Читать книгу Green Mamba - Barry Stiller - Страница 7
11:16 uhr
Оглавление»Mann, Keller. Ich habe schon gedacht, Sie hätten sich Ihren restlichen Urlaub genommen«, grüßte ein grauhaariger, nicht gerade schlanker Endfünfziger mit Ironie in der Stimme.
»Ich bin erst um vier aus Waldheim zurück gewesen, Chef.« Keller hatte keine Lust, sich schon am frühen Morgen mit seinem Vorgesetzten in die Haare zu bekommen.
»Und deswegen kreuzen Sie hier kommentarlos um elf auf, Oberleutnant? So geht das nicht. Eine gute Erfolgsquote rechtfertigt keine Disziplinlosigkeit, das wissen Sie doch. Also, was haben wir da in dieser Klinik in Waldheim?«
Keller rollte mit den Augen, während er seinen Mantel an den Haken hängte. Er kannte den Leiter der K zu gut, um etwas zu erwidern. Nach einer halbherzig gemurmelten Entschuldigung präsentierte er seinen knappen Bericht.
»Ein Irrer hat seinen Arzt umgebracht, kurz gesagt.«
Major Schüttau wartete auf mehr und seufzte lautstark, als Keller keine Anstalten machte, ausführlicher zu werden. »Das war nicht irgendein Arzt, Keller. Ich dachte eigentlich, dass Sie mit mehr Informationen zurückkommen. Sonst können Sie nächstes Mal ja gleich per Fernsprecher ermitteln und im Büro bleiben.« Nach einer kurzen Pause ergänzte Schüttau versöhnlicher: »Mensch, Keller, dieser Professor Heise hatte gute Beziehungen in die Partei und viele Freunde in einflussreichen Positionen. Ich möchte nicht, dass uns die ganze Sache auf die Füße fällt. Wir dürfen in diesem Fall keine Fehler machen. Aber das muss ich Ihnen doch nicht erzählen.«
Müde ließ sich Keller auf den unbequemen Besucherstuhl sinken und zog sein Notizbuch umständlich aus der Innentasche seines Jacketts. Ohne das Ding würde er die Details niemals zusammenbekommen. Schüttau schürzte die Lippen und wartete auf eine ausführlichere Schilderung. Keller fasste die Informationen zu Tatablauf und Todeszeit zusammen und beschrieb den Tatort mit einer Genauigkeit, die verriet, dass er seine Notizen vor allem für Daten, Zahlen und sperriges Fachvokabular benötigte, weniger für die visuellen Eindrücke. Das Gespräch mit dem dringend tatverdächtigen Kaltenbrunn hatte kaum hilfreiche Informationen geliefert, zu tief war der Mann in seine psychotischen Wahnvorstellungen verstrickt. Aber einen echten Zweifel an seiner Schuld konnte es kaum geben. Sofern ein derartig Verrückter wirklich schuldig sein konnte.
Erst als Keller zu seiner Unterhaltung mit Kaltenbrunns Pfleger Tassel kam, zeigte Schüttau Interesse. »Was soll das heißen? Der Mann ist Wissenschaftler? Das soll wohl ein Witz sein. Doktor Kaltenbrunn? Ist Doktor nicht eher sein Spitzname?«
»Ich weiß es nicht, Genosse Major«, erklärte Keller korrekt.
»Pah. Dann sollten Sie Ihre Hausaufgaben machen, Oberleutnant. Erstatten Sie um drei viertel vier Bericht. Und jetzt gehen Sie.«
Keller war eben dabei, seinen Mantel vom Haken zu klauben, als sein Vorgesetzter ihn noch einmal ansprach.
»Entschuldigungen Sie, Genosse Oberleutnant, ich verstehe ja, dass Sie glauben, dass dieser Fall nicht wirklich in unser Dezernat gehört. Normalerweise hätten die Kollegen vom VPKA vor Ort das auch erledigen können. Zu ermitteln gibt es da im Grunde nicht viel, nehme ich an. Sie verstehen sicher, dass Professor Heises Tod nicht wie eine Lappalie, wie ein beliebiger Unfall, abgehandelt werden soll. Also bringen Sie das sauber über die Bühne. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?«
Der Oberleutnant nickte und trat auf den Flur hinaus.
Irgendetwas in Schüttaus Tonfall war seltsam gewesen. Und dass sein Chef eine Mordsache so schnell als Routinefall abzutun versuchte und auf der anderen Seite nachdrücklich betonte, wie wichtig es sei, keine Fehler zu machen, passte nicht recht zu ihm.
In Kellers Kopf schellten Alarmglocken, die in der Vergangenheit stets Komplikationen angekündigt hatten, doch er war fest entschlossen, sie diesmal zu ignorieren.
»Ja, genau. Doktor Heinrich Kaltenbrunn«, knurrte Keller in den Fernsprechapparat. »Nein, ich weiß nicht, an welcher Fakultät der Mann seinen Titel erworben hat. Nein, auch nicht, wo er davor studiert hat. Hören Sie–« Er verschwendete seine Zeit, aber was sollte er machen? Irgendwo musste er anfangen, und die Zahl der Universitäten, an denen Kaltenbrunn promoviert haben konnte, war begrenzt. Wenn er denn tatsächlich einen Doktortitel in der DDR erworben hatte. Keller bedankte sich tonlos bei der Verwaltungssekretärin und knallte den Hörer auf die Gabel.
Die Patientenakte Kaltenbrunns lag vor ihm auf dem Schreibtisch, wobei die Anstaltsleitung darauf bestanden hatte, dass alle auch nur vage behandlungsbezogenen Unterlagen entfernt wurden. So blieben nur zwei graue Blätter mit den Einlieferungsdaten des Patienten, die ihm praktisch nichts verrieten. Der Titel eines Dr. rer. nat. war in das dafür vorgesehene Feld feinsäuberlich eingetragen worden, konnte aber alles Mögliche bedeuten. Der Geburtsort war mit Berlin angegeben, und Keller hatte bereits einen Anruf zur dortigen K abgesetzt, allerdings ohne große Hoffnung auf baldigen Rückruf. In der Hauptstadt hatte die Kriminalpolizei selbst genug zu tun. So war für ihn der nächste logische Schritt, die Hochschule zu identifizieren, an der Kaltenbrunn vielleicht studiert hatte. Zuerst hatte er sein Glück in Berlin versucht, aber dort waren keine Dokumente über einen Heinrich Kaltenbrunn zu finden gewesen. Ein großes Problem war, dass er nicht einmal Kaltenbrunns Geburtsjahr kannte. Ob der Mann während oder erst nach dem Krieg promoviert hatte, war damit völlig unklar. Nachdem auch Leipzig sich als Reinfall erwiesen hatte, blieben noch fünf Universitäten und eine ganze Reihe von Hochschulen. Keller nahm sein Büchlein, strich Leipzig durch und wählte dann die Nummer der TU Dresden. Dieses Ferngespräch blieb wie alle, die noch folgten, ohne jedes Ergebnis.
Wenn man davon ausging, dass die Akten seit Kriegsende unangetastet geblieben und mit typisch deutscher Gründlichkeit geführt worden waren, musste man zu dem Schluss kommen, dass ein Heinrich Kaltenbrunn an keiner Universität oder Hochschule der Deutschen Demokratischen Republik studiert oder promoviert hatte. Vielleicht waren seine Unterlagen auch einfach durch den Krieg verloren gegangen… Und was, wenn der Mann aus dem Westen kam? Oder wenn er bei den russischen Genossen studiert und promoviert hatte? Keller wischte sich über die Stirn und sank tief in seinen Sessel zurück.
Was, wenn dieser Kaltenbrunn einfach nur ein Hochstapler war? Falscher Name, falscher Lebenslauf, kein Studium, kein Doktortitel. Vielleicht war der Mörder von Professor Heise auch ein Landstreicher, der mit einer hanebüchenen Geschichte auf sich aufmerksam machen wollte und ein warmes Zuhause für den Winter gesucht hatte.
Keller seufzte, als ihm mit einem Mal bewusst wurde, dass er genau genommen nichts über diesen Kaltenbrunn wusste. Restlos alle Informationen über ihn stammten vom Klinikpersonal, und das gab sich offensichtlich Mühe, möglichst wenig preiszugeben. Doch vorausgesetzt das Wenige, was er von Jörg Tassel und der Springfeld erfahren hatte, stimmte, dann war die Theorie vom obdachlosen Landstreicher unwahrscheinlich. Insbesondere Professor Heises auffälliges Interesse an dem Patienten wäre so kaum zu erklären.
Nein, alles sprach dagegen, dass dieser vermeintliche Wissenschaftler aus einer verwirrten Laune heraus beschlossen hatte, seinen Arzt und damit seine wichtigste Kontaktperson zu töten. Und was hatte Kaltenbrunn damit gemeint, als er sagte, er habe Heise töten müssen, weil der ihn daran habe hindern wollen, mit jemandem 'von draußen' zu reden?
»Genosse Oberleutnant, Major Schüttau schickt mich.« Ein jüngerer Mann stand in der halboffenen Tür zu Kellers kleinem Dienstzimmer. Obermeister Kohn blickte neugierig über den aktenbedeckten Schreibtisch und die vollgestopften Regale, ließ jedoch keine Absicht erkennen, den Grund seines Kommens zu nennen.
Nach einer knappen Minute verlor Keller die Geduld. »Ja, Genosse Obermeister?«
»Ach so, Major Schüttau erwartet Ihren Bericht in zwanzig Minuten. Ich sollte Sie nur daran erinnern.«
Keller verzog das Gesicht. Für einen Moment hatte er schon gehofft, dass der Leiter der Kriminalpolizei ihm einen Mann zur Verstärkung geschickt hatte, auch wenn Genosse Kohn nicht gerade seine erste Wahl gewesen wäre. Stattdessen blieb die 'Soko Heise' offensichtlich ein Ein-Mann-Unternehmen. »Was machen eigentlich Möllen und Schnetz?«, fragte er, bevor Kohn verschwinden konnte.
»Untersuchen einen Raub im Stellwerk. Da hat jemand–«
Keller winkte ab. »Schon gut, Kohn. Einen schönen Feierabend wünsche ich noch.«
Nachdenklich lauschte er den sich entfernenden Schritten. Schließlich griff er ein letztes Mal am heutigen Tage zum bakelitenen Hörer seines Dienstapparates. Wenigstens war in einer Irrenanstalt immer jemand zu erreichen.
»Sonne«, meldete sich eine Frauenstimme, die er schon kannte. Es war die Sekretärin des Anstaltsleiters. Kurz und knapp stellte er seine Fragen. Kurz angebunden waren die Entgegnungen des Fräulein Margarete Sonne. »Genosse Oberleutnant, ich kann Ihnen wirklich keine weiteren Auskünfte geben. Was es für Sie zu wissen gibt, finden Sie in den Akten von Doktor Kaltenbrunn.«
»Sie nennen ihn auch Doktor.«
»So steht es in den Akten«, erwiderte sie prompt.
Diese hochnäsige Vorzimmerdame schaffte es, ihn zur Weißglut zu treiben. Bemüht, nichts Unüberlegtes zu sagen, atmete er tief durch, um dann in möglichst freundlichem Ton fortzufahren: »In den Akten steht nur leider außer seinem Titel überhaupt nichts. Ich habe bislang nicht einmal seinen letzten Wohnort in Erfahrung bringen können.«
»Es kann wohl nicht meine Aufgabe sein, Ihre Arbeit zu machen, Genosse Keller.«
»Ihre Aufgabe wäre es aber, Ihre Patientenakten wahrheitsgetreu und umfassend zu führen.«
»Möchten Sie hier etwas unterstellen, Genosse Oberleutnant? Wenn dem so sein sollte, verbinde ich Sie besser gleich mit Professor Doktor–«
Keller lachte kurz auf. »Fräulein Sonne. Können Sie mir wenigstens sagen, wer Heinrich Kaltenbrunn in Ihre Klinik eingewiesen hat? Nicht einmal das konnte ich nämlich diesen Akten entnehmen.«
Einige Augenblicke herrschte Stille in der Leitung. Dann vernahm er das Geräusch von Schubladen und Papier. »Tut mir leid, Genosse Keller. Diese Information ist nicht verfügbar.« Damit legte Fräulein Sonne auf.
»Nicht gerade viel, Keller. Jetzt setzen Sie sich endlich. Vielleicht noch einen Kaffee?« Schüttaus Laune hatte sich seit dem Mittag nicht merklich gebessert. Keller blieb stehen und unterdrückte ein Gähnen.
»Das sind doch keine Ermittlungsergebnisse. Sie wissen nicht, wo dieser Kaltenbrunn herkommt, was er beruflich gemacht hat, nicht einmal, ob das tatsächlich sein richtiger Name ist. Geschweige denn, dass Sie ein Motiv nennen können. Ach, und wer weiß schon, ob das alles überhaupt eine Rolle spielt. Der Schlamassel ist da, und dieser Professor Heise wird auch nicht wieder lebendig.«
Keller verkniff sich jegliche Äußerung und wartete darauf, dass sein Chef sich einen Ausweg konstruierte, mit dem sie beide schnell und ohne Blessuren aus dieser Mordermittlung herauskämen.
»Der Fall an sich ist ja klar. Es kann doch nicht so schwer sein, ihn abzuschließen«, machte sich der Major Luft. »Schließlich ist dieser Kaltenbrunn verrückt, wie soll man da ein schlüssiges Tatmotiv erwarten? Vielleicht sollte es anschließend noch eine Diskussion über die Sicherheitsvorschriften in derartigen Anstalten geben... Aber das ist schließlich nicht unsere Angelegenheit.«
»Sie haben es ja selbst gesagt, in diesem Fall wird nicht viel zu ermitteln sein«, gab Keller beipflichtend zurück, obwohl ihn die Doppelzüngigkeit hinter Schüttaus Vorwürfen erheblich ärgerte.
Der Major war mit seiner eigenen Zurechtlegung des Falles nicht zufrieden. »So ein Mist! Aber wenn Sie schon anfangen zu ermitteln und solche Ungereimtheiten auftauchen, dann steckt da am Ende tatsächlich noch etwas dahinter, verdammt.« Der Major musterte Keller. »Sie gehen am besten zurück nach Waldheim und versuchen, ein Geständnis von diesem Kaltenbrunn zu bekommen. Es ist doch alles klar, was die Tat angeht. Gerede über die Sache kann niemand gebrauchen. Sie kriegen das schon hin.«
»Wen kann ich mitnehmen?«
Kellers Vorgesetzter schien das für einen gelungenen Scherz zu halten. »Ich bin mir sicher, dass Sie es auch weiterhin alleine schaffen, Oberleutnant. Sehen Sie lieber zu, dass Sie einen Deckel drauf machen. Ich will diese Angelegenheit aus der Welt haben – und aus meinem Kommissariat!«
Zurück in seinem Dienstzimmer machte Keller seinem Ärger Luft und fegte das Bakelittelefon, das bisher nur seine Zeit verschwendet hatte, vom Tisch. An so einem Vorgesetzten konnte man zum Mörder werden; fast konnte er den irren Kaltenbrunn verstehen. Er musste zurück in dieses Irrenhaus in Waldheim. Diese pampige Sekretärin Sonne, die fette Nachtschwester Springfeld, alle waren sie nicht koscher. Und dieser junge Pfleger, Jörg Tassel, der war richtig ins Schwimmen gekommen, als die Sprache auf Kaltenbrunn kam. Und wer wusste es schon? Eventuell hatte der verrückte Doktor einen hellen Moment. Am besten war es, er fuhr jetzt gleich.
Unter Fluchen hob er den Fernsprecher auf und stellte fest, dass der Hörer einen langen Riss aufwies. Mist, für diese Aktion würde das kostbare Tesa-Band draufgehen, das seine Schwester im letzten Fresspaket versteckt hatte.
Er konnte sich den gewünschten Inhalt der Ermittlungsakte Heise genau vorstellen: Ein amoklaufender Verrückter tötet in sinnloser Raserei den verdienstvollen, ehrenwerten Professor Heise. Ein tragischer Unglücksfall. Keiner kann etwas dafür, keiner konnte sowas voraussehen, keiner kann sich erklären, wie es dazu kommen konnte. Die Sicherheitsvorschriften würden noch einmal überdacht und ein bisschen modifiziert. Staatsbegräbnis für den Wohltäter, salbungsvolle Reden und eine Ladung Kränze von den richtigen Stellen. Der arme Irre verschwindet unauffällig von der Bildfläche, und das Leben geht weiter...
Aber nicht mit Oberleutnant Josef Keller. Oh, er würde einen Deckel auf diese ganze Chose machen, nur nicht so, wie der Genosse Schüttau sich das vorstellte. Wenn dabei Dreck aufgewirbelt und einige saubere Westen schmutzig würden, sollte es ihm recht sein.
Grimmig rückte er seine Kappe zurecht, legte Schal und Trenchcoat über den Arm und nahm die Wagenschlüssel aus dem Wandkasten. Auf Abmeldung und einen Eintrag ins Fahrtenbuch verzichtete er.
Ein wenig hoffte Keller, der Chef vom Dienst würde ihn gleich morgen früh darauf ansprechen; er war genau in der richtigen Stimmung für diese besonders wichtigen Formalitäten.