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Vorwort Warum dieser biografische Roman? Kurzvorstellung im Zeitraffer

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Jetzt bin ich im 75. Lebensjahr. Und es wird Zeit. Es ist schon reichlich spät, um als eine der letzten Zeitzeugen zu berichten und zu erzählen. Worüber? Es geht um die letzten Kriegsjahre, die Kapitulation der Nazis, den Einfall der Russen. Da kommen große Gefühle auf: Liebe und Hass, Bewunderung und Verachtung, Freude und Kummer. Ich erlebe, als ob es gestern wäre, noch einmal den Bombeneinschlag in unser Haus nach einem Feindfliegerabschuss. Ich sehe die vielen fliehenden Menschen mit ihren Leiterwagen, erlebe unsere eigene Evakuierung, wobei ich im Erzgebirge lande: allein, verlassen, ohne Liebe und Ansprache. Nach Rückkehr in meine Geburtsstadt Rostock stehle ich wie ein Rabe bei den Russen Briketts, damit im bitterkalten Winter 1945/46 meine Familie überlebt statt zu erfrieren wie viele Kranke und auf sich alleingestellte alte Menschen.

Ich erinnere mich in Rückblenden an meine Kindheit in der Kriegszeit und nach dem verlorenen Weltkrieg mit bedingungsloser Kapitulation an die schwierigen Lebensbedingungen in der damaligen DDR. Tagsüber und in Träumen kehren meine Gedanken zurück in meine konfliktreiche Kindheit und Jugendzeit auf der Suche nach Mutterliebe. Vergebens. Ich empfinde in Bildern und Episoden nach, wie ich darunter litt, mit 14 Jahren alleingelassen aus Rostock zu fliehen. Ich trenne mich von meinem Wunschtraum, Pianistin zu werden.

Als eine Art Schatz verwahre ich in meinem Erinnerungskasten ein öffentliches Klavierkonzert, für dessen Finale ich mich qualifizierte. Eine Bach-Fuge. Für meine modebewusste Mutter gab es nichts Wichtigeres auf der Welt, als mich in einem hübschen Kleid herauszuputzen. Jahre später darf ich Ludwig van Beethovens schwierige, zu seinen bekanntesten Werken zählende F-Moll-Klaviersonate „Appassionata“ vortragen. Als ich auf die Pedale trete, bemerke ich mit Schrecken, dass ich unterschiedliche Schuhe anhabe. Wie peinlich!

Ich denke an meine zurückgelassene Kinderliebe Peter Wunderwald in Rostock, die einzige ganz große Liebe in meinem Leben. Auch mit Hockey ist es nun vorbei. Wir brachten es als Straßenteam bis zur DDR-Jugendmeisterschaft und waren bei den Ostblock-Weltfestspielen erfolgreich.

In Berlin bin ich unglücklich und vereinsame. Ich bin der Sündenbock meiner Mutter und meines Bruders, perfekt leider nur im Gartenbau und im Klavierspiel. Im Nachkriegsberlin mit seinen Bombenteppichen kann ich nicht mehr wie in Rostock hier und da die Rolle der lieben, fleißigen und begabten Tochter spielen, die bei Besuchen von Freunden und Geschäftspartnern mit Pianokunst beeindruckt. In der Hauptstadt im 6. Stock eines Hochhauses am Fürstenplatz in Charlottenburg gibt es keinen Garten, mit dessen geernteten Obst und Gemüse ich meine Defizite ausgleichen und Pluspunkte sammeln kann. Im Haushalt bin ich der Tollpatsch, „Schussel“ und „Steifbock“ beschimpft, der fast alles falsch macht und die Hausarbeit hasst, aber gern und gut kocht. Diese Einstellung hat sich bis heute nicht geändert. Ich habe jedoch gelernt, auch das verlässlich zu tun, was keinen Spaß macht, vielleicht sogar Abscheu erregt.

Ich entspreche nicht im Geringsten dem Bild meiner Mutter, interessiere mich nicht für Mode, Gesellschaftstanz, Königinnen, Prinzessinnen und Filmstars. Eher verhalte ich mich wie ein Junge, boxe, rauf mich, spiele heimlich Fußball und eifere meinem jüngeren Bruder Johann nach, der so gut wie alles darf. Es ist schwierig, sich als drittes Mädchen in der Geschwisterreihe zu behaupten, wenn schon 14 Monate später der ersehnte und verwöhnte Stammhalter geboren wird.

Meinen Vater mit Doktortitel und zwei Diplomen bewundere und vergöttere ich als Hobbygärtner, Unternehmer und Lehrer. Als ich mit 15 Jahren zufällig entdecke, dass ihn Pornografie nicht nur reizt und stimuliert, sondern er die Texte selbst verfasst und mit ekelhaften Zeichnungen illustriert, rede ich außer Belanglosigkeiten im Alltag nicht mehr mit ihm. Ich fühle mich innerlich leer, meines familiären Vorbilds beraubt.

Als Jugendliche fühle ich mich wegen anderer Vorlieben einsam, habe keine beste Freundin, bin sexuell verklemmt. Ich versuche aber trotz schlecht gemischter Karten, es beruflich zu etwas zu bringen, mag auch das Abitur als Türöffner fehlen. Begabtenprüfungen öffnen das Karrieretor einen Spalt weit. Lachen und Singen kann ich schon lange nicht mehr. Die Leichtigkeit des Seins kam mir abhanden. Was ohne Elternhilfe beruflich geht, schaffe ich. Daneben träume ich von einer Familie mit Kindern. Die Wirklichkeit sieht so aus: Heirat und Mutterschaft, zwei gesunde Kinder, für deren Bildung ich alles tue. Tochter und Sohn sind Akademiker und gute Eltern.

Als älterer Mensch erlebe ich neue, spannende Herausforderungen, bin auch nach der Pensionierung erfolgreich. Aber ich vernachlässige meine Großelternrolle.

In Rückblenden zeige ich das Kriegs- und Nachkriegsgeschehen auf. Ich bin mir bewusst, dass sich über einen Zeitraum von 75 Jahren manches verklärt oder verdüstert. Eigene Erlebnisse und Träume können sich miteinander vermischt haben, Wirklichkeit und Romanhaftes überzeichnet, ineinander verwoben und verschmolzen sein zu neuen Eindrücken. Oft habe ich mich in eine Fantasiewelt geflüchtet.

Dass ich noch lebe, kommt einem Wunder gleich. Ein schwerer Schlaganfall vor zwei Jahren, gewöhnlich tödlich verlaufend, ansonsten zur Schwerstbehinderung führend, mahnt: „Der nächste Tag kann dein letzter sein. Umgekehrt nutze die Chance, noch etwas zu schaffen, etwas Bleibendes und Ermutigendes zu hinterlassen.“

Liebe Leserinnen und Leser: Mein Leben war und ist ein ständiger Kampf gegen Bürokratie und Vorurteile, die ungeprüft als Wahrheiten und Weisheiten übernommen werden und die eigene Lebensgeschichte mit Einstellungen, Grundhaltungen und Handlungen prägen.

Ich möchte Sie ermutigen, zumindest hier und da gegen den Strom zu schwimmen, auch später noch beschwerliche, steinige Wege zu gehen, als Totschläger der Langeweile entdeckerfreudig und wissbegierig zu bleiben und sich etwas zuzutrauen. Das mag anstrengend sein, ist aber spannend und sinnerfüllend. Liebe Leserinnen und Leser, träumen Sie nicht nur vom Ruhestand, sondern erleben Sie wie ich den Unruhestand mit möglichst nicht endenden Herausforderungen.

Viel Lesefreude und Mut wünsche Ihnen die Autorin!

Beate Sander, Ulm, im Frühjahr 2012

Warum ich das Lachen und Singen verlernte (Autobiografie)

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