Читать книгу Green Mamba - Barry Stiller - Страница 12
20:37 uhr
ОглавлениеDie Leichenhalle lag ein ganzes Stück vom Haupteingang der Poliklinik entfernt. Während Moreaux ihn durch die verwinkelten Gänge des Untergeschosses führte, kam Keller auf den Grund für seine Eile zu sprechen. Es fiel ihm schwer, den richtigen Anfang zu finden, aber er wusste, dass er der engagierten Ärztin eine Erklärung und etwas Ehrlichkeit schuldete.
»Sie können mir glauben, Doktor. Wenn es nicht einen guten Grund gäbe, hätte ich Sie nicht so spät rausgeklingelt«, setzte er an.
»Davon bin ich überzeugt. Vielleicht bin ich neugierig geworden. Jetzt erzählen Sie schon, Kommissar.«
»Tja, wo anfangen...« Keller nahm seine Schiebermütze ab und fuhr sich über die müden Augen. »Also. Das ist alles komplizierter und verzwickter, als es sich auf den ersten Blick dargestellt hat. Anfangs sah es so aus, als ob ein Irrer in einem Anfall seinen Arzt umgebracht hätte. Ganz so einfach scheint es nicht zu sein.«
Moreaux blickte den Polizisten fragend an. »Sie vermuten, es war ganz anders?«
»Ich will's kurz machen, Doktor. Ich glaube, an diesem Fall stinkt einiges gewaltig, eigentlich alles.«
»Sie haben meine vollkommene Aufmerksamkeit.«
»Ich muss eines vorwegschicken.« Keller zögerte. Wie sollte er der unfreiwillig zum Gerichtsmediziner ernannten Ärztin klar machen, dass er sie zum Mitwisser in einer nicht ganz regulären Mordermittlung machen wollte – gewissermaßen zu einer Mitverschwörerin? »Sie sind die Einzige, der ich zurzeit vertraue«, gab er unumwunden zu, »und ich will Ihnen auch sagen, warum. Sie haben keine Interessen in dieser Angelegenheit – höchstens, dass es keine weiteren Toten gibt, mit denen Sie sich beschäftigen müssen. Und da stehen wir auf derselben Seite.«
Die Ärztin verlangsamte ihren Schritt und blickte nachdenklich zu Boden. Offenbar wurde ihr allmählich klar, in welche Richtung sich das entwickelte.
»Bitte, Doktor. Ich muss mich darauf verlassen, dass Sie im Augenblick niemandem gegenüber erwähnen, was ich Ihnen nun anvertrauen werde. Auch Einzelheiten bezüglich Ihrer Leichenbeschau sollten Sie bitte für sich behalten.«
»Sie wissen, was Sie da von mir verlangen, Oberleutnant?« Moreaux schien sich plötzlich nicht mehr besonders wohl in der Rolle der Amateurdetektivin zu fühlen.
»Sie sollen ja nicht lügen, Doktor, nur eben nicht alles vorschnell und zu ausführlich in Ihrem Bericht niederschreiben. Genau genommen haben meine Überlegungen auch gar nichts mit dem offiziellen Obduktionsbericht zu tun.«
Moreauxs Gesichtsausdruck war schwer zu deuten. Sie war nun stehengeblieben und sah Keller geradeheraus an. »Würden Sie zur Sache kommen, Oberleutnant?«
Keller seufzte. »Es scheint, als hätte jemand größtes Interesse daran, dass in der Tötungssache Heise keine Fragen gestellt werden. Keiner weiß, wer Kaltenbrunn eigentlich ist, jedenfalls geben das alle vor. Ein Mann dieses Namens hat anscheinend in der Deutschen Demokratischen Republik niemals ein wissenschaftliches Studium absolviert oder promoviert – und niemand scheint das komisch zu finden. Außer mir. Zweitens: Wieso hat sich der in Fachkreisen so bekannte Professor Doktor Wolfgang Heise ausgerechnet um diesen Allerwelts-Gedächtnisgestörten so innig gekümmert? Dieser Doktor Kaltenbrunn ist noch nicht einmal im Gebäudetrakt für gefährliche oder gewalttätige Patienten untergebracht. Offensichtlich hat man es nicht für möglich gehalten, dass es zu so einer Tat kommen könnte. Das wirft nebenbei die Frage auf, wie gut es um die diagnostische Kompetenz dieses Irrenhauses bestellt ist.« Der Oberleutnant konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Und drittens: Wieso möchte eigentlich jeder, dass ich aufhöre, diese Fragen zu stellen? Sogar mein Chef hat mir nahegelegt, bald einen Deckel auf die Sache zu machen.« Keller überlegte kurz. Er konnte auch den jüngsten, tödlichen Zwischenfall in der Klinik nicht unerwähnt lassen, denn er hatte Anweisung gegeben, den Dachstürzer ebenfalls zu Doktor Moreaux bringen zu lassen – trotzdem fiel es ihm nun schwer, davon zu erzählen. Schließlich fasste er die Ereignisse knapp in drei Sätzen zusammen und endete mit: »Und spätestens jetzt können wir wohl ausschließen, dass ich einfach nur paranoid bin. Irgendjemand versucht hier, die Aufklärung zu verhindern.«
Moreaux ging schweigend neben ihm weiter, dann blieb sie stehen und betrachtete Keller mit schmalen Augen. »Nun gut, Herr Kommissar. Sie haben Ihren Watson.«
Keller war erleichtert, sogar mehr, als er selbst erwartet hatte. »Gut, dann weiter zum toten Professor.«
»Da sind wir bereits.« Moreaux zog an einem armlangen Hebel und schob die große Stahltür zur Seite.
Keller hatte einen Raum mit großen Schubfächern erwartet, ähnlich wie auf dem Bahnhof, nur dass Schlüssel und Geldeinwurfschlitz fehlten. So, wie er das aus Leipzig und auch aus Berlin kannte. Was nun vor ihm lag, ließ ihn nicht nur wegen der niedrigen Raumtemperatur frösteln. In dem weißgekachelten Raum befand sich nichts außer einer Armee rollbarer Liegen, von denen etwa ein Drittel belegt war.
Moreaux steuerte zielsicher auf eine der Bahren zu und zog sie aus ihrer Parkposition. »Das ist der Professor. Dann lassen Sie uns ihn mal hinüber in den Sektionssaal fahren. Da ist es etwas wärmer.«
Kellers Magen verkrampfte sich. Er konnte Doktor Moreaux gut verstehen. Auch er arbeitete lieber mit Lebenden. An den Anblick von Unfall- und Mordopfern hatte er sich zwar in zwanzig Dienstjahren einigermaßen gewöhnt, aber Obduktionen waren etwas ganz anderes. Noch immer konnte er sich nicht vorstellen, wie man es schaffte, einem Menschen den Schädel aufzusägen, um das Gehirn zu entnehmen, oder den Brustkorb wie bei einem Truthahn zu spreizen, um an die Lunge zu kommen – auch nicht bei einem Toten.
Die Ärztin schien seine Gedanken zu erahnen. »Ich denke, bei der inneren Besichtigung brauchen Sie nicht zugegen zu sein, zumal keine spektakulären Befunde zu erwarten sind, auch wenn die Mordwaffe in den Kopf eingedrungen ist.« Sie grinste schief. »Sie haben sicherlich mehr Interesse an der äußeren Beschau.«
»Da haben Sie vollkommen recht, Doktor.« Keller nahm mit eiskalten Fingern die dünnen Operationshandschuhe, die Moreaux ihm entgegenhielt. »Eigentlich interessiere ich mich in erster Linie für die Mordwaffe und dafür, ob es bei dem Toten Verletzungen, Kampfspuren, Abwehrspuren oder etwas anderes gibt, das auf Handgreiflichkeiten hindeutet.«
Moreaux sah den Volkspolizisten fragend an, während sie die Rollliege neben dem Sektionstisch parkte und die Feststeller von zwei Rollen mit den Fußspitzen herunterdrückte.
»Na, es gab zwar eine lautstarke Auseinandersetzung – jedenfalls berichten das die Zeugen.« Keller stutzte. »Nein, genau genommen gibt es nur die Aussage einer einzigen, wenig kooperativen Zeugin.«
»Der beeindruckenden Nachtschwester?« Moreaux blies ihre Wangen auf, um keine Unklarheiten aufkommen zu lassen.
Keller wunderte sich, wie jemand in dieser Umgebung scherzen konnte, und versuchte, möglichst sachlich zu wirken. »Ja, richtig, Doktor. Auf alle Fälle hätte ich dann einen besseren Eindruck, ob es eine Tat im Affekt war, infolge eines Handgemenges. Oder ob Kaltenbrunn den Professor nicht doch ohne jede Vorwarnung getötet hat.«
»Ich weiß, was Sie vermuten, und so, wie wir den Toten vorgefunden haben, teile ich Ihre Ansicht. Wenn es einen Streit gab, dann könnte es eine Kurzschlussreaktion von Kaltenbrunn gewesen sein. Wenn nicht, dann sieht es nach geplanter Tötung aus.«
Keller hörte die letzten Worte der Ärztin nur halb, denn ihm fiel in genau diesem Moment siedendheiß etwas ein. »Mist, ich glaube, Kaltenbrunn ist noch gar nicht richtig untersucht worden. So ein verfluchter Mist!«
»Was meinen Sie, Kommissar?«
»Doktor, am Anfang sah alles nach der Affekttat eines geistig verwirrten Patienten aus. Kein großer Aufriss, Sachverhalt klar, Motiv angesichts des Geisteszustandes des Täters nicht nachvollziehbar, um nicht zu sagen unwichtig. Aber jetzt, wo wir angesichts der Ereignisse an dieser einfachen Erklärung große Zweifel haben müssen, wäre es äußerst aufschlussreich gewesen, wenn Kaltenbrunn von einem unabhängigen Mediziner sofort einer ausführlichen kriminaltechnischen Untersuchung unterzogen worden wäre.«
Moreaux schien unbeeindruckt. »Was hätte das bringen sollen? Dass dieser Doktor Kaltenbrunn keine Kampfspuren trug, habe ich schon überprüft... Und ansprechbar war er ja auch nicht...«
»Das war kein Vorwurf an Sie, Doktor. Ich ärgere mich über mich selbst. Denn es ist verdammt nochmal wichtig, ob Kaltenbrunn unter Drogen stand, als er die Tat beging. Oder, ob man ihn nach der Tat sediert hat. Mein Gott, wir wissen nicht einmal, ob er etwas im Blut hatte, als ich versucht habe, ihn zu vernehmen. Verflucht nochmal!«
»Ich denke, Sie können ganz sicher davon ausgehen, dass der Patient irgendetwas im Blut hatte, Herr Kommissar«, beschied Moreaux ihm lakonisch. Ohne weiter auf Kellers Befürchtungen einzugehen, nahm sie dann das weiße Leinentuch von der Leiche. »Wenn Sie mir bitte helfen würden, den Professor auf den Tisch zu heben.«
Nachdem alle Werkzeuge, die sie für die Leichenbeschau benötigen würde, bereit lagen, schloss Moreaux die unterste Schublade eines Schreibtisches auf und brachte eine braune Umhängetasche aus Leder zum Vorschein.
»Holla«, entfuhr es Keller. »Sie sind ja beinahe ausgestattet wie die Staatssicherheit.«
»Meine Sonett. Brandneu«, bestätigte Moreaux mit offenkundigem Stolz. »Arbeitet mit Kassetten. Nicht einfach zu bekommen. War nicht billig, ist aber unglaublich praktisch.« Sie steckte das Mikrofonkabel, das von einem am Seziertisch aufgestellten Fotostativ herabhing, in den Rekorder. »Leider muss man hier alles wegschließen.«
»Unsere Aufzeichnungsgeräte sind noch aus den fünfziger Jahren. Transportierbar sind die nicht, obwohl man das schon öfters hätte gebrauchen können.« Keller musste sich eingestehen, dass er die Ablenkung durch die technische Spielerei genoss.
»Hatte vorher ein Bändi von Pouva. Das war auch recht handlich, aber das bleibt jetzt zu Hause. War dann doch etwas empfindlich mit diesen Tonbandspulen und der Einfädelei. Dieses neue System mit Kassetten ist die Zukunft, das prophezeie ich Ihnen, Keller.«
Der Polizist nickte nachdenklich.
»Außerdem wird das mittlerweile eigentlich überall verwendet, auch im Westen. Na ja, kommt ja auch von da. In Zukunft könnte man einfach Kassetten mit den Protokollen zwischen den Dienststellen hin und her schicken.«
»Wenn das denn einer will...«, murmelte Keller.
»Wie bitte?«
»Ich meinte nur, dass es schon schwierig genug ist, eine simple Patientenakte von bestimmten Stellen zu bekommen. Wer weiß, wie kompliziert die Vorschriften werden, wenn Tonbänder beziehungsweise diese Kassetten verschickt werden sollen.«
»Ah, ich verstehe. Dann lassen Sie uns mal beginnen.« Moreaux richtete das Mikrofon aus und startete die Aufnahme.
»Durchführender: Doktor der Medizin Karla Moreaux, Ärztin an der Poliklinik in Döbeln und bestellter Rechtsmediziner des Bezirkes Döbeln. Poliklinik Döbeln, den dreizehnten Februar 1974. Im Auftrag des Polizeipräsidenten Leipzig habe ich heute einundzwanzig Uhr die gerichtsärztliche Leichenschau vorgenommen. Als Hilfsbeamter der Staatsanwaltschaft ist anwesend Herr Oberleutnant der K Josef Keller von der BdVP Leipzig, im Auftrag der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Leipzig. Befund und vorläufiges Gutachten. A. Äußere Besichtigung.« Moreaux stoppte die Aufnahme. »Alles korrekt, Genosse Oberleutnant?«
Der nickte. »Fahren Sie fort, Frau Doktor.«
»Leiche eines, bitte einsetzen, Zentimeter langen und, bitte einsetzen, Kilogramm schweren Mannes in gutem Ernährungszustand beziehungsweise von sehr kräftigem Körperbau.« Dann diktierte Moreaux Angaben zu Totenflecken und Leichenstarre. Schließlich untersuchte sie den Kopf des Toten. »Das Haupthaar ist lediglich in Form bis maximal einen Millimeter langer schwarzer Haarstoppeln angelegt und zeigt, soweit beurteilbar, an der Stirn starke geheimratseckenartige Lichtungen. Im Bereich der rechten Stirnregion, in der unbehaarten Kopfhaut gelegen, besteht eine drei Zentimeter breite und bis zwei Zentimeter hohe Zone, innerhalb derer die Haut dunkelbraunschwärzlich verfärbt ist.«
»Schmuck...«, murmelte Keller, als Moreaux das auffällige Muttermal auf Heises Kopf beschrieb.
Moreaux quittierte den Kommentar mit einem grimmigen Blick. Die gute Frau Doktor schätzt unqualifizierte Beiträge von anderen nicht, ging es Keller durch den Kopf, als er an die Grimasse dachte, die die Moreaux zur Identifizierung der Springfeld gezeigt hatte.
»Das knöcherne Nasenskelett ist intakt. Im Bereich beider Nasenöffnungen findet sich etwas weißlich-zäher, fadenziehender Schleim. Der rechte Gehörgang ist frei. In den linken Gehörgang ist ein Kugelschreiber zirka–« Sie unterbrach die Aufzeichnung erneut. »Wir sind uns einig, dass an der Todesursache kein Zweifel besteht und der Kugelschreiber die Tatwaffe ist?«
»Natürlich nicht. Hauptsache, ich habe schnell etwas Schriftliches in der Hand, Doktor, damit ich weiter ermitteln kann. Wir wollen doch eigentlich nur wissen, ob es Kampfspuren gibt oder irgendwelche Verletzungen, die von Abwehrversuchen herrühren.« Schonender konnte er der Medizinerin nicht beibringen, für wie überflüssig er in dieser Situation einen minutiösen Obduktionsbericht hielt.
Moreaux winkte ab, zog den Stift mit einigem Krafteinsatz heraus und legte ein Lineal an. Sie setzte die Aufnahme fort: »Zirka zehn Zentimeter in den Schädel eingedrungen. Schätzungsweise fünf bis sechs Zentimeter in Gehirngewebe.«
Ungeduldig wartete Keller die Beschreibung der Äußerlichkeiten und des Zustandes von Heises Leichnam ab.
»Teil B., innere Besichtigung, folgt.« Dann diktierte die forensische Medizinerin eine erste Zusammenfassung der äußeren Befunde. »C. Vorläufiges Gutachten aufgrund äußerer Besichtigung. Erstens. Eine anatomisch eindeutig nachweisbare Todesursache konnte bei der Obduktion der Leiche des Herrn Heise, Wolfgang festgestellt werden. Die im Bereich des Kopfes, linksseitige Ohrregion, feststellbare Verletzung ist als Todesursache zu werten. Hinweise für einen Tod aus natürlicher Ursache haben sich erwartungsgemäß mit bloßem Auge nicht ergeben. Zweitens. Ich bitte gegebenenfalls um Auftrag zu weiteren Untersuchungen. Drittens. Ein abschließendes Gutachten bleibt vorbehalten. Viertens. Gegen die Freigabe der Leiche bestehen ärztlicherseits keine Bedenken. Gezeichnet Doktor Moreaux.«
Keller nahm mit spitzen Fingern den blutigen Stift aus der Metallschale. »Ein normaler Kuli aus inländischer Produktion, wie ich mir gedacht habe. Die werden wohl überall verwendet.«
»Genau.« Moreaux zog eine braune Pappschachtel mit identischen Kugelschreibern aus dem Schreibtisch.
In Gedanken betrachtete Keller die Mordwaffe in seinen Händen. »Irgendwie bin ich da blockiert.«
»Wieso? Das hatten Sie doch erwartet? Es gibt keinerlei Anzeichen für einen Kampf. Kaltenbrunn hat das Opfer wahrscheinlich von hinten angegriffen.« Die Medizinerin streifte ihre Einweghandschuhe ab und warf sie in den Mülleimer. »Wissen wir übrigens mittlerweile, ob Kaltenbrunn Linkshänder ist? Ist zwar eigentlich überflüssig, aber der Vollständigkeit halber.«
»Leider nein, ich konnte den Verdächtigen bisher nicht wieder befragen.« Keller steckte den Kugelschreiber in eine kleine Plastiktüte. »Wichtig ist das schon. In jedem anderen Fall würde ich Ihnen zustimmen. Schließlich gibt es ein Geständnis von Kaltenbrunn.«
»Ich kann Ihnen leider nicht folgen, Herr Kommissar.«
»Es gibt so viele Ungereimtheiten, dass ich nichts mehr glaube, was man mir in dieser Klinik serviert.« Keller steckte das Tütchen mit dem Beweismittel in die Manteltasche und entledigte sich ebenfalls seiner Handschuhe. »Offensichtlich hat Kaltenbrunn den Mord an Professor Heise geplant. Er hat den Moment abgepasst und konnte sich, ohne dass der Psychiater misstrauisch wurde, hinter ihm postieren. Dann hat er zielsicher zugestochen. Man muss sich zudem ja vorher überlegen, wie man, nur mit einem Kugelschreiber bewaffnet, jemanden zuverlässig ausschalten kann. Also mir wäre diese wirklich effektive Möglichkeit nicht sofort in den Sinn gekommen. Vielleicht noch ein Auge, obwohl ich da gar nicht weiß, ob der Stift weit genug ins Gehirn geht. Nein, ich denke, das Ohr ist schon die professionellste Wahl. Und nebenbei bemerkt: Die zugehörige Kappe des Kugelschreibers war nicht in Professor Heises Kopf.«
Es schien, als wolle die Ärztin überhaupt nicht auf seine detaillierten Ausführungen eingehen. »Aber es gab kurz vorher eine lautstarke Auseinandersetzung, ich meine...« Moreaux verstummte, als sie Kellers Blick bemerkte.
»So, Doktor? Das steht nur im Raum, weil die Springfeld das ausgesagt hat. Und der traue ich genauso wenig wie diesem Jörg Tassel. Niemand sonst hat diesen angeblichen Streit mitbekommen.« Keller blätterte in seinem Notizbuch. »Ja hier, genau. Als die beiden Bediensteten, die die Springfeld gerufen hatte, ankamen, war alles ruhig und der Professor war bereits tot.«
Moreaux seifte sich die Hände ein. »Doch wenn es so war, wie Sie annehmen, und Kaltenbrunn hat die Tat geplant und kaltblütig durchgeführt, wieso nimmt er dann einen Kugelschreiber?« Sie schüttelte die Hände und wischte sie an der Hose trocken. »Mir ist schon klar, dass er nicht an ein Messer kommen konnte. Aber ein Bleistift beispielsweise ist viel stabiler. Der bricht nicht mal eben durch wie unsere volkseigenen Plasteschreibgeräte.«
»Eben, Doktor, auch das ist komisch. Über Blei- und Buntstifte verfügte Kaltenbrunn zur Genüge, so viel habe ich in seinem Zimmer gesehen. Und das würde auch zu der Aussage des Personals passen. Kaltenbrunn soll viel gezeichnet haben.«
Während Keller grübelte, beschäftigte sich Moreaux damit, die Instrumente für die nun folgende Obduktion zurechtzulegen.
»Frau Doktor, ich muss noch ein Paar Handschuhe verschwenden«, verkündete Keller schließlich.
»Keine Ursache.«
Keller fischte das Plastiktütchen hervor und schraubte den Kugelschreiber auseinander. Als er die Mine herauszog, fiel ein kleiner Papierfetzen zu Boden. »Ha! Hab ich's doch gewusst!«
Schweigend blickten sie auf die vier Worte, die alles veränderten:
ich bin nicht verrückt
Moreaux war völlig aus der Fassung. Keller konnte sich nicht erinnern, dass er schon einmal jemanden wirklich die Hände hatte ringen sehen, aber genau das tat die Ärztin nun vor Verblüffung. »Völlig unglaublich«, murmelte sie immer wieder. »Einfach unglaublich. Wissen Sie, was das bedeutet?«
»Dass wir endlich eine Spur haben, verehrte Frau Doktor.« Nachdem er den Stift wieder zusammengeschraubt hatte, verstaute er Kaltenbrunns Nachricht in einem eigenen Beweismitteltütchen. »Was mich noch viel mehr beeindruckt, ist die Vorgehensweise von diesem Doktor Kaltenbrunn.«
»Was meinen Sie?«
»Wären Sie so berechnend? Also ich finde, zu dem Tatablauf, der sich mir hier immer klarer darstellt, gehört eine gehörige Portion krimineller Energie und Kaltblütigkeit. Als Erstes kommt unser Patient zu dem Schluss, er müsse persönlich mit der Außenwelt Kontakt aufnehmen, weil er sich bewusst ist, dass die Psychiatrische Klinik sein Anliegen niemals weitergeben wird.«
»Nun gut, so weit folge ich Ihnen.« Mit einem Mal wirkte die Medizinerin wieder sehr aufmerksam.
»Also braucht Kaltenbrunn einen Plan. Einen guten, denn ihm dürfte klar gewesen sein, dass er nur eine einzige Chance bekommen würde. Er bittet also um eine Unterredung mit der einzigen Person, zu der er zumindest etwas Vertrauen hat und die gleichzeitig genügend Kompetenz beziehungsweise Entscheidungsgewalt hat, um seinen Wunsch nach Kontaktaufnahme zu ermöglichen.« Keller ordnete für einen Moment schweigend seine Gedanken. »Es läuft nicht, wie erhofft. Der Professor verweigert Kaltenbrunn kategorisch die Kontaktaufnahme. Jetzt braucht er eine Alternative – und die hat er bereits durchdacht und ist bereit, sie ohne Zögern oder Skrupel durchzuführen. Den Professor zu töten, war überhaupt nicht Kaltenbrunns Absicht!«
Moreaux schien völlig perplex. »Was soll das heißen, Kaltenbrunn habe nicht die Absicht gehabt, Heise zu ermorden? Ich dachte, wir wären uns einig, dass die Tat vorsätzlich geschehen ist.«
»Natürlich war die Tötung des Professors Absicht, und natürlich gehörte sie zum Plan. Aber trotzdem war der Mord für Kaltenbrunn nur ein Mittel zum Zweck; ein Kollateralschaden sozusagen.« Keller genoss die offensichtliche Ratlosigkeit der Gerichtsmedizinerin.
»Tut mir leid, ich tue mich schwer, Ihnen zu folgen.«
»Nun überlegen Sie doch einmal, Doktor. Was war das eigentliche Anliegen von Kaltenbrunn?«
Moreaux kniff die Augen zusammen. »Mit der Außenwelt Kontakt aufzunehmen, würde ich sagen, oder?«
»Ha!« Der Polizist erhob triumphierend den Zeigefinger. »Und genau das hat er erreicht, Doktor. Kaltenbrunn brauchte nichts weiter als ein geeignetes Transportmittel für seine Nachricht. Er musste sich zusätzlich sicher sein, dass der kleine Zettel auch wirklich gefunden wird und nicht im Müll landet. Einfach genial. Unser allseits hochgeschätzter Professor Doktor Wolfgang Heise ist für den Täter nichts anderes als ein perfekter Container.«
»Das ist gruselig.«
»Meinetwegen, aber es ist genial durchdacht.«
Moreaux konnte die Begeisterung des Kriminalisten für eine solch perfide Planung eines Verbrechens nicht nachvollziehen und rang offensichtlich um Beherrschung. »Warum schreibt der geniale Verbrecher dann nicht, was er will? Ich meine, es ist doch eher bescheuert, so einen Aufwand zu treiben und dann eine so lapidare Botschaft an uns zu übermitteln.«
»Das ist ganz und gar nicht bescheuert, wie Sie es bezeichnen, Doktor. Er kann nicht wissen, wer seine eigentliche Nachricht empfangen wird. Nein, zuerst musste er auf sich aufmerksam machen. Das hat er mit dem Kuli getan. Als Nächstes muss er jemandem sein wirkliches Anliegen schildern, von dem er glaubt, dass der es versteht, der wahrscheinlich auf seiner Seite steht, und der auch noch etwas bewegen kann.«
Die Ärztin schwieg, schien jedoch Kellers Schlussfolgerungen widerwillig zu akzeptieren.
»Ich glaube, er hat versucht, mit mir zu sprechen, wurde aber von den verabreichten Medikamenten daran gehindert. Ich muss den Mann unvernebelt in die Finger bekommen, so viel ist klar. Das wird einiges, wenn nicht alles, was hinter diesem seltsamen Fall steckt, aufklären. Das sagt mir mein Instinkt, Doktor.«
»Vielleicht haben Sie recht.«
Keller wunderte sich über die unvermittelt desinteressierte Moreaux, verkniff sich aber eine Antwort. Stattdessen beschloss er, das Thema zu wechseln, und fingerte eine andere Plastiktüte heraus. »Das hier habe ich in Heises Medikamentenkabinett entdeckt.«
Die Gerichtsmedizinerin nahm das kleine Glasfläschchen mit dem Aufkleber entgegen. »Lassen Sie mich raten...«
Keller nickte. »Laut der Zeugin Springfeld bekam Kaltenbrunn außer–«, er griff nach seinem Notizbuch. »Ja, hier. Er bekam Radedorm und Meprobamat, das ist wohl üblich. Ich habe mich erkundigt. Das geben die jedem Patienten, um ihn ruhig zu stellen... macht ja auch weniger Arbeit. Zusätzlich verabreichte ihm der Professor persönlich eine geheimnisvolle Vitaminspritze, wie die Springfeld es nannte.«
Moreaux verschränkte die Arme und überlegte einen Moment. »Sie haben es geschafft, ich bin neugierig, Kommissar. Da gibt es heute Nacht wohl keinen Schlaf. Ich werde das Zeug analysieren, sobald ich mit der inneren Beschau von Professor Heise durch bin.«
»Ist gut, danke«, murmelte Keller. Die wenig vorhersehbaren Reaktionen der Ärztin hatten ihn einigermaßen verwirrt, aber er verließ den Obduktionsraum ohne ein weiteres Wort.