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1. Vor 75 Jahren: Die erste Lebenszeit im Drei-Mädel-Haus Die Tagebucheinträge meiner Mutter als Grundlage für diesen Rückblick

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Vor 75 Jahren war für meine Eltern während der Schwangerschaft noch nicht zu erfahren: Würde ich der ersehnte Junge oder wieder nur ein Mädchen sein? Zwei Töchter nacheinander verstärkten den bislang unerfüllten Wunsch nach einem Stammhalter massiv. Beim dritten Male müsste es doch endlich klappen. Joachim sollte ich heißen wie mein Vater, ein früher üblicher, gern gepflegter Brauch. Ein drittes Mädchen war nicht eingeplant – schon gar nicht väterlicherseits.

So kam der ersehnte Johann-Joachim erst zwei Jahre später auf die Welt. Als drittes Mädchen in dieser Geschwisterfolge nahm ich eine schwierige Rolle ein. Ich konnte sie nie richtig spielen.

Mein Vater – für Mutti war er unser Pappi, wir Kinder nannten ihn Vati, Freunde sprachen ihn mit Arzi an – wählte mit seinem Sinn für Humor und als Ausdruck künftiger Hoffnung für mich den Namen Beate, die Glückliche. Es gibt viele Mädchen und Frauen, für die dieser schöne, freudige Erwartungen weckende Name besser passen würde.

Die Fassade unseres schmucken Eigenheims, eine Villa in der gepflegten Rostocker Gartensiedlung Georgienweg, stattete Vati kunstvoll mit einem großen Holzschild „Drei-Mädel-Haus“ aus. Darin spiegelte sich etwas Ironie und leichter Spott gegenüber Mutti wider. Nach damaliger Expertenmeinung war die Frau an dem traurigen Zustand schuld, bislang nur Mädchen zu gebären. Wir Kinder nannten sie Mutti, für gute Bekannte war sie Muzi. Sehr gern ließ sie sich mit Frau Dr. Jaenicke anreden. Diese Erhöhung durch akademische Würden entsprach nicht den Tatsachen, hatte sie doch weder studiert noch promoviert.

Als dem Leben seine guten Seiten abgewinnender Optimist, der – wie er selbst sagte – beim Schweizer Käse nicht die großen Löcher, sondern den schmackhaften Käse wahrnahm, ließ sich Vati als Stehaufmännchen nie unterkriegen. Er dichtete anlässlich meiner Geburt im Dezember 1937:

„Christrosen blühen! Weihnachtszeit!

Friede auf Erden weit und breit.

Glocken läuten! Christ ist erstanden!

Zu Weihnachten in der Krippe fanden

wir unseres drittes Töchterlein.

Drum lasst uns froh und glücklich sein.“

Mutti vermerkt in ihrem Tagebuch, dass ich Joachim heißen sollte. Die Enttäuschung, dass ich nicht der ersehnte Stammhalter, sondern schon die dritte Tochter hintereinander war, muss riesengroß gewesen sein. Ich spürte Muttis Ablehnung. Platz für Liebe fehlte. Den Frust überdeckte nur eine gewisse Dankbarkeit, ein gesundes, kräftiges Kind geboren zu haben.

Vati, ein kreativer, auffallend liebenswürdiger Mensch von mittelgroßer Statur – der Ausdruck „untersetzt“ ist passend – hatte Sinn für Humor. Seine Fäuste dienten bei Streitigkeiten nie als Waffe. Mutti, eine wunderschöne blonde Frau, kam dem Adolf-Hitler-Mutter-Ideal nahe. Sie wurde mit dem Mutterkreuz ausgezeichnet und war offensichtlich stolz darauf

Ich spürte und erlebte am Rande mit, dass Mutti im Gegensatz zum kritisch denkenden Vati den Führer verehrte, anhimmelte und bis kurz vor dem Zusammenbruch bewunderte. Erst 1944/45 änderte sich ihre Einstellung – erkennbar an einem typischen Verdrängungseffekt! Davon zeugen die von ihr herausgeschnittenen Tagebucheintragungen über die letzten Kriegsjahre. Gern hätte ich diese Aufzeichnungen gelesen, um ein genaues, wahrheitsgemäßes Bild zu gewinnen.

Wie ich dem Tagebuch entnehme, entwickelte ich mich im ersten Lebensjahr zunächst normal und altersgemäß. Ich sage mit elf Monaten Mama, Papa und ein paar andere einfache Wörter. Ein paar Monate später ist dies alles wie weggewischt. Ich spreche fast gar nicht mehr und nehme wenig von der Umwelt, so auch von Weihnachten, in mir auf. Nur am Christbaum mit den brennenden Kerzen sehe ich mich allem Anschein nach nicht satt. Mutti nennt mich „kleines Dummes“. Ich bin das Sorgenkind, später der Tollpatsch – willkommener Sündenbock für die Verfehlungen anderer. Mein Bruder Johann nutzt dies dreist aus, indem er bis zur Schmerzgrenze schwindelt. Stellt er etwas an, werde ich für diese Untaten oft genug verprügelt und eingesperrt. Als ich später Vati nach den Ursachen meiner abrupten Sprachstörungen frage, zuckt er die Achseln: „Ich glaube, du fielst als Baby mal vom Wickeltisch!“

Mein Anderssein gegenüber den beiden älteren Schwestern missfällt Mutti, bringt sie in Rage und verstärkt ihre Einschätzung, ein dummes drittes Kind zu haben. Wie peinlich! Ich entwickle mich auch körperlich nicht altersgemäß, kann mit 15 Monaten noch nicht laufen. Stattdessen krieche und krabble ich laut Tagebuch mit hohem Tempo vorwärts. Ein Kindermädchen soll es richten und sich um mich kümmern. Mit eineinhalb Jahren hole ich den Rückstand großteils auf. Ich mag Anna, unser nettes Kindermädchen. Sie ist mir zugetan.

Am liebsten bin ich bei Vati und will ihm im Garten helfen. Er nimmt mich gern mit und bringt mir vieles bei. Sobald ich richtig laufen kann, drängt es mich nach draußen. Wohin? In den parkähnlichen Garten. Die Pflanzen und deren Samen faszinieren mich. Finde ich Saatkörner, buddle ich sie ins Erdreich ein und beobachte, ob und wie sie keimen und wachsen. Passt mir etwas nicht, reagiere ich ungnädig, werde wütend und haue zornig um mich. Mein Bruder darf so etwas tun; für ein braves Mädchen ziemt sich dies nicht.

Onkel Pias aus Lüchow gibt Mutti laut Tagebucheintrag folgenden Rat: „Haue ihr tüchtig den Hintern voll. Denn das kann sie bei ihrer Natur gut vertragen. Die Kleine merkt auch ohne Verstand ganz genau, was du von ihr willst. Und du sparst dir und ihr für später viel Ärger, Kraft und Verdruss, wenn du jetzt nicht nachgibst.“ Dazu Muttis Originaltext im Tagebuch: „So, das schreibt der gute Onkel Pias, und Recht hat er. Im Übrigen nennt er dich seine Freundin und schreibt an anderer Stelle:‚Beatchen sieht ja fabelhaft aus. So etwas imponierend Steifnackiges und Selbstsicheres von Pose bei solch einem Knirps von Mensch! Sie ist bestimmt das Stärkste von deinen Kindern.“

Mutti befolgt den Rat von Onkel Pias bravourös. Sie verprügelt mich oft, auch mit dem Kochlöffel. Manchmal drängt sie mich an die Wand und schlägt von vorn gegen meinen Kopf, sodass ich mit dem Hinterkopf an die Wand pralle – dies mit dosiertem Kraftaufwand, sodass äußere Blessuren nicht auffallen. Seelische Schäden sind nicht sichtbar und bleiben im Unterbewussten verborgen. Meist ist mein Trotz der Anlass, den sie brechen will mit der häufig wiederholten Drohung: „Wenn ich weiß sage, ist es weiß, selbst wenn es schwarz ist!“ In solchen Augenblicken ist es wieder soweit, dass zwei Gefühle gegeneinander kämpfen: die Sehnsucht nach Liebe und der aufkommende Hass, begleitet von erlittenem Unrecht.

Trotz allem hält mich meine Mutter dank ihres ausgeprägten Pflichtbewusstseins und gegen Ekel ankämpfend am Leben, indem sie mir allabendlich einen Klistier in den Hintern einführt, um den zahllosen winzigen Madenwürmer den Garaus zu machen, die es sich in meinem Gedärm angesiedelt haben. Womöglich liegt darin der Schlüssel, dass ich ständig hungrig und gierig auf Essbares bin, ohne übergewichtig zu sein. Ein Mädchen hat sich zurückzuhalten und zu bescheiden. Ein weiterer Anlass, mich abzulehnen. Ihre Abneigung mir gegenüber wächst.

Ich halte Mutti zugute, dass sie es nicht leicht mit mir hat. Nachts schüttele ich im Schlaf mit dem Kopf so stark hin und her, dass sie mich im Bett festbindet – die allerschlechteste, wenngleich gutgemeinte Reaktion auf diese Abnormität. Diese oft bis ins Erwachsenenalter reichenden Schlaf- und Verhaltensstörungen, Fachausdruck Jaktation, deute ich als Hilfeschrei meiner Sehnsucht nach mütterlicher Liebe.

Mit elf Monaten sage ich Mama und Papa, danach spreche ich lange Zeit überhaupt nicht mehr – eine typische Begleiterscheinung dieser mit Frust und Liebesentzug verbundenen jahrelang andauernden Verhaltensauffälligkeit.

Später schäme ich mich gegenüber meinem Ehemann Günther und versuche alles, diese den Beischlaf belastende Störung endlich zu überwinden. Muss er es überhaupt merken? Als Ausgleich nehme ich sein heftiges Schnarchen geduldig hin, was ich sonst kaum täte. Seit wir getrennte Schlafzimmer haben und die Kinder erwachsen sind, schüttele ich nicht mehr im Halb- oder Tiefschlaf mit dem Kopf.

Mein Anderssein regt Mutti auf. Davon zeugen ihre Tagebucheintragungen. Der Vergleich mit meinen liebenswerten, pflegeleichten älteren Schwestern fällt für mich verheerend aus. Mutti tut sich schwer, ein solches Kind innerlich anzunehmen, geschweige denn zu lieben. Meine daraus erwachsenden Verhaltensstörungen verstärken bei ihr die Blockade, mich so zu akzeptieren wie ich bin. In einer Art Rückkoppelungseffekt verstärkt sich mein widerborstiges Benehmen. Ich kann richtig garstig, pampig, aufbrausend sein – keine Rezeptur für Sympathieträger, keine Impulse für Liebkosungen.

Ich denke, mein Gefühl täuscht mich nicht, dass meine Mutter mich zeitlebens ablehnte. Dies bekam ich auch später bei meinen Prüfungsnoten zu spüren. Auf „Mit Auszeichnung bestanden“ reagierte sie wegen meines übertriebenen Ehrgeizes extrem abweisend. Deshalb log ich sie als Test nach dem nächsten Examen an. Ich hätte Pech gehabt und nur die Gesamtnote „Ausreichend“ geschafft. Nie vergesse ich, wie nett Mutti da ausnahmsweise zu mir war.

Ich litt unter solchen Ungerechtigkeiten, berichtete Mutti doch mit unverhohlenem Stolz über die beruflichen Erfolge ihres Lieblingssohnes Dieter, dem verwöhnten Nachkömmling und Nesthäkchen. Ich meine, mich daran zu erinnern, dass sie ihr sechstes Kind abzutreiben versuchte.

Insgesamt ist ihr Pflichtbewusstsein, eine gute Mutter zu sein, die sich nichts vorwerfen muss, ihre herausragende Charaktereigenschaft. Es wird sie innerlich verletzt haben, als sie spürt, dass ich mich zu „Pappi“ hingezogen fühle und immer mitgehen will, wenn er als Hobbygärtner in seinem wunderschönen großen, parkartigen Gelände – ein gartenarchitektonisches Kunstwerk – werkelt. Weder eine kleine Rodelbahn noch zwei kleine ausbetonierte Gewässer fehlen: das eine ganz flach zum Plantschen, das andere etwas tiefer ausgeschachtet für ein paar Schwimmzüge. Dies alles baute und pflegte mein Vater selbst – bevorzugt am Wochenende und in den Ferien, wenn seine Handelsschule geschlossen war.

Laut Tagebucheintrag lebe ich in einer eigenen Welt. Ich interessiere mich zwar für Weihnachtsbaum und Adventskranz, sobald die Kerzen brennen. Sonst nehme ich wenig Anteil an meiner Umwelt und spreche fast nichts. Spielsachen sind mir gleichgültig, ausgenommen ein kleines Musikinstrument, das unterschiedliche Töne von sich gibt. Mit Puppen spiele ich überhaupt nicht. Ich lasse sie achtlos in der Ecke liegen und werfe sie auch mal an die Wand – wie beleidigend für meine Mutter. Wegen dieser Abneigung meide ich selbst heute noch Aktien von Unternehmen, zu deren Geschäftsmodell Puppen zählen wie die aufgetakelte Produktreihe Barbie vom amerikanischen Spielzeughersteller Mattel.

Meinen Kindern schenkte ich nur das, was sie sich wirklich wünschten, wie Chemie- und Physik-Experimentierkästen, Mikroskop, LEGO-Bausätze, Eisenbahnbücher für Uwe, schöne, bebilderte Literatur über Bauwerke und Malerei für Elke. Ich beschaffte Papier, Pappe, Farben, Stoff- und Tapetenreste mit allem erdenklichen Zubehör zum Malen, Basteln, Gestalten, für Rollen- und Ballspiele. Den Bedarf an Puppen deckten Oma Dorchen, Günthers Mutter, und mein Mann. Zum Glück war es wenigstens KÄTHE KRUSE statt Barbie-Kitsch!

Erst mit gut zwei Jahren spreche ich wieder mehrere Wörter, weitgehend ohne Satzzusammenhang. Immerhin verstehe ich anscheinend alles. Was mich laut Tagebuch fasziniert, ist neben den Pflanzen im Garten die Musik. Den Takt dazu schlage ich wie ein Dirigent mit erhobenem Arm und vorgestreckten Fingern. Ich laufe öfters weg, sodass mich Mutti, Vati und das Kindermädchen Anna suchen müssen. Die Turnstunde mit Tante Alida gefällt mir, wobei Mutti ärgerlich beobachtet, dass meine Körperstellung drollig und ungewöhnlich aussieht. Wie elegant und anmutig bewegt sich doch meine älteste Schwester Renate – für mich die heimliche Königin! Meine Schwester Christa schlüpft in meiner Vorstellungswelt in die Rolle des dienstbaren Geistes, wozu auch ich zähle.

Wegen meines widerspenstigen Benehmens werde ich erst im Sommer 1940 „auf Probe“ mittags am großen ovalen Esstisch in den Familienkreis aufgenommen. Wie demütigend, bislang allein am Katzentisch essen zu müssen. Ich nerve schon frühmorgens und entwickle mich zum Störenfried, indem ich im Haus herumrenne, die Türen zuschlage, während meine Mutter gern länger schlafen will. Vati ist Frühaufsteher wie ich.

Noch ist die Ehe meiner Eltern intakt, später eine von mütterlichem Hass geprägte und in Scheidung endende Beziehungskatastrophe. Am Familientisch bin ich ganz brav, gehe geschickt mit Schieber und Löffel um, passe auf, dass ich nicht aufs Tischtuch kleckere. Ungefragt rede ich kein Wort und schon gar nicht dazwischen. Ich will nie wieder an den „Katzentisch“ verbannt werden und nehme die Ankündigung „auf Probe“ ernst. Welch’ Zurücksetzung und nicht verwundene Pein, über ein Jahr lang jeden Tag mitzuerleben, dass mein jüngerer Bruder Johann schon längst am großen Familientisch mitessen darf! Er lässt mich spöttelnd seine Verachtung spüren – erste Anzeichen einer Großmannssucht.

Der Name „Katzentisch“ mag mitverantwortlich dafür sein, dass ich nie eine Katze haben wollte. Immer verband ich mit diesem Tiernamen den verhassten Tisch. Ich träumte davon, selbst Gastgeberin zu sein und Mutti dort zu platzieren.

Nachdem ich als Lehrerin viele Jahre lang Erziehungskunde unterrichtete, mangelte es mir nie an anschaulichen Beispielen, wie man mit schwierigen Kindern besser nicht umgehen sollte. Keineswegs wollte ich solche Erziehungsfehler bei Elke und Uwe machen. Drum habe ich mein eigenes Verhalten fortlaufend kritisch hinterfragt.

Bei Elke beobachtete ich kurzzeitig ähnliche Entwicklungsstörungen in Richtung „Hospitalismus“ nach ihrem Krankenhausaufenthalt mit eineinhalb Jahren. Damals – ich komme auf diesen gravierende Veränderungen im Klinikbetrieb auslösenden Vorfall noch zurück – wurde mir der tägliche Besuch ausgeredet. Welch’ grobe Fehleinschätzung seitens des Krankenpflegepersonals!

Warum ich das Lachen und Singen verlernte (Autobiografie)

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