Читать книгу Warum ich das Lachen und Singen verlernte (Autobiografie) - Beate Sander - Страница 12

Mehr zum Ferninstitut und den beruflichen Aktivitäten meines Vaters

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In den ersten Kriegsjahren lief Vatis Ferninstitut ausgezeichnet, ohne ihn deshalb als „Kriegsgewinnler“ zu beschimpfen. Viele eingezogene Soldaten nahmen am Fernunterricht in Bilanzbuchhaltung, Betriebs- und Volkswirtschaftslehre, Steuerrecht, Kaufmännischer Schriftverkehr und „Gutes Deutsch“ teil. Dies geschah in der von Zuversicht geprägten Annahme, der Krieg wäre schnell vorbei. Ein erfolgreiches Fernstudium sollte nach dem „Endsieg“ die Rückkehr in ein normales Leben und den beruflichen Start erleichtern. Diese Ziele waren nicht verwerflich. Kurz vor dem Zusammenbruch 1944 und ab 1945 ging gar nichts mehr. In den ersten Nachkriegsjahren hatten die Menschen andere Sorgen, als Wirtschaftswissenschaften zu studieren und sich in Zahlenreihen zu vertiefen.

Die Bedürfnispyramide in der Nachkriegszeit lautete:

1. Welle: Essen und Trinken,

2. Welle: Wohnung und Kleidung,

3. Welle: Freizeit und Reisen,

4. Welle: Sicherheit, Bildung und Selbstverwirklichung.

So startete mein Vater in Westberlin einen neuen Anlauf – mit mäßigem Erfolg: die meiste Zeit mehr Verlust als Gewinn. Es wäre besser gewesen, sich anfangs mit einem bescheidenen äußeren Rahmen zu begnügen. Aber das entsprach nicht Vatis Wesensart. So gut dies gemeint war: Musste er für Renate und mich einen teuren Konzertflügel mieten? Hätte zum Üben nicht ein einfaches Klavier genügt?

Sein Lebensstil zeigt gewisse Parallelen auf zum miserabel wirtschaftenden, seit Jahrzehnten über seine Verhältnisse lebenden hochverschuldeten Griechenland. Ein Staat, der ohne milliardenschwere Rettungsschirme und Schuldenschnitt der Pleite nicht entrinnen dürfte. Wenn Vati schon das eine oder andere Liebesabenteuer pflegte: Musste es unbedingt allmonatlich die Frankfurter Edelhure Rosemarie Nitribitt sein, deren Leben verfilmt wurde? Billig war sie nicht zu haben.

Vati versuchte, seinen Kontostand aufzubessern mit überdurchschnittlich gut bezahlten pornografischen Beiträgen. Er schrieb aber auch seriöse Artikel für eine Wochenzeitschrift.

Als ich dem WINKLERS VERLAG in Darmstadt – geführt von den Zwillingsbrüdern Hans und Heinz Grimm sowie Vetter Rüdiger Grimm – mein erstes Fachbuch anbot, hieß es: „Wenn Sie so genial und kreativ sind wie Ihr Vater, heißen wir Sie als blutjunge Autorin herzlich willkommen. Sind Sie so unzuverlässig wie Dr. Jaenicke, dann zum Teufel mit Ihnen! Dann wird dies Ihr erstes und letztes Buch bei uns sein.“ Ich hielt jeden Termin überpünktlich ein und schrieb etliche Bücher für den WINKLERS VERLAG – eine ausfüllende und harmonische Beziehung bis zur Übernahme durch den Braunschweiger Großkonzern WESTERMANN.

Aktuell spielt sich Schlimmes ab. Der gesamte Schulbuchbereich wird im „Bildungshaus“ zusammengefasst. Dies gilt auch für meinen Verlag BILDUNG EINS. Ob ich die erbetene Einverständniserklärung unterschreibe oder das unpersönliche Schriftstück wutentbrannt im Papierkorb zerknülle, ändern wird sich dadurch gar nichts. Autoren sind keine Nutznießer, wenn die Großen die Kleinen schlucken.

Obwohl ich vor einem Dutzend Jahren gemeinsam mit dem Erziehungswissenschaftler Professor Dr. Knöpfel eine erfolgreiche Sozialwesen-Schulbuchreihe für Thüringen schrieb und bei mir alljährlich immer noch ein paar hundert Euro Honorar eingehen, kennt mich bei WESTERMANN niemand. Auf der DIDACTA 2011 in Stuttgart konnte ich keine Kontakte wegen einer Neuauflage anknüpfen. Vertröstung ja – aktive Kommunikation nein! Dabei werden Schulbuchautoren händeringend gesucht. Ähnliche Erfahrungen gab es mit dem HECKNERS und WOLF VERLAG nach der Übernahme durch BILDUNG EINS, meinen jetzigen Verleger. Dessen Schulbuchbereich wandert nun ins „Bildungshaus“.

All dies bewog meinen Sohn Uwe, der mit mir gemeinsam das vergriffene Sachbuch „Schwierige Schüler – schwierige Lehrer? Neue Wege des Konfliktmanagements im Schulalltag“ verfasste, in dieser anonymen Welt kein Buch mehr schreiben zu wollen. Aber tüchtige Schulbuchautoren braucht das Land – auch mit Blick auf die PISA-Studien.

Zurück zum Ferninstitut meines Vaters und den sich zuspitzenden finanziellen Sorgen. Es ist schlecht, Rechnungen ungeöffnet wegzulegen und von wundersamen Visionen zu träumen. Dennoch musste unsere Familie nie hungern.

Es gab keine Räumungsklagen, keinen am Mobiliar klebenden Kuckuck. Mein Vater als Lebenskünstler und Stehaufmännchen zog gerade noch rechtzeitig den Kopf aus der Schlinge. Er war der Igel, nicht der Hase. Finanzielle Unsicherheit und beidseitige Seitensprünge machten die Ehe meiner Eltern zur Hölle. Dabei liebte mein Vater meine Mutter zeitlebens, während sich bei ihr Hassgefühle eruptionsartig entluden. Von diesen Hasstiraden blieben wir Kinder nicht verschont. Wir sollten für Mutti Partei ergreifen und Vati bei Familienfestlichkeiten aussperren. Zu Elkes und Uwes Taufe und Konfirmation lud ich abwechselnd ein.

Vati stellte seine Lehrbriefe selbst her. Er besaß eine Maschine, Modell „ROTOPRINT“, die mithilfe von Wachsmatrizen Tausende preisgünstiger Vervielfältigungen in flottem Tempo produzierte. Jedes mit der Schreibmaschine eingegebene Schriftzeichen durchlöcherte die Wachsmatrize als Druckträger. Hielt ich eine beschriftete Matrize gegen das Licht, so war der Text anhand jedes ausgestochenen Zeichenabdrucks gut lesbar – ebenso die mithilfe von Kohlepapier entstandene Kopie nach Beschriftung. Im Anschluss an den Vervielfältigungsprozess waren die Druckträger mit saugfähigem Papier von den schwarzen Farbresten zu säubern. Danach wanderten sie in die mitgelieferten Kartonagen. Auf dem Deckel musste die genaue Produktbezeichnung stehen – unerlässlich für rasches Wiederfinden.

Der Schwachpunkt lag darin, dass eine Korrektur bei der Texterfassung und danach nur ganz bescheiden möglich war. Es ließen sich nur einzelne Buchstaben und gleich lange Wörter mit dem lilafarbenen Korrekturlack ausbessern.

Bei Ergänzungen und Aktualisierungen ging dies nicht. Jede größere Korrektur machte es notwendig, eine neue, ziemlich teure Matrize zu beschriften. Schlich sich erst einmal der Fehlerteufel beim Tippen auf der mechanischen Schreibmaschine ein, so wuchs die Nervosität. Die Patzer mehrten sich. Also wieder eine frische Matrize und danach nochmals eine usw. Bei solchen Pannen half ich im Büro öfters aus.

Es war beschlossene Sache, dass ich dieses Ferninstitut später weiterführen würde. Eigentlich lief damals der Fernunterricht nicht schlecht. Erst mit dem Siegeszug des Internets und der Gründung zahlreicher Business-Schulen wurde es zusehends schwieriger, sich als Fernakademie mit Printerzeugnissen zu behaupten. Die zahlreichen ganzseitigen großen Werbekampagnen konkurrierender Ferninstitute sind verschwunden, mag sich dieser Markt aktuell auch wieder beleben. Die Online-Angebote haben diesen Markt empfindlich getroffen und ausgedünnt. Mein Vater, mit über 80 Jahren durch einen schweren Schlaganfall ans Bett gefesselt, bekam davon kaum etwas mit.

Gut, dass sich Vati in Westberlin bereits zweigleisig orientierte und in der Privaten Handelsschule Müller in Würzburg als Wirtschaftslehrer eingestellt wurde und eine wichtige Gelderwerbsquelle fand. So konnte er in seinen studierten Fächern unterrichten und den Lebensunterhalt seiner großen Familie sichern. Vatis große Liebe gehörte aber zeitlebens seinem Ferninstitut. Er tat alles, um seinen stolzen Segelschiff-Dreimaster in Würzburg wieder flott zu machen. Letztlich misslang dies trotz großen Einsatzes und zeitlebens nicht endender Leidenschaft.

Warum ich das Lachen und Singen verlernte (Autobiografie)

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