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3. Das Bild meiner Eltern

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Ich stamme aus einer einst wohlhabenden Familie – heute Besserverdiener genannt. Im Zuge der Kriegswirren verarmten meine Eltern und brauchten jahrzehntelang meine finanzielle Hilfe, sobald ich als verbeamtete Lehrerin Geld verdiente.

Mein Vater, Dr. Joachim Jaenicke, geschmückt mit einem Doktortitel ohne Plagiat und zwei Diplomen in Politik, Volkswirtschafts- und Betriebswirtschaftslehre, war in Rostock ein erfolgreicher Unternehmer mit Ferninstitut und privater Handelsschule. Dieses Anwesen lag mitten im Zentrum Rostocks nahe dem Marktplatz. Wir wohnten etwas außerhalb am Stadtrand in einer schmucken Gartensiedlung, umgeben von einem größeren Waldgebiet. Hier sammelte ich Pilze, Beeren und Bucheckern und träumte mit meinem Freund Peter über unsere gemeinsame Zukunft – er als Förster – ich als Pianistin.

Über die Familie väterlicherseits weiß ich wenig. Vati sprach nur ungern darüber und wich meinen Fragen geschickt aus. Vatis Mutter starb in jungen Jahren an Leukämie. Dieser heimtückische, damals immer unheilbare Blutkrebs raffte auch seine Zwillingsschwester im Alter von zehn Jahren hinweg. Ich befürchtete noch als Erwachsene, dass meinen Geschwistern, Kindern, Enkeln oder mir selbst ein ähnliches Schicksal durch vererbte Gene drohen würde. Diese Befürchtung bestätigte sich nicht. Es dauerte lange, bis ich die Angst überwand.

Mein Opa väterlicherseits, ein Apotheker, verstarb ebenfalls früh, woran, weiß ich nicht. Mein Urgroßvater war ein reicher Gutsbesitzer. In unserem Esszimmer hing ein großes Ölgemälde mit imposantem Blattgoldrahmen. Es zeigt ihn als einen von Gesundheit strotzenden, erhaben wirkenden Titan, der in stolzer Pose auf seine stattlichen Ländereien, sein Gestüt und die ihn umwogenden Kornfelder blickt. Den Apotheker, meinen unbekannten Opa, stelle ich mir als schmächtigen, blassen, stillen, unauffälligen Mann mit verkniffenen Mundwinkeln vor – im akkurat geschnittenen weißen Medizinerkittel geheimnisvolle Rezepturen anrührend. Suchte er die Zauberformel, um die seine Familie heimsuchende Leukämie zu bekämpfen?

Vati stammt aus dem thüringischen Jena. Warum er nach Rostock zog und hier seine berufliche Existenz aufbaute, weiß ich nicht. Er war nie ein Nazi, behandelte die bei ihm zeitweilig arbeitenden Kriegsgefangenen glücklicherweise menschenfreundlich. Zweifellos profitierte er in den ersten Kriegsjahren davon, dass viele Soldaten seine Fernbriefe für Bilanzbuchhaltung, Volks- und Betriebswirtschaftslehre sowie Steuerrecht bezogen. Es wäre unfair und verfehlt, ihn deshalb als Kriegsgewinnler abzustempeln. Mein Vater mit Unternehmerblut in den Adern erkannte als Geschäftsmann die Chancen und nutzte sie. Etwas für die Bildung zu tun, ist und war zu keiner Zeit und in keinem System ehrenrührig.

Für meine Mutter gilt abgewandelt: „Bauer sucht Frau – Bäuerin sucht Mann.“ Sie stammte aus einfachen Verhältnissen, einer bäuerlichen Familie aus Lüchow bei Celle. Eine blonde, wunderschöne, grazile und charmante Frau, die es nicht nur meinem Vater angetan hatte.

Mutti hatte zwar nur einen Volksschulabschluss. Aber wer sie kannte, mit ihr sprach oder von ihr eingeladen wurde, sah sich einer gebildeten Dame mit feinen Umgangsformen und besten Manieren gegenüber. Bewandert in Literatur, Kunst und Kultur. Ausgestattet mit zielsicherem Geschmack, was gediegene Wohnungseinrichtung und modische Kleidung betraf. In ihre Familie passt sie ebenso wenig hinein wie ich in ihre Vorstellungswelt.

Mutti fand sich nie damit ab, dass mich Königshäuser, Filmstars, Schmuck und schicke Kleidung nicht interessierten. Umgekehrt störte mich an ihr, dass Äußerlichkeiten und Ambiente beherrschend waren für die Einschätzung anderer Menschen. Als ich ihr bei meinen seltenen Besuchen voller Stolz erzählte, dass ich einen großen Vortrag halten würde im Bonner Beethoven-Saal, fragte sie nicht nach Anlass und Thema, sondern nur, was ich anzuziehen gedenke.

Als mein Vater starb, galt ihr Blick allein der passenden Trauerkleidung. Nicht anders sah es aus bei der Taufe und Konfirmation meiner Kinder sowie bei Elkes Hochzeit. Die einseitige Ausrichtung auf Äußerlichkeiten und ihre übertriebene Eitelkeit entfernten uns menschlich noch weiter voneinander. Sicherlich würde meine Mutter auch unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel ablehnen, weil ihr schicke Kleidung wohl noch weniger bedeutet als mir selbst.

Zwischen Mutti und mir lagen Welten wie das trennende Gewässer in der großen symphonischen Dichtung: „Es waren zwei Königskinder.“ Am vorderen Ufer steht die Eitelkeit als Tugend, am hinteren Ufer die Eitelkeit als Untugend. Für mich gilt die umgekehrte Bewertung.

Meine Tochter Elke entsprach noch am ehesten ihrem Vorstellungsbild. Meinen Sohn Uwe, ein ausgesprochen sozialer Typ, stempelte Mutti allein wegen seiner Kleidung als „asozial“ ab. Sie bedachte ihn mit geringschätzigen Vorurteilen und lehnte ihn nicht minder ab als mich.

Umgekehrt waren Muttis Pflichtbewusstsein und ihre Verlässlichkeit zu bewundern. Ihr Perfektionismus verwandelte jedoch jede größere Feier zum Alptraum. Daher rühren wohl meine unausrottbaren Vorbehalte gegenüber Festlichkeiten mit vielen Gästen. Im krassen Gegensatz dazu motivieren mich eigene freie Reden vor Tausenden von Menschen in einer großen Halle oder Arena. Stets komme ich ohne Power Point und Spickzettel aus.

Meine Mutter verhielt sich mit ihrem „Betonkopf“ im Lebensalltag uneinsichtig bis hin zum Starrsinn. Sie wollte mich mit harten Strafen zum Spiel mit Puppen zwingen, verstärkte jedoch meine Abneigung. Typisch ist ihr schon erwähnter Anspruch: „Wenn ich weiß sage, ist es weiß, selbst wenn es schwarz ist.“ Gab ich nicht nach, winkten Schläge und Einsperren im dunklen, fensterlosen Abstellraum.

Als schlimm empfand ich ihr „Märtyrertum“, wie Vati es nannte, worunter er litt und sich mit einem Absacker tröstete. Man darf, aber muss kein Putzteufel sein. Wer freiwillig in diese Rolle schlüpft und einen Sauberkeitsfimmel entwickelt, sollte sich nicht selbst beweihräuchern. Niemand drängte Mutti dazu, ihren Haushalt perfekt zu führen, allwöchentlich sämtliche Fenster zu putzen, die Betten neu zu beziehen, täglich die Böden zu fegen, zu bohnern und die Küche nass aufzuwischen und zu schrubben.

Mutti hatte den Ehrgeiz, jedes Familienfest auf hohem Niveau auszurichten. Dabei begnügte sie sich nicht mit den Feierlichkeiten bei sich zu Hause. Gut, wenn ein solches Treiben befriedigt und das Selbstwertgefühl stärkt. Ein andauerndes Wehklagen widerspricht einem positiven Selbst- und Fremdbild. Ich ließ Mutti bei den Festlichkeiten für meine Kinder nie aktiv mitwirken, was die Spannungen verstärkte. Damit sie sich nicht einmischte, lud ich sie erst am Festtag ein.

Ganz klar: Ich stellte als Gastgeberin meine Mutter nie zufrieden. Ihr Rollenverständnis bezüglich Mädchen und Junge, Frau und Mann deckte sich mit der üblichen Einstellung vor mehr als 70 Jahren: Jungen sind etwas Besseres und verdienen bevorzugte Behandlung. Sie brauchen im Haushalt nicht mitzuhelfen, bekommen größere Essensportionen, dürfen sich prügeln, müssen aber auch tapfer sein. Bloß keine wehleidigen Angsthasen, keine Heulsusen, Petzen und Jammerlappen, die sich an Mutters Schürzenzipfel ausweinen!

Ein Alptraum mit Blickwinkel auf den eigenen Tod ist es, nach einem arbeitsamen, an Freuden, Sorgen, Ängsten und Leiden reichen Leben so menschenunwürdig enden zu müssen wie dies meiner Mutter widerfuhr. Ein solches Dahinscheiden wünsche ich selbst meinem Todfeind nicht. Wer mit 95 Jahren erst nach zehnjährigem Koma abberufen wird, verliert in diesem Jahrzehnt alles, was seine Persönlichkeit prägte: Schönheit, Anmut, Geisteskraft, die Fähigkeit, eigene Bedürfnisse, Empfindlichkeiten und Wünsche zu äußern. Ich bin überzeugt, dass meine Mutter, könnte sie selbst bestimmen, ganz anders für sich entschieden hätte als meine sie zu Hause pflegende jüngere Schwester.

Bei aller Fürsorge ging es wohl letztlich um das Pflegegeld in Stufe III. Eine mobile Sterbeklinik mit wachsendem Zulauf in den Niederlanden ist die Reaktion auf die Ängste todkranker Menschen, die selbst bestimmen und der Gerätemedizin nicht länger hilflos ausgeliefert sein wollen.

Warum ich das Lachen und Singen verlernte (Autobiografie)

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