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17:05 uhr

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Kellers Stimmung hatte sich kaum aufgehellt, als er nach einer guten Stunde Fahrt auf den rissigen Asphalt des Hinterhofes der Nervenklinik rollte. Der alte Backsteinbau war heruntergekommen. Nicht einmal die rußigen Spuren vergangener Zimmerbrände hatte man beseitigt. Mit seiner Laderampe, den metallenen Außenaufgängen und der garagenähnlichen Einfahrt wirkte das Gebäude eher wie eine aufgelassene Fabrik oder eine Lagerhalle. In so einer Einrichtung wäre er von ganz alleine verrückt geworden.

Nirgendwo brannte ein Licht, obwohl es bereits dämmerte. Er parkte den Wartburg direkt vor den eisernen Schiebetoren. Hier fuhr jedenfalls niemand raus, während er seine Befragung durchführte. Eigentlich gab es überhaupt keinen Grund für eine solche Maßnahme, aber schaden konnte sie auch nicht – und wenn er nur das unfreundliche Personal mit seiner Blockade ärgerte. Wie befürchtet gab es an der Rückseite des Klinikgebäudes keine Klingel. Nachdem weder das Dröhnen seiner Faustschläge noch das Rütteln an der Tür zur Laderampe eine Reaktion im Haus provozierten, machte Keller sich grummelnd auf den Weg zum Haupteingang auf der anderen Seite.

»Ja?«

»Oberleutnant Keller von der K, Mordkommission Leipzig. Ich war heute Nacht schon einmal hier.«

Keine Antwort, nur das Grundrauschen der Gegensprechanlage. Keller schlug mit der flachen Hand auf das Messinggitter des Lautsprechers. »Aufmachen!«

»Ja, Sie wünschen?«

Keller versuchte, ruhig zu bleiben. »Oberleutnant Keller von der Kriminalpolizei in Leipzig, ich ermittle im Tötungsdelikt Professor Wolfgang Heise.«

»Ja?«

»Ich muss noch einige Personen befragen. Für meinen Bericht. Öffnen Sie die Tür.«

Keine Reaktion aus der Gegensprechanlage. Es reichte jetzt.

»Wenn Sie nicht augenblicklich die Tür öffnen, werde ich von meiner Schusswaffe Gebrauch machen. Anschließend haben Sie eine Hundertschaft hier, die dieses Irrenhaus mit Mann und Maus auf den Kopf stellt. Und Sie nehme ich mir höchstpersönlich vor.«

Ein leises Klicken.

Keller marschierte geradewegs in die geflieste Eingangshalle, auf die Schwester zu, die mitten im Raum stand, als hätte sie vergessen, wo sie gerade hinwollte. »Wieso behindern Sie die Arbeit der Volkspolizei, Bürgerin Springfeld? Gibt es da etwas, was ich wissen sollte?«

Im Damenbart der korpulenten Stationsschwester sammelten sich Schweißtropfen. »Ich wusste nicht... Ich dachte, die Untersuchungen wären abgeschlossen. Der Fall ist doch klar, Herr Kommissar.«

»Oberleutnant«, korrigierte er scharf. »Kommissar gibt's schon lange nicht mehr; und wenn dann Oberkommissar, Genossin Springfeld.« Angewidert beobachtete er, wie ihr Schweiß auf den Kittel tropfte. »Ich muss noch einmal mit dem Patienten Doktor Kaltenbrunn sprechen. Und während Sie mich begleiten, können Sie mir auch gleich erklären, warum der Fall klar ist. Kommen Sie. Wo ist das Zimmer des Patienten, Genossin?«

Sie schüttelte heftig den Kopf und ruderte mit den Armen. Keller zuckte zusammen, als er Schweißtropfen fliegen sah. »Also, das geht momentan wirklich nicht, Genosse Oberleutnant! Der Patient ist ruhiggestellt. Es wird frühestens morgen möglich sein, ihn zu sehen.«

»Bringen Sie mich sofort zu Kaltenbrunns Zimmer. Ich kann auch selbst jeden Raum durchsuchen, wenn Ihnen das lieber ist.«

Springfeld gewann wieder an Fassung. »Das ist nicht möglich, Genosse Oberleutnant. Der Patient wurde verlegt. Sie können ihn jetzt nicht sprechen.«

»Verlegt?« Keller verlor die Geduld und ergriff den Oberarm der Krankenschwester, die dies mit einem lauten Quieken quittierte. »Sie erzählen mir jetzt, was es mit dieser Verlegung auf sich hat, oder ich vergesse meine Manieren. Also?«

Wenn er sie verunsichert hatte, dann ließ sie sich das nicht anmerken. Sie schüttelte seine Hand von ihrem Arm und machte einen kleinen Schritt zurück. »Soweit ich weiß, wurde Doktor Kaltenbrunn heute Nachmittag auf Anordnung von Frau Doktor Piechkow zur Beobachtung in das Krankenhaus der Strafvollzugseinrichtung verlegt. Sie können es ja dort versuchen.« Dann lächelte sie. »Allerdings heute nicht mehr.«

Die Stationsschwester schien genau zu wissen, dass er dort ohne richterlichen Beschluss weder Auskunft noch Einlass bekam. Vielleicht log sie aber auch schlicht. Für einen Moment erwog er, sämtliche Krankenzimmer zu überprüfen, entschied jedoch, dass es noch zu früh war, das ganz große Fass aufzumachen. Die Springfeld wirkte nach ihrer letzten Auskunft zu sicher, und Keller hielt sie nicht für nervenstark genug, um einen Bluff durchzuziehen. Jedenfalls nicht ohne Unterstützung von höherer Stelle.

»Und die Genossin Doktor Piechkow können Sie natürlich auch nicht erreichen.«

»Genau, kann ich nicht, Genosse Oberleutnant.«

Keller nickte nachdenklich, dann stapfte er davon.

Springfeld folgte ihm schnaubend. »Wo wollen Sie hin, was haben Sie vor, Genosse Oberleutnant?«

Der Polizist wandte sich um, fasste erneut den schwitzigen Oberarm der protestierenden Stationsschwester und zog sie hinter sich über den Krankenhausflur. »Da Sie sich so für die Arbeit der Polizei interessieren… besuchen wir Professor Heises Arbeitszimmer jetzt zusammen. Wollen wir mal schauen, ob der Herr Doktor nicht doch Aufzeichnungen über seinen Lieblingspatienten hat. Dann sehen wir weiter.« Sie versuchte, sich seinem Griff zu entwinden, aber diesmal ließ er es nicht zu. »Sie kommen schön mit und leisten mir Gesellschaft, sonst kommen Sie mir noch in die Versuchung, den Haushalt unserer Republik mit unnötigen Telefongebühren zu belasten.« Keller zerriss das Polizeisiegel und schob die schnaubende Schwester in das Behandlungszimmer des Klinikleiters.

»Das können Sie doch nicht...«

»Ich kann. Setzen Sie sich da hin und halten Sie den Mund.« Er wies auf den abgewetzten Ledersessel, auf dem vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden der tote Psychiater gesessen hatte. »Wenn Sie hier herumkrakeelen oder sonst wie Ärger machen, bekommen Sie Handschellen und Knebel. Sie wissen doch: Gefahr im Verzug und so. Sie sollten öfter mal Polizeiruf gucken.«

Keller machte sich auf die Suche nach Aufzeichnungen zu den Patienten, die Heise in seinen Räumen behandelt hatte, und wurde rasch in einem Metallkabinett fündig. Eigentlich erstaunlich, dass die Unterlagen nicht alle zentral verwaltet und aufbewahrt wurden, dachte er. Er durchsuchte die Hängeregister der umfangreichen Patientenkartei. Ob das hier Zweitausfertigungen aller Patientenunterlagen waren? Oder nur die Fälle, die Heise besonders beschäftigt hatten? Er wagte kaum zu glauben, dass es so einfach sein würde, aber unter dem Buchstaben K war tatsächlich ein Reiter mit Kaltenbrunn abgelegt. Offenbar hatte in dem Aufruhr um Heises Tod niemand daran gedacht, dass hier Zweitakten lagen, und seit die Polizei die Klinik verlassen hatte, war der Raum ja auch polizeilich versiegelt gewesen.

Keller warf einen raschen Blick auf die beleibte Oberschwester, die ihm demonstrativ den Rücken zugekehrt hatte, als wollte sie jeden Verdacht von Neugier weit von sich weisen. Dann nahm er die dünne Mappe aus dem Hängeregister.

Natürlich haben die aufgeräumt. Verdammt noch mal! Als er den Hefter aufklappte, fand Keller nur zwei Bögen Papier darin, und das erste davon, mit Kaltenbrunns vermeintlichen Daten, kannte er bereits. Das zweite nahm er an sich und las den ernüchternd knappen Inhalt: Eingeliefert wurde der Mann am neunten Oktober des vergangenen Jahres, weil er am frühen Morgen in verwirrtem Zustand an der Landstraße zwischen Coswig und Radebeul saß. Eine Streife der Volkspolizei hatte ihn aufgegriffen. Um Viertel nach sieben hatte man ihn in Waldheim aufgenommen. Laut Einlieferungsschein hatte Kaltenbrunn weder Papiere noch sonstige Dokumente bei sich gehabt, nur die Sachen, die er am Leibe trug. Die Kleidung wurde – angeblich um die Einschleppung von Keimen zu verhindern – auf Weisung von Professor Heise umgehend vernichtet. Die Identifizierung des Patienten wurde auf seine eigenen Angaben hin vorgenommen. Die anschließende Erstuntersuchung ergab die von Jörg Tassel erwähnte Diagnose und medikamentöse Einstellung. Eine Anamnese gab es ebenso wenig wie Therapievorschläge oder einen Behandlungsplan. Unterzeichnet war das Ganze von Prof. Dr. Wolfgang Heise.

Hier ist so ziemlich alles faul, was faul sein kann. Kellers Alarmglocken gingen auf Dauerbetrieb. Nicht nur, dass Kaltenbrunn allem Anschein nach eine Sonderbehandlung von Professor Heise bekam, es stellte auch niemand die Frage, wo er herkam und wer er wirklich war. Und seine Vorgeschichte oder eine Therapie spielten offenbar keine Rolle. Entweder war diese psychiatrische Einrichtung besonders schlampig, was Keller nicht glaubte, denn die anderen Akten, die er in Händen gehabt hatte, widersprachen dem – oder es gab im Falle des Patienten Kaltenbrunn manches zu verbergen.

»Schaffen Sie mir sofort diesen Tassel herbei.«

Die beleibte Stationsschwester setzte zu einer Bemerkung an, entschied sich aber angesichts der Miene des Oberleutnants anders.

Keller nutzte die Zeit bis zu Tassels Ankunft, indem er Heises gesamtes Büro nochmals einer raschen Durchsuchung unterzog. Wenn er auf keine schriftliche Dokumentation hoffen konnte, dann vielleicht wenigstens auf Zeugnisse der Behandlung, von der die Springfeld berichtet hatte? Erinnerungen, Notizen, Rezepte – irgendwas sollte sich doch finden lassen. Er dachte in erster Linie an die Injektionen, die Heise laut Aussagen persönlich verabreicht hatte, und hoffte, dass sich das Medikament noch in den Räumen des ermordeten Anstaltsleiters befand. Immerhin hatte scheinbar niemand damit gerechnet, dass die Polizei noch einmal in der Klinik auftauchen würde.

Im Medizinschrank des Nebenraumes, der so etwas wie das private Büro des Mediziners gewesen sein musste, wurde er tatsächlich fündig. Zwischen einigen leeren braunen und grünen Pipettengläschen und weiteren Injektionsfläschchen, endeckte er eines mit einer klaren Flüssigkeit und der Beschriftung Kaltenbrunn. Endlich ein handfester Hinweis in diesem Fall. Er steckte die Ampulle ein, verließ Heises Räume und erneuerte die Versiegelung.

Tassel war noch immer nicht da, und so bat Keller die Springfeld um einen Kaffee. Die Schwester wirkte jetzt, da der Polizist seine Aufmerksamkeit auf den Pfleger richtete, wesentlich entspannter. Vielleicht war es das Beste, sie fürs Erste in Ruhe zu lassen. Er hoffte, dass sie so kooperativer würde, denn er war sich sicher, dass er die Springfeld nicht das letzte Mal befragt hatte.

Fast eine halbe Stunde später fuhr Kaltenbrunns Pfleger auf einer MZ mit Beiwagen vor, und Keller trat auf den Hof hinaus. Er war nicht böse, den Anstaltsgeruch gegen die Februarkälte einzutauschen.

»Schönes Gespann«, eröffnete er das Gespräch, während Tassel vom Sattel stieg.

Wie erwartet taute der junge Mann auf. »Ja, keine zwei Jahre alt. Macht bei den Mädels eine Menge her, wirklich super.«

»Aber nicht billig. Für einen jungen Mann...«

»Meine Eltern haben mir geholfen, wissen Sie. Uns geht es nicht so schlecht... Wir können uns nicht beklagen. Also meine Eltern meine ich. Mein Vater ist Chefarzt in der Chirurgie in Dresden.«

Keller nahm die unerwarteten Informationen still auf und wechselte abrupt das Thema. »Ich muss noch einmal mit Ihnen über Doktor Kaltenbrunn sprechen.«

Tassels joviales Lächeln verschwand. Je tiefer der Polizist mit seinen Fragen grub, umso zerknirschter wirkte der Pfleger, für den diese Arbeit vermutlich nur eine Zwischenstation auf dem Weg in die medizinische Fakultät war. Keller nahm ihm ab, dass er von der plötzlichen Überstellung Kaltenbrunns aus der Psychiatrischen Klinik in die Krankenstation des Zuchthauses Waldheim keine Ahnung hatte. Ohne Zögern hatte Tassel ihn zur Unterkunft des Patienten geführt. Das Bett schien unbenutzt, doch leergeräumt war das Zimmer nicht. Als Keller den Krankenpfleger auf die Zeichnungen des Insassen ansprach, gab der sich betont ahnungslos.

»Da müssen Sie in den Unterlagen des Professors nachschauen. Er hat das alles immer sofort an sich genommen. Ich sagte Ihnen ja, dass der Professor ein Faible für Doktor Kaltenbrunns Kritzeleien hatte.« Ob Heise Kaltenbrunns Zeichnungen überhaupt aufbewahrt hatte, konnte oder wollte er Keller nicht sagen.

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