationen zum Vorgang Orlow/Petrow auf Ihrem Schreibtisch zurechtgelegt, Genosse Oberst. Es sieht–«
»Nicht jetzt, Iljin«, schnitt Sokolow ihm das Wort ab. »Ich werde mich heute Abend mit dem befassen, was Sie zusammengetragen haben. Und dann werden wir morgen früh darüber sprechen.«
»Aber–«
Sokolow warf die Tür hinter sich ins Schloss. Sein Arzt würde ihn für seinen Blutdruck rügen, doch es gelang ihm nicht, die Wut über den Verlauf des Tages zu unterdrücken. Iljin mit seiner beflissenen Art machte das Ganze nicht besser, denn Sokolow fragte sich noch immer, ob sein Assistent ihn mit Absicht bei seinem Vorgesetzten hatte ins Messer laufen lassen.
Nun gut, dachte Sokolow, nachdem er etwa eine Stunde später die Unterlagen auf seinem Tisch vollständig gesichtet hatte. Wenigstens war Iljin kein Vorwurf zu machen, denn anders als vermutet, hatte nicht er, sondern ihr Vertreter in der Garnison Hagenow direkte Meldung nach Wünsdorf gemacht. Kurz nachdem der dortige Kommandant auch die Deutsche Volkspolizei informiert hatte.
Aus den Aufzeichnungen des Kommandanten wurden Sokolow einige interessante Aspekte des Vorganges klar: Es war nicht der von Morosow geschätzte Major Orlow, sondern die Eltern des anderen Jungen, die den Kommandanten unter Druck gesetzt und die Einschaltung der Polizei gefordert hatten, nachdem die erste Suche erfolglos verlaufen war. Zwischen den Zeilen meinte er außerdem zu lesen, dass das Verschwinden möglicherweise nicht so gänzlich unerwartet und einmalig war, wie die Petrows glaubten. Der Kommandant schrieb von einer gewissen Tendenz zum Ungehorsam, die zumindest an dem jungen Orlow aufgefallen sei. Oberst Sokolow lehnte sich in seinem Stuhl zurück und blickte nachdenklich ins Leere.