Читать книгу Green Mamba - Barry Stiller - Страница 17
09:55 uhr
ОглавлениеEs wurde erst richtig hell, als Keller Döbeln bereits hinter sich gelassen hatte. Die gute Frau Doktor Moreaux war inzwischen sicher in ihrem Bett angekommen. Vielleicht konnte er ihr später am Tag noch einen Besuch in der Klinik abstatten. Keller atmete tief durch, als ihm einfiel, dass er heute nicht zurück nach Leipzig fahren musste. Noch vor zehn Uhr stellte er sein Dienstfahrzeug vor der Klinik ab, und diesmal wurde er auf sein Klingeln hin sogar eingelassen. Geht doch. Er stieg die Treppe in den ersten Stock hinauf und wurde von einer nervösen Schwester in Empfang genommen, die er vom gestrigen Abend zu kennen glaubte. Richtig, die hat mit den anderen auf dem Hof gestanden. Keller ermahnte sich, später nicht den Besuch bei der Polizeidienststelle in Döbeln zu vergessen. Auch der abgestürzte Unbekannte war schließlich Teil dieses höchst merkwürdigen Falles.
»Wo ist denn Schwester Springfeld?«, fragte er die junge Frau, erleichtert weil die graue Eminenz der Abteilung ihn anscheinend vergessen hatte.
Die Schwester zuckte mit den Schultern. »Sie macht gerade ihre Morgenrunde, Genosse Oberleutnant. Aber sie lässt fragen, ob Sie nach Ihrem Gespräch mit Doktor Kaltenbrunn im Empfang auf sie warten könnten. Es wäre wichtig.«
»Worum geht es denn?« Keller fühlte sich angesichts des bevorstehenden Vieraugengesprächs unbehaglich.
Doch Schwester Melanie, wie er auf ihrem Kittel lesen konnte, wusste nichts Genaues, und Keller ärgerte sich jetzt schon wieder über Oberschwester Springfeld. Was führte sie wohl im Schilde? Welchen Anteil hatte sie an diesem Verwirrspiel?
»Hier, bitte«, riss die Schwester ihn aus seinen Gedanken. Sie waren vor dem gleichen Besucherraum angelangt, in dem er bereits vor zwei Nächten dem Mörder Kaltenbrunn gegenübergesessen hatte.
Keller betrat angespannt den unwohnlichen Raum. Kaltenbrunn saß auf dem gleichen Stuhl wie zuvor. Davon abgesehen hatte der Mann nicht viel mit dem zwanghaften, zittrigen Irren gemeinsam, den er Mittwoch, kurz nach Mitternacht verhört hatte. Der vermeintliche Doktor saß still zusammengesunken da und starrte auf seine zusammengelegten Hände. Vielleicht würde er endlich etwas Verwertbares in Erfahrung bringen können, dachte Keller. So, als würde er sich einem scheuen Tier nähern, trat er bedächtig in den Raum hinein und zog langsam sein Notizbuch aus der Jacke.
»Doktor Kaltenbrunn?«
Der Mann zeigte keine Reaktion auf seine Frage. Aber er schrak auch nicht zurück oder begann, wieder irr im Raum herumzustarren. Keller betrachtete das als gutes Zeichen und zog den zweiten Stuhl mit einem Quietschen unter dem Tisch hervor. Er legte das Büchlein aufgeschlagen vor sich hin und plazierte den Stift in die Mitte.
»Doktor Kaltenbrunn, erinnern Sie sich an mich? Wir haben uns vorletzte Nacht schon einmal unterhalten. Über Professor Heise.«
Kaltenbrunns Kinn war auf die Brust gesunken, das fettige, graue Haar hing weit in sein Gesicht und verwehrte einen Blick auf seine Augen. Hin und wieder zuckten die dürren Finger.
»Doktor Kaltenbrunn, sprechen Sie mit mir. Ich–« Mit einem Mal hatte der Oberleutnant das Gefühl, einen Knoten im Hals zu haben. Seine Gedanken überschlugen sich. Konnte Kaltenbrunn nicht sprechen, oder wollte er nicht? Keller war kurz davor gewesen, ihm zu sagen, dass er seinen Hilferuf gefunden hatte und bereit war, ihm zuzuhören. Aber vielleicht sprach der Doktor aus gutem Grund nicht. Was, wenn in den Räumen dieser Irrenanstalt mitgehört wurde? Das war alles andere als eine verrückte Idee, fühlte Keller. Er machte sich keine Illusionen darüber, dass die Wände hier Ohren haben konnten. Durfte er also die geheime Nachricht überhaupt erwähnen? Was würde geschehen, wenn jemand vom Klinikpersonal davon erfuhr?
Unschlüssig starrte er auf sein Notizbuch, dann musterte er die Wände des Besucherraumes genauestens. Ob hier irgendwo ein Abhörapparat installiert war oder nicht, konnte er unmöglich sagen. Aber er war sich ziemlich sicher, dass es keine Überwachungskamera geben konnte. Leise nahm er seinen Füller auf, schrieb Kaltenbrunns eigene Worte auf die leere rechte Seite und schob ihm das Büchlein zu. Der Mann reagierte noch immer nicht erkennbar.
»Doktor Kaltenbrunn, bitte. Erinnern Sie sich, was passiert ist? Wissen Sie, was mit Professor Heise geschehen ist?«
Ein unartikulierter Laut erklang. Der Mann wiegte sich schwerfällig hin und her, und Keller schrak schockiert zurück, als das Licht der Lampe auf Kaltenbrunns Gesicht traf. Die vormals flirrenden Augen waren stumpf wie erloschene Kerzen und blutunterlaufen. Aus dem einen Mundwinkel floss Speichel am Kinn herunter und tropfte auf den schmutzigen Anstaltskittel.
»Doktor Kaltenbrunn«, flüsterte Keller eindringlich. »Können Sie mich verstehen? Nicken Sie, oder geben Sie irgendein Zeichen.«
Der Mann hob langsam seine linke Hand und ließ sie auf die Nachricht in Kellers Notizbuch sinken. Damit schien seine Kraft aufgezehrt, nichts weiter geschah.
»Können Sie mir sagen, ob Kaltenbrunn Ihr richtiger Name ist? Wo wurden Sie geboren? Wo haben Sie studiert? Wo haben Sie Ihren Doktor gemacht?«
Kellers fühlte eine Gänsehaut auf seinem Rücken. Er hatte schon genug Unschönes in seinem Beruf erlebt, auch die eine oder andere fürchterlich zugerichtete Leiche, aber dieses Irrenhaus bot Grauen in einer anderen Qualität. Was hatten diese sogenannten Ärzte mit Kaltenbrunn angestellt? Zwei Nächte zuvor hatte der Mann immerhin noch sprechen können, wirr und schwer verständlich vielleicht, doch wenigstens hatte er Keller wahrgenommen... Jetzt sah er nichts als inneren Kampf in den Augen des Mannes.
Kalte Wut erfasste Keller, denn er war sich völlig sicher, dass er hier nicht Kaltenbrunns Kampf gegen den Wahn sah, sondern den gegen die Medikamente. Moreaux hatte ihm ja bereits bestätigt, dass diese Präparate alles andere als eine heilsame Wirkung besaßen.
»Sie erinnern sich, nicht wahr?«, fragte er noch einmal und deutete auf das Notizbuch, das nach wie vor unter Kaltenbrunns Hand lag. War das ein Nicken? Keller war sich nicht sicher. Mit einmal Mal zuckten die Finger wieder, kratzten beharrlich über die unebene Tischplatte und das Papier, als versuchten sie, etwas zu erreichen.
Den Stift! Keller biss sich auf die Zunge, um nichts Verräterisches zu äußern, und reichte Kaltenbrunn das Schreibgerät. Ihm entging nicht, dass er damit einem Mörder erneut zu dessen Tatwaffe verhalf. Denk bloß daran, ihm den Füller wieder abzunehmen. Aber der Mann war nicht in der Verfassung, jemanden zu attackieren. Und warum sollte er auch? Mit Mühe schloss er die Finger seiner linken Hand. Womit eine weitere Frage beantwortet wäre, dachte Keller.
Minutenlang sah er dem vermeintlich Geisteskranken dabei zu, wie er die Konzentration sammelte, um seinen Fingern den Befehl zu geben, etwas niederzuschreiben. Gleich, was Kaltenbrunn dabei genau im Weg stand, er schaffte dieses Mal nicht, es zu überwinden. Ein schwaches, zittriges A war das Einzige, was er zu Papier brachte, bevor seine dünne Verbindung zur Realität endgültig riss. Sein Kopf sank nach vorn, die Hände fielen seitlich herunter, und der Füller rollte unter den Tisch. Keller sammelte ihn auf, schraubte die Kappe fest und verließ den Raum.
Immerhin war damit die Frage beantwortet, weshalb die Piechkow so schnell nachgegeben hatte. Kaltenbrunn war ein Wrack, vollgepumpt mit Drogen. Heises Nachfolgerin würde sich noch wundern, wenn sie glaubte, ihn mit solchen Mitteln abschütteln zu können.