Читать книгу Green Mamba - Barry Stiller - Страница 6
07:59 uhr
ОглавлениеRoland Gärtners Ausgeglichenheit hing in nicht unwesentlichem Ausmaß von einem durchstrukturierten Tagesablauf ab. Wenn man ihn für den ganzen Tag verärgern wollte, musste man einer Sache, die in seinem Verantwortungsbereich lag, nur ein wenig zu viel Dringlichkeit zuordnen. Was er am meisten hasste, war es, gehetzt zu werden.
Heute Morgen war einer von diesen Tagen. Nicht nur, dass er beinahe eine Stunde vor der Zeit aus dem Bett geholt worden war, nein, man hatte ihm auch nicht zugestanden, die beiden obligatorischen Tassen Kaffee zu trinken – mit Sahne und jeweils zwei Stücken Zucker. Nicht einmal zu einer Zigarette an der frischen Luft gab man ihm Gelegenheit. Sein Fahrer hatte keinen Zweifel daran gelassen, mit welcher Priorität seine baldigstmögliche Anwesenheit im kleinen Konferenzraum realisiert werden sollte. Gärtner vermied es, Kelkowitz nach den genauen Worten des Chefs zu fragen. Er konnte sich die Auftragsvergabe lebhaft vorstellen. Außerdem würde es sowieso nichts nützen. Sein Tag war gelaufen, daran ließ sich nichts mehr ändern.
Und so kam es, dass der dunkle Peugeot um genau sieben Uhr neunundfünfzig auf den Innenhof vor Haus sieben rollte. Mit Unbehagen bemerkte Gärtner, wie nachlässig die schwarze Riesenlimousine des Chefs neben dem Eingang von Haus eins geparkt war. Das verhieß nichts Gutes. Es kam ziemlich selten vor, dass der Chef so früh im Ministerium auftauchte. Gärtner bekam einen kurzen Schweißausbruch, als ihm in den Sinn kam, dass der Chef womöglich in seinen Diensträumen übernachtet hatte; dann musste es ganz übel stehen. So etwas war bisher nur ein einziges Mal vorgekommen, soweit er sich erinnern konnte.
Sobald Kelkowitz den Wagen zum Stillstand gebracht hatte, riss Gärtner die Tür auf, griff seine Aktentasche und den schweren Wollmantel und hastete ins Gebäude. Während er den Pförtner grüßte, bemerkte er aus den Augenwinkeln, dass der Pater Noster noch nicht wieder in Betrieb genommen worden war, und nahm die Treppe in den ersten Stock. Er rannte den Flur fast bis zum Ende hinunter, blieb vor der Tür zum Konferenzzimmer stehen, atmete einige Male tief durch, klopfte und betrat den Raum, ohne eine Aufforderung abzuwarten.
Das Wichtigste registrierte er sofort: Der Chef war noch nicht da. Dafür vier andere Personen, die er von der persönlichen Assistentin des Chefs, Frau Jessika Blume, abgesehen nur vom Sehen kannte. Alle waren sie aus den operativen Abteilungen des Ministeriums. Anscheinend war er der einzige Verwaltungsmensch hier, was seinem Wohlbefinden nicht gerade zuträglich war. Wortlos begab er sich an die gegenüberliegende Seite des Konferenztisches und wählte einen Stuhl, der möglichst viel Abstand zum Platz des Ministers versprach. Ein Blick auf seine französische Automatikuhr zeigte eine Minute nach acht. Es herrschte eine bedrückende Stille. Niemand sagte etwas, und jeder gab vor, mit seinen Unterlagen beschäftigt zu sein. Gärtner verwunderte das, denn er wusste noch nicht einmal, warum man ihn so eilig in die Normannenstraße gerufen hatte. Was sollte er da für Papiere überfliegen? So kramte er aus Verlegenheit in seiner schweinsledernen Aktentasche und holte seine großformatige Notizkladde (Gärtner hasste lose Blattsammlungen), einen sorgfältig gespitzten, weichen Bleistift und einen Radiergummi (man wusste nie, wann man etwas ändern musste) hervor.
Noch immer kein Chef und noch immer kein Gespräch. Er ließ den Blick durch den Konferenzraum schweifen. Nicht ganz sein Geschmack, diese allgegenwärtigen Holzverkleidungen; noch weniger der hauptsächlich in Beige, Crème und ganz wenig Blau gehaltene Orientteppich, auf dem der große Tisch – aus dunklem Holz – und die halbwegs modernen Stühle aus verchromtem Stahlrohr standen. Viel mehr gab es nicht zu sehen. Er starrte eine Weile vor sich hin, als ihm zum ersten Mal klar wurde, in was für einem schlechten Zustand der Raum eigentlich war. Kaum eine Möbelkante nicht abgestoßen, die Tapeten auf den wenigen holzfreien Wandflächen fast vergilbt und der Teppich schon leicht abgenutzt. Sogar der hellbraune Boden, und der war kein billiges PVC aus heimischer Herstellung, sondern echtes Linoleum, wirkte mitgenommen.
Der Chef war ein Paranoiker, das wusste man. Und das hier waren die sichtbaren Folgen. Jede Renovierung, neue Möbel, Reparaturen an den elektrischen Leitungen oder sonstige Veränderung bargen die Gefahr der Installation von Abhörgerätschaften. Diese Teile waren wirklich winzig geworden. Ohne Probleme konnte man heute ein ordentliches Mikrofon samt Sender in einem Telefonhörer unterbringen. Da mussten noch nicht einmal mehr die Kupferleitungen direkt angezapft werden. Für all die Vorsichtsmaßnahmen hatte Gärtner in gewisser Weise Verständnis, aber selbst Aufzüge unrepariert zu lassen, das war doch ein bisschen viel des Guten. Wer tauschte schon streng geheime Informationen in einem offenen Fahrstuhl aus? Jedenfalls glaubte er, dass dies der Grund für den seit einiger Zeit nicht betriebsbereiten Pater Noster sein musste.
Noch ein Blick auf die Uhr, sieben Minuten nach acht. Er beschloss, irgendetwas zu tun, um wach zu bleiben. Er schrieb Datum, Uhrzeit und die Namen der Anwesenden in sein Notizbuch. Als Nächstes machte er sich – völlig überflüssigerweise – einen Arbeitsplan für die kommende Woche. Dann klappte er den Deckel wieder zu und wartete. Mit jeder Minute zeigte der Koffeinmangel größere Wirkung, und er hatte Mühe, die Augen offen zu halten. Plötzlich hörte er laute Stimmen jenseits der Konferenzraumtür. Das Organ des Chefs, unverkennbar. Gärtner war wieder hellwach, der zuvor abgefallene Blutdruck sogar leicht erhöht.
Die schwere Tür wurde so heftig aufgestoßen, dass sie ungebremst gegen das dunkle Sideboard knallte und eine beeindruckende Kerbe erhielt, die niemals ausgebessert werden würde. Ein auffallend kleiner, dafür kompakter Mann ohne Hals und mit einem rundlichen Gesicht, das in diesem Moment entfernt an eine Bulldoge erinnerte, machte einen Schritt in das Konferenzzimmer und brüllte los, ohne jemanden anzusehen: »Was ist das für eine verdammte Schweinerei? Eine Sauerei! Wenn ich den erwische... der... die werden mich alle noch kennenlernen. Dem schlag' ich den Kopp runter!«
Keiner im Raum wagte zu fragen, worum es ging und wer woran schuld war. Gärtner vermied jeden Blickkontakt und begann, die Namen der Anwesenden zu unterstreichen. Als er wieder aufsah, war der Minister verschwunden. Offensichtlich ging die vorherige Konversation auf dem Flur weiter. Er konnte nichts Zusammenhängendes verstehen, schnappte aber »...machen Sie mir sofort eine Verbindung...«, »... interessiert mich einen verdammten Dreck...« und »...wie, nicht auffindbar?... Schaffen Sie diesen verdammten Stümper sofort her...« auf.
Ganz schlecht. Der Minister hatte offensichtlich ebenfalls nicht gefrühstückt. Oder noch schlimmer: Irgendein weltfremder Ignorant hatte das Frühstücksei des Chefs länger als viereinhalb Minuten im kochenden Wasser gelassen. Vielleicht hatte der Eierlöffel auch auf der Papierserviette gelegen, statt daneben. Oder die Serviette fehlte. Äußerst schlecht.
Schwere Schritte, ein Türknallen und der Minister stand an der Stirnseite des Konferenztisches. Bevor er sich auf das schwarze Leder des sehr westlich aussehenden Drehstuhls niederließ, richtete er das Wort an die Runde.
»So eine verdammte Schweinerei! An uns darf nichts vorbeigehen. Wir müssen jederzeit alles wissen. So ein verfluchter Käse darf einfach nicht passieren. Ich könnte mich maßlos aufregen über sowas!« Keiner der Sitzenden sagte ein Wort und jeder mied weiterhin den Blickkontakt. »Wenn das hier vorbei ist, dann wird es für einige Genossen ernsthafte Konsequenzen geben... Früher haben wir da kurzen Prozess gemacht, da gab es nichts. Jetzt ist die Lage anders, aber wenn es nach mir ginge...« Er brach ab und setzte sich. Nachdem er seine untere Gesichtshälfte mit der Linken einige Sekunden durchgewalkt und die Finger der rechten Hand das unregelmäßige Trommeln auf der Tischplatte beendet hatten, sprach er in ungewöhnlich ruhigem Ton weiter.
»Ich denke, es hat jeder mitbekommen, dass wir uns letzte Woche, genauer gesagt am siebten Februar, mit der BRD auf die Einrichtung gegenseitiger Vertretungen geeinigt haben. Genosse Nier sei Dank. Außerdem hat sich die Deutsche Demokratische Republik nach langen Verhandlungen entschlossen, mit dem NSA Verhandlungen über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu führen. Sogar das Mutterland des Imperialismus darf wahrscheinlich in wenigen Monaten seine dreckigen Hufe ganz offiziell in unsere Republik setzen.«
Gärtner konnte sich nicht vorstellen, dass die Etablierung einer ständigen Niederlassung der BRD in Ost-Berlin und die Anbahnung diplomatischer Beziehungen zum sonstigen nichtsozialistischen Ausland, speziell zu den Amerikanern, die Gründe für eine so hektisch einberufene Sitzung sein konnten, zumal das alles keine echten Neuigkeiten mehr waren – und endgültige Fakten waren auch noch keine geschaffen worden, auch wenn im Falle der Vereinbarungen über Ständige Vertretungen die Gespräche bereits weit fortgeschritten waren.
Der Minister für Staatssicherheit fuhr fort: »Wie dem auch sei. Meine persönliche Meinung interessiert nicht. Ihr und ich, darum geht es. Wir haben uns der Sache, der großen Sache des Sozialismus auf deutschem Boden zu fügen. Und wenn der Genosse Honecker und die Mitglieder des ZK der Meinung sind, dass es der Sache dient, dass die Imperialisten bei uns Botschaften bauen dürfen, dann ist es eben so. Außerdem haben der Genosse Generalsekretär und das Politbüro schon überall verkündet, dass es einen großen Fortschritt für die Deutsche Demokratische Republik und den Frieden zwischen den Völkern bedeutet. Wir können jetzt keinen Ärger, kein Gerede und keine neugierigen Schreiberlinge aus dem Westen gebrauchen. Seit letztem Jahr haben die es ja noch einfacher, in der DDR zu spionieren, weil wir sie offiziell akkreditieren. Mensch.« Während der letzten Sätze war der ruhige Ton von offener Empörung verdrängt worden. Bevor Mielke in Rage geriet, legte er erneut eine Redepause ein. »Es gibt nach meiner Meinung schon genug Spione und Verräter in unserem eigenen Haus. Wir müssen aufräumen. Wir sind mehr als Schild und Schwert der Partei. Es geht um das Wohl unserer sozialistischen Gesellschaft. Also macht gefälligst eure Arbeit für unsere Republik. Ich will hier jetzt keinen langen Käse mehr!« Noch immer fragende Gesichter bei den Anwesenden. Nur der Mann, der Gärtner als Generalmajor Rehmers bekannt war, verzog keine Miene. Offenbar wusste er, was ihn erwartete. »Genosse Rehmers, ich will genau wissen, was da los ist. Das ist dein Operationsgebiet und deine Verantwortung. An uns darf nichts vorbeigehen. Wir müssen alles wissen, das kann nicht sein, dass sowas vorkommt. Haben wir das vollkommen unter Kontrolle?«
»Ich habe schon länger eine Quelle vor Ort, Genosse Minister, zur Sicherheit, aber diese Vorkommnisse waren für meine Leute nicht vorhersehbar. Es war ruhig und lief nach Plan. Wir sind davon ausgegangen, dass das nicht passieren kann. Ganz sicher wird der gesamte Sachverhalt in wenigen Tagen aufgeklärt sein. Ich habe deshalb alle Aktivitäten und Vorkommnisse im Zusammenhang mit dem OV Sonne umgehend in meinem Ressort gebündelt, in den entsprechenden Akten finden Sie alle relevanten Informationen. Ich habe außerdem sofort eine weitere Quelle installiert, die ganz nah dran ist. Ab jetzt haben wir alles unter Kontrolle, Genosse Minister. Und wenn SIRA demnächst läuft, wird sowieso alles übersichtlicher.«
»Noch nützt uns SIRA nichts. Außerdem verspreche ich mir da gar nicht so viel von wie die HV-A.« Der Minister für Staatssicherheit musterte Rehmers einige Sekunden. »Ich verlasse mich da ganz auf dich, Genosse. Du warst immer ein zuverlässiger Kamerad. Nur, wenn das hier schief geht, dann ist es endgültig vorbei, das versichere ich dir. Dann bin selbst ich machtlos. Ich will alles wissen, was da vorgeht. Jede Stunde Bericht, bis diese Schweinerei aus der Welt geschafft ist und wir die Lage beruhigt haben.« Ohne eine weitere Äußerung verließ er den Raum. Die verbliebenen MfS-Mitarbeiter sahen einander ratlos an, aber keiner von ihnen wagte es, das Konferenzzimmer zu verlassen.
Gelegentlich war die Stimme des Ministers über den Flur zu hören, verstehen konnte Gärtner nichts. Offensichtlich telefonierte er von seinem Dienstzimmer aus. Nach über einer halben Stunde kehrte er in das Konferenzzimmer zurück und wandte sich an Rehmers: »Deine Aufgabe ist klar. Enttäusch mich nicht. Ich will stündlich Bericht. Jetzt geht es um die durchzuführenden Maßnahmen im Ausland.«
Ohne eine Reaktion des Generalmajors zu erwarten, wechselte Mielke das Thema. »Wir haben es mit einem Vorgang zu tun, der sich nicht nur auf unser Staatsgebiet beschränkt, sondern auch Auswirkungen auf unser Verhältnis zum nichtsozialistischen Ausland haben könnte. Ich habe mich deswegen der Unterstützung der Hauptverwaltung Aufklärung in allen Belangen und in unbegrenztem Umfang versichert. In diesem Zusammenhang ist es erforderlich, dass ich Mitarbeiter der HV-A unmittelbar mit Aufgaben betraue.«
Er wandte sich an den kleineren der beiden Männer, deren Namen Gärtner nicht einfielen. »Genosse Kretschmann, du hörst mit deinen Leuten auf jedes Niesen und Hüsteln aus dem Westen. Sammelt Stimmungsberichte, schaut Westfernsehen und kauft Zeitungen. Es müssen alle Kontakte aktiviert werden, da darf uns nichts entgehen. Wir müssen genau darüber informiert sein, was die beschäftigt, wie deren Kenntnisstand ist und wie sie reagieren werden. Ihr stellt jeden Tag einen ausführlichen Pressespiegel zusammen und dokumentiert die sonstigen Ereignisse. Jeden Morgen liegt das Ganze vor acht bei Frau Blume auf dem Schreibtisch. Es gibt Operationen und Quellen, die unter keinen Umständen gefährdet werden dürfen. Mehr müsst ihr nicht wissen, und mehr werdet ihr auch nicht erfahren. Tut einfach das, was verlangt wird.« Er ließ seinen Blick durch die kleine Runde wandern und sprach dann wieder Kretschmann an: »Der großspurige Hansen kann so wichtig werden, wie er immer sein möchte. Lass deinen Friedenskundschafter rotieren.«
Kretschmann hob die Hand wie ein Schüler, was beinahe lächerlich wirkte, bei der aktuellen Stimmung des Ministers aber die probate Methode für Wortmeldungen war. »Genosse Minister, ich möchte nur kurz zu bedenken geben, dass wir den Kundschafter Hansen als Vorsorgemaßnahme schon vor einiger Zeit abgeschaltet haben. Es scheint mir nicht klug, einen Mitarbeiter in strategisch so exzellenter Stellung jetzt wieder zu reaktivieren und damit seine Enttarnung zu riskieren.«
Mielkes Gesichtsfarbe verwandelte sich in wenigen Augenblicken von rosigem Grau in ein beinahe violettes Rot. »Was bilden Sie sich ein, Kretschmann? Ich kann mich weder erinnern, dass ich nach Ihrem Rat gefragt habe, noch dass untere Chargen der HV-A hier irgendein Mitspracherecht haben. Es passiert hier, was ich für richtig halte! Und wer nicht spurt, den schicke ich eigenhändig nach Bautzen. Und ich versichere euch, dass von da keiner zurück kommt, dafür sorge ich. Verdammt nochmal. Ist das verstanden, Genosse?« Er atmete schwer.
»Jawohl, Genosse Minister.« Die restlichen Anwesenden schlossen sich dieser Versicherung murmelnd an.
»Ich habe nicht umsonst mit der Abwehr telefoniert – und wir waren schnell einer Meinung. Der Hansen soll endlich einmal etwas Nützliches bringen. An der richtigen Stelle sitzt der Kerl ja, oder nicht? Und was heißt hier Abschaltung… In Norwegen hat er sich auch nicht an seine Weisung gehalten. Ganz im Gegenteil, ein riskantes Husarenstück zur Befriedigung seiner Eitelkeit hat er sich geleistet – unwichtiges Zeug hat er angeguckt und anschließend ist alles auch noch im Rhein versenkt worden.« Mielke schüttelte den Kopf. »Kretschmann, du bist sein Führungsoffizier, mach ihm Dampf. Der kann froh sein, dass er so viele Freunde bei der HV-A hat und Mischa Wolf persönlich seine Hand über ihn hält. Bisher konnte man ja von den West-Touristen Erhellenderes erfahren als von diesem drittklassigen ABV, verflucht nochmal.« Er schnaufte, immer noch aufgebracht. »Mensch, wenn ich in dieser Position säße...«
Nach einigen Sekunden der Beruhigung wandte sich der Minister für Staatssicherheit dem anderen Unbekannten zu. »Und du, Genosse Delwo, kümmerst dich um unseren großen Bruder. Mit Fingerspitzengefühl. Bei jedem Vorkommnis Meldung an mich persönlich. Auch da will ich wissen, was vorgeht. Ansonsten haltet ihr den Mund. Gegenüber jedem – egal ob Freund oder Feind. Ist das alles verstanden?«
Die beiden Angesprochenen erhoben sich und deuteten ein Salutieren an. »Jawohl, Genosse Minister«, gelobte Kretschmann erneut, während Delwo schwieg.
»So. Raus, Leute. An die Arbeit. Tut, wofür ihr da seid, sammelt Informationen. Jede Unterlassung, jeder Fehler hat Konsequenzen.« Ob er die besondere Wichtigkeit der Aufgabe meinte oder schlicht drohte, war für die Angesprochenen nicht erkennbar, und das war sicherlich auch gewollt. »Und Sie, Gärtner, bleiben noch hier.«
Nachdem die drei Männer den Raum verlassen hatten, wirkte Mielke schlagartig ruhiger, so als hätte sein beinahe cholerischer Vortrag zum größten Teil aus Schauspielkunst bestanden.
»Also, Genosse Gärtner, jetzt zu Ihrer Aufgabe...« Der Minister erhob sich und tat zwei Schritte zu der großen Schrankwand in seinem Rücken. Er öffnete die beiden Flügel auf der linken Seite, was einen mannshohen Aktenschrank aus Metall mit grauem Hammerschlaglack zum Vorschein brachte. Eigentlich sieht das Ding aus wie ein riesiger Tresor, dachte Gärtner. Als der Chef mit einem langen, kompliziert aussehenden Schlüssel hantierte, der an einer Kette befestigt war, die wiederum mit seinem Gürtel verbunden war, war Gärtner sich sicher. Damit nicht genug; der Chef löste seinen Binder, öffnete den obersten Hemdknopf und zog eine Halskette über den Kopf, an der ein kleinerer, nicht minder aufwendig aussehender Schlüssel hing. Mit diesem schloss er die kleine Stahltür auf, die sich ganz oben rechts im Inneren des Tresors befand. Soweit Gärtner es von seinem Platz aus erkennen konnte, wurden darin nur zwei Schnellhefter aufbewahrt. Der Minister nahm den dickeren heraus und schloss sorgfältig alle Türen. Nachdem er die Halskette umständlich wieder über den Kopf gezogen, Hemd und Krawatte gerichtet und die Schlüsselkette in der Hosentasche verstaut hatte, ließ er die grüne Akte vor Gärtner auf den Tisch fallen.
»Sie, Genosse Gärtner, Sie lernen das ganze Dossier hier auswendig und fassen das so zusammen, dass Sie es mir in wenigen Sätzen wiedergeben können. Ich habe das Ganze bisher nicht für so wichtig gehalten. Ich bin mir nicht einmal sicher, dass es in allen Teilen der Wahrheit entspricht. Aber das ist jetzt egal. Sie schreiben eine leicht verständliche Zusammenfassung, die ich an verschiedene Stellen verteilen muss. Fangen Sie sofort an und konzentrieren Sie sich auf das Wesentliche.«
»Jawohl, Genosse Minister.«
Als Gärtner aufstehen wollte, drückte der Minister ihn zurück auf den Stuhl. »Sofort. Hier. Diese Akte darf den Raum nicht verlassen. Reden Sie mit niemandem, außer meiner Sekretärin – und auch mit ihr niemals über den Inhalt der Akte. Ich hoffe, ich habe mich klar genug ausgedrückt. Sie bekommen alles, was Sie brauchen, von Frau Blume. Sie werden hier essen und schlafen, falls nötig. Es gibt neben meinem Dienstzimmer einige private Räume, die Ihnen zur Verfügung stehen. »
»Vielen Dank, Genosse Minister.«
Mielke winkte unwirsch ab. »Das ist keine Gratifikation, Gärtner, es dient lediglich dazu, Sie nicht von Ihrer Aufgabe abzuhalten. Beeilen Sie sich. Je schneller Sie fertig werden, umso besser.« Mit einer weiteren Handbewegung scheuchte er die hinzugekommene Sekretärin aus dem Raum. Bevor er das Konferenzzimmer verließ, sprach er noch einmal zu Gärtner: »Denken Sie daran, Ihre Aufgabe ist die geheimste. Ich weiß nicht einmal, wer über die Vorgänge in dieser Akte tatsächlich im Bilde ist. Es ist nicht unmöglich, dass diese Papiere sogar dem Genossen Honecker nicht gänzlich bekannt sind.« Dann steckte der Minister den Schlüssel von außen auf die Konferenztür. »Ich muss Ihnen nicht erklären, was das für Sie bedeutet«, mahnte er Gärtner, bevor er ihn einschloss.